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3.

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Wer sich schlägt, der soll dies auf seinen eigenen Hals und auf sein eigenes Vermögen tun.

3. Neue Rüstringer Küre

Engerhoffe/Utengherbur/Buta Ee; Brokmannia,

vier Tage vor St. Georgius, Anno Domini 1345

(Dienstag, 19. April)

»Was soll das heißen, du kannst die Huras33 nicht bezahlen?«, brüllte Keno Hylmerisna und starrte den Bauern wütend an. Er saß in seinem Lehnstuhl und zog den Pelzmantel vor der Brust zusammen. Sein Sohn Ocko hockte neben ihm auf einem niedrigen Schemel, dahinter stand einer der fremden Bewaffneten mit verschränkten Armen und finsterem Blick. Der Brokmanne schob die Hände in die Ärmelstulpen seines Mantels. Es war noch immer kalt und das kleine Buchenholzfeuer in der Grube neben seinen Füßen konnte die Tenne nicht erwärmen.

Der Lehnstuhl stand auf einem etwa ellenhohen Podest. Der Höhenunterschied zwang den Mann, nach oben zu schauen. Er trug einen dünnen Kittel aus billigem Tuch, an den Füßen hatte er Holzschuhe mit geölten Schäften aus festem Leinen, die bis über die Knie reichten. Seine knotigen, geröteten Hände drehten eine vielfach geflickte Ledermütze.

»Ich kann sie nicht voll bezahlen«, sagte der Bauer in einer Mischung aus Scham und Trotz. Er besaß einen Hof mit Äckern und Weiden bei Auwreke und hatte Land des Brokmannen südlich von Feterbueren34 in Pacht genommen. »Der harte Winter hat meinen Buchweizen vernichtet, wir mussten einen Teil Grützenmehl kaufen. Meiner Ältesten habe ich eine Kuh als Mitgift in die Ehe gegeben. Es sind schlechte Zeiten, Herr!« Er richtete sich auf und hob seine Schultern. »Ich habe mich auf zwei Pfennige bremisches Silber verpflichtet, oder den Gegenwert in Saatgut oder Häuten, aber ich habe weder das eine noch das andere. Mehr als die Hälfte kann ich nicht geben.«

Keno Hylmerisna sank in seinen Lehnstuhl zurück und musterte den Bauern mit kalten Augen. Der Brokmanne spielte seine Rolle vorzüglich, aber der Ärger war vorgetäuscht. Die Sache war geschickt eingefädelt. Er hatte dem Mann die Pacht damals wie saures Bier angeboten, immer wieder, bis der endlich in den Handel einwilligte. Hatte ihm vorgegaukelt, es sei die perfekte Ergänzung zu dessen Hof und die Huras von zwei Pfennigen bremisches Silber zu erwirtschaften, sei ein Kinderspiel bei einem Anwesen von seiner Größe. Die Hoffnung, der Bauer werde eines Tages mit der Zahlung in Verzug geraten und schließlich gezwungen sein, seine Schuld anders als vereinbart zu begleichen, erfüllte sich nun.

Es war kein Zufall, dass Keno damit Fuß in der Landgemeinde Auwreke fasste. Der Zugriff auf deren südliches Kirchspiel erschien ihm besonders verlockend. Er war davon überzeugt, dass er die Kirche als Verbündete für seine politischen Pläne brauchte und auf seine Seite ziehen musste. Die Vermehrung von Macht und Einfluss in dieser Landgemeinde, in der niemand erkennbar einen Führungsanspruch erhob, rundete den Schachzug ab. Hylmerisna war sehr zufrieden. Aber als er nun sprach, kam seine Stimme wie ein grollendes Bellen.

»Ich bin enttäuscht von dir. Es war falsch, dir zu vertrauen. Und die Schuld ist nur beglichen, wenn sie voll bezahlt ist. So haben wir es vereinbart. Du hast eingeschlagen. Wenn du in diesem Jahr nicht bezahlen kannst, nehme ich dir drei Grase Land von deinem Acker in Wyszede35 weg!«

Der Bauer fuhr auf. »Dieses Land ist mein Eigentum. Es gehört zu den ertragreichsten Stücken, die ich habe. Ich gebe dir das gepachtete Land zurück!«

»Damit ist deine Schuld nicht getilgt!«, sagte Hylmerisna scharf. »Zahle deine Schuld oder du verlierst dein Land!«

»Ich gebe dir das gepachtete Land zurück«, wiederholte der Bauer störrisch. »Ich kann es nicht bewirtschaften und will nicht mehr dafür zahlen müssen. Meine Schuld tilge ich in zwei Teilen!«

Der Brokmanne beugte sich vor. In seinen Augen funkelte es. »Wir haben einen Vertrag. Zum Christfest wird die Pacht fällig, und zwar in voller Höhe, ob du auf dem Stück arbeitest oder nicht. Sonst nehme ich dein Land!«

Der Bauer machte einen raschen Schritt auf das Podest zu und der Lange in Waffen hinter Keno nahm ebenso schnell seine Arme auseinander. Sie hingen nun locker am Körper herab, entspannt, aber jederzeit bereit, zuzupacken.

»Das kannst du nicht tun!«, sagte der Bauer flach. »Es ist mein bestes Stück Land!«

Hylmerisna lehnte sich zurück und spielte mit den Verschlüssen seines Pelzkragens. Auf seinen Lippen stand ein spöttisches Lächeln. Auch der Lange hinter ihm grinste höhnisch. Anscheinend konnte er dem Wortwechsel wenigstens dem Sinn nach folgen. Was Ocko dachte, war nicht zu ergründen. Er saß da, regungslos und mit maskenhaftem Gesicht. Nur seinen Augen schienen zu leben.

»Das kann ich nicht tun?«, fragte der Brokmanne gedehnt. »Das kann ich sehr wohl tun. Du stehst in meiner Schuld und kennst die Gesetze«

»Damit nimmst du mir jede Möglichkeit, wieder auf die Füße zu kommen.«

»Das hättest du vorher bedenken müssen. Niemand hat dich gezwungen, die Pacht anzunehmen«, antwortete Keno kalt.

»Und du nimmst dir selbst die Möglichkeit, mit mir in Handel zu kommen«, ergänzte der Bauer bitter.

»Auf Handel mit dir verzichte ich«, sagte Hylmerisna schroff. »Und nun verschwinde!«

Der Bauer setzte sich mit einer entschiedenen Geste die Mütze auf den Kopf und sah dabei seinen Pachtherrn herausfordernd an. Dann trollte er sich mit finsterem Gesicht. Keno Hylmerisna wandte sich nicht um. Eine herrische Bewegung mit der Hand reichte aus, den langen Bewaffneten hinter seinem Stuhl von der Tenne zu scheuchen. Der Mann verließ augenblicklich das Gebäude.

Den Platz für die Auseinandersetzung mit dem Pächter hatte der Brokmanne mit Bedacht gewählt. Die Tenne, nicht das Steinhaus, der hohe Lehnstuhl auf dem Podest gegenüber einem Stehenden und nicht etwa ein Gespräch unter Gleichberechtigten am Tisch, der Erbe zur Seite und einer der fremden Waffenknecht hinter dem Stuhl. Wirkungsvoll arrangiert zur Betonung des Standesunterschiedes gegenüber dem Bittsteller, der ohne Begleitung zu erscheinen hatte. Der Bauer hatte am Vortag seinen Handmann nach Engerhoffe geschickt, um das Gespräch vorzubereiten. Hylmerisna hatte den Mann am Tor seines Anwesens abgefertigt wie einen Bettler. »Morgen. Nach dem Vesperläuten. Dein Herr kommt allein. Und sage ihm gleich, wenn es um Geld geht, kann er nicht mit Nachsicht rechnen!«

Es wäre dem Brokmannen ein Leichtes gewesen, die Bitte um Pachtverzicht mit Hinweis auf eigene Schwierigkeiten abzuweisen. In einem angenehmen, partnerschaftlichen Gespräch, geführt unter Bauern, gewiss mit unterschiedlichen Voraussetzungen, aber doch verbunden durch den gemeinsamen, schweren Broterwerb. »Ich kann dir das Geld nicht erlassen. Denn siehst du, der Winter hat meine Felder ebenfalls nicht verschont, und die übrigen Geschäfte, na, schweigen wir davon!« Dann dem Mann den Arm über die Schulter gelegt und ein paar Schritte mit ihm auf- und abspaziert. »Du bist ja nicht mein einziger Pächter. Wenn die anderen davon erfahren, und sie werden es erfahren, dann kommen sie mit gleichen Forderungen. Und dann geht es nicht mehr nur um deinen Pfennig bremisches Silber, sondern um mehr. Viel mehr. Das kann ich mir nicht leisten, hörst du …«

Es wäre eine Geste gewesen, ein Zeichen von versuchter Barmherzigkeit, wenn auch wenig überzeugend, da doch jeder wusste, dass Keno Hylmerisna seine Geschäfte zumindest in der Hauptsache nicht mit Äckern und Weiden machte. Und sie hätte ihn nichts gekostet. Aber der Brokmanne sah keinen Grund, den mitfühlenden Standesgenossen zu spielen. Und er war es ja auch nicht. Er betrachtete Land vor allem als Machtfaktor, den es zu stärken galt. Mehrung von Landbesitz bedeutete aber, dem eigenen fremden hinzuzufügen. Die Macht der Familie Hylmerisna musste wachsen, auch auf Kosten anderer. Vor allem auf Kosten anderer! Stärke entwickelt sich nur, wenn andere zugleich schwächer wurden, daran glaubte Keno Hylmerisna. Es hob den Kopf und stieß seinem Sohn rüde in die Seite.

»Ich hoffe, du hast gut aufgepasst. Merke dir, wie man mit solchen Burschen umspringt. Kein Nachgeben in diesen Dingen, hörst du? Wer seine Schuld nicht abtragen kann, geht seines Bodens verlustig!«

Ocko antwortete nicht. Er hockte auf seinem Schemel und blickte mürrisch vor sich hin. Erst als sein Vater zum zweiten Mal die Hand hob, fuhr er zornig herum. In seinen Augen funkelte es. »Einen kleinen Bauern abzukanzeln ist leicht«, sagte er grollend und stand auf. »Und deine Landgewinne sind bescheiden. Du gehst hier erste Schritte. Mehr nicht. Ich werde es sein, der die Hylmerisna wirklich groß macht. Ich! Aber anders als du, Vater, ganz anders!«

In einer Mischung aus Belustigung und Verärgerung starrte Keno Hylmerisna auf seinen Sohn. »Aha. Also du würdest es anders machen als ich. Wie denn würdest du es machen?« Er zog die Augenbrauen hoch. »Würdest du etwa die Schuld erlassen?«

Ocko schüttelte den Kopf. »Das nicht. Aber was willst du mit einem Flecken Land hier oder da? Was nützt dir ein verstreuter Besitz an Grase Weideland, den du doch nicht zusammenfügen kannst? Das ist nicht der Weg, in Brokmannia groß zu werden!« Ocko richtete sich auf. Er öffnete den Verschluss seines Überwurfes aus schwerer friesischer Wolle. An seinem fleischigen Hals glänzte der Schweiß.

Keno Hylmerisna war nicht in der Stimmung, sich Belehrungen seines Sohnes anzuhören. Er fuhr nach vorn und schlug sich klatschend auf den Oberschenkel. »Sieh an, das Küken will klüger sein als der Hahn«, sagte er voller Spott. »Aber nun heraus damit, Sohn. Welchen Weg gehst du, um in Brokmannia groß zu werden?«

Ocko Hylmerisna nahm sich Zeit. Er verließ das Podest und ging auf die Feuerstelle zu. Mit dem Fuß stieß er ein Scheit Holz in die Flammen. Auf seinen Lippen stand jetzt ein kleines Lächeln, aber seine Augen blieben kalt.

»Nimm diesen Bauern. Wenn er sein Land an dich verliert, machst du ihn dir zum Feind. Die paar Grase sind zu nichts nütze. Lass ihm seine Äcker, aber halte ihn in deiner Schuld. So hast du ihn in der Hand. Er ist von dir abhängig, dir verpflichtet und zugleich dankbar.« Das Lächeln verschwand aus Ockos Gesicht, seine Stimme hob sich. »Tue dies in vielen Fällen, und du wirst bald Gefolgsleute haben, die dir noch nützlich sein werden. Das wiegt mehr als die Einlösung einer Schuld, auf die du verzichten kannst.«

Mit einem Ruck wandte er sich seinem Vater zu. Seine Stimme war nun von ätzender Schärfe. »Diesen Weg würde ich gehen, um in Brokmannia groß zu werden, nicht deinen!«

Keno starrte seinen Sohn mit offenem Mund an. Der stemmte beide Fäuste in die Hüfte und beugte sich vor.

»Und stoße mich nie wieder in den Rücken, Vater, hörst du. Nie wieder!«

*

Am Nachmittag dieses Tages befahl Keno Hylmerisna seinen Verwalter zur Berichterstattung zu sich. Der verwitwete Bruder seiner Frau Theda war auf deren Fürsprache Handmann des Anwesens, und der Hausherr hatte ihm zusätzlich die Buchführung über die Geschäfte der Familie übertragen. Uffo Remetsna hatte den gehetzten Blick eines überforderten Menschen. Er wusste, dass er auf dem Hof nur geduldet war, dass sein Schwager nichts von ihm hielt und sein Neffe Ocko ihn nicht mochte. Buchprüfungen wurden üblicherweise am Sonntag nach der Messe durchgeführt.

Uffo erschien schwitzend vor Aufregung. Er hatte sein Wams offenbar rasch übergeworfen und nicht zugebunden. In seinem Gesicht standen hektische Flecke und der Hals war stark gerötet. Unter dem Arm trug er einen in Leder gebundenen Folianten, an seinem Gürtel hing der Beutel mit Tintenflasche und Federkiel. Er nickte kurz und unfreundlich, legte das Buch auf den Tisch und schlug die Seite mit den Geschäftsvorgängen der laufenden Woche auf.

»Die Woche ist noch nicht abgeschlossen«, sagte er ungehalten und wischte sich über die Stirn.

Die Augen des Schollenherrn waren kalt und abschätzig. Ocko saß wie unbeteiligt neben seinem Vater, weiter entfernt, als es nötig gewesen wäre. Er hielt den Kopf gesenkt und betrachtete gelangweilt seine Stiefelspitzen.

»Also sind es meine Eintragungen auch noch nicht«, fuhr der Handmann fort. »Warum forderst du jetzt Bericht, Schwager?«

»Weil ich es so will.« Keno wies auf den Folianten. »Lies!«

Uffo beugte sich über das Buch und legte seinen Zeigefinger auf die geöffnete Seite. Eine der Mägde erschien, um nachzulegen. Das Feuer in der Herdstelle war heruntergebrannt, die restliche Glut drohte unter der Asche zu ersticken. Keno stieß ein wütendes Bellen aus und die Magd fuhr erschreckt hoch. Mit einer herrischen Handbewegung scheuchte er die Frau hinaus. Aber noch bevor der Handmann zu lesen begann, betrat Theda Hylmerisna den Raum. Sie reinigte schweigend die Feuerstelle und sorgte für frischen Brand. Dann setzte sie sich auf einen Hocker neben dem Rauchfang und sah ihren Mann ruhig an. Sie hatte dem Brokmannen sechs Kinder geboren, von denen der Sohn Ocko und die Töchter Elborg und Doda lebten und den Fortbestand der Sippe sicherten. Theda Hylmerisna war nicht ängstlich und selbstbewusst genug, dies auch zu zeigen.

»Worauf wartest du, Frau?«, fragte Keno schroff.

Theda hob den Kopf. »Das Vermögen der Familie geht auch mich an, Keno Hylmerisna. Wenn du dir an einem solchen Tag darüber berichten lässt, wird es dafür Anlass geben.«

Er fixierte sie mit finsterem Blick, dann hob er seine Schultern. »Es gibt keinen besonderen Anlass. Jedenfalls nicht, soweit es die Geschäfte betrifft. Es ist an der Zeit, unseren Sohn stärker in die Pflicht zu nehmen. Zunächst soll er bei Uffo lernen. Später wird er die Verwaltung unserer Güter übernehmen«, sagte Keno friedfertig und sah seine Frau lächeln.

Sein Schwager richtete sich auf. In seinem Gesicht stand Erleichterung, die ungeliebte Verantwortung endlich loszuwerden, überschattet von einer Spur Misstrauen über die möglichen Folgen für seine künftige Rolle auf dem Hof. Ocko rührte sich überhaupt nicht. Er saß schweigend da, aber seine Augen waren wach.

Uffo fuhr sich mit der Zunge über die Lippen, legte den Zeigefinger auf das Pergament und begann zu lesen. »Haus mit Hof und Umland bei Engerhoffe, Fläche insgesamt siebenundvierzig Grase im Gesamtwert vom eintausendzweihundert Bremischer Mark Silber.«

Keno fuhr sofort dazwischen. »Keine Wertangaben beim Grundbesitz. Diese Summen sind bekannt«, sagte er unwirsch und Uffo nickte. Ocko hatte bei der Nennung des Wertes den Kopf gehoben, sagte aber nichts. Er runzelte die Stirn, stand auf und sah seinem Onkel über die Schulter.

»Item36 Zehn Grase Weideland im Kirchspiel Hagha37, verpachtet an die Bauern des Kirchspiels. Erhebung der Huras und des Zehnten vom Ertrag«, fuhr der Verwalter fort und Keno nickte nachdrücklich. Das Land stammte zum größten Teil aus dem Erbe seiner Frau Theda. Er selbst hatte im Laufe der Jahre günstige Gelegenheiten genutzt, um weitere Teile hinzuzukaufen. Bauern der Gegend waren durch Krankheit oder Missernten in Not geraten und zur Veräußerung des Bodens gezwungen und er, Keno Hylmerisna hatte die Möglichkeit wahrgenommen, die Flächen günstig zu erwerben. Sehr günstig.

»Item Fünfzehn Grase Weideland im Kirchspiel Suderhusum38, zur eigenen Nutzung mit beigestelltem Vieh«, sagte Uffo und Hylmerisna nickte erneut. Auch an diesem Land, außerhalb von Brokmannia, verdiente er, denn ein ansässiger Bauer weidete einen Teil seiner Schafe auf dieser Fläche und zahlte dafür zehn Kannen Milch, ¹/3 Fass Fett und fünf Felle im Jahr. Wichtiger als diese Erträge, die seine Frau im Haushalt verwirtschaftete, war ihm allerdings auch hier der Besitz von Land außerhalb von Brokmannia und er warf einen Blick zu Ocko, der noch immer hinter dem Verwalter stand und mitlas. Aber das Gesicht seines Sohnes blieb ausdruckslos. Nur seine Augen waren wach.

»Item acht Grase Ackerland im Kirchspiel Feterbueren, verpachtet an den Bauern Temmo Beninga von Auwreke.«

Kenos Züge wurden hart. Das war der Mann, der die Huras nicht bezahlen konnte und ihm die Vorwürfe seines Sohnes eingetragen hatte. Die Tatsache, im Auwerickerlant Grund und Boden zu besitzen, war für den Brokmannen als Machtfaktor wertvoll. Er zählte weit mehr als die Größe des Stücks oder sein Ertrag in Huras. Anders als sein Sohn trachtete er auch danach, in dieser Landgemeinde seinen Einfluss über den Erwerb von Scholle zu vermehren. Es gab dort bis heute keine Familie, die eine herausgehobene Stellung beanspruchte.

Deshalb erschien ihm naheliegend, das offenkundige Machtvakuum auszunutzen, zumal er aus dem Auwericker­lant Signale wahrzunehmen glaubte, dass man hier gegen eine führende Rolle des Brokmannen keine Einwände hätte. Er war entschlossen, aus dieser Sachlage Nutzen für seinen Familienverband zu ziehen. Mochte sein, dass die Vorstellungen seines Sohnes, Einfluss durch Abhängigkeit zu schaffen, ihre Berechtigung hatten. Vielleicht sogar, in gewissen Situationen, war dies der bessere Weg. Aber nicht etwa der alleinige, sondern allenfalls Ergänzung zu Landbesitz, zum Erwerb von Grund und Boden, der, anders als durch Schuld erzwungene Gefolgschaft, einen natürlichen Führungsanspruch in der Landgemeinde begründete.

Und dennoch, er musste vor sich selbst einräumen, dass ihm sein Sohn Respekt abnötigte. Der Junge wurde erwachsen, er dachte offensichtlich über diese Dinge nach und kam zu Ergebnissen, die zeigten, dass ihm eine gute Zukunft der Hylmerisna am Herzen lag. Wohlan denn. Sollte er. Schließlich würde er es sein, in dessen Händen eines Tages das Schicksal der Familie gelegt wäre.

Aber heute kam es darauf an, dem Sohn deutlich zu machen, dass immer noch er, Keno, den Hylmerisna vorstand und der Abkömmling und Erbe sich gefälligst unterzuordnen hatte. Er sah verstohlen zu Ocko hinüber. Jawohl, der junge Mann war immer noch übergewichtig, gleichwohl hatte er sich erkennbar gestreckt. Unter seinen eng beieinander stehenden, kühl blickenden Augen saß ein kräftiges, willensstarkes Kinn. Seine ganze Erscheinung strahlte Führerschaft aus. Er war geboren, um zu herrschen, ganz anders als sein Oheim neben ihm, der immer ein Handmann bleiben würde.

Der Verwalter blätterte zur nächsten Seite um. »Item Grundbesitz im Emesingerlant39, und zwar je 4 ½ Grase Weide in den Kirchspielen Lerlite40 und Manzlyad41. Beide sind den dortigen Pfarrern gegen Huras zur Nutzung überlassen und werden zum Teil durch Bauern der Kirchspiel bewirtschaftet«, sagte Uffo ohne Betonung. »Die ursprünglichen Ansprüche an Geld in Höhe von zweimal zwei Pfennigen wurden vor zwei Jahren einvernehmlich in Güter an Feldfrüchte und Erträgen aus der Viehhaltung umgewandelt.« Er sah auf und lächelte freudlos. »Die Umwandlung kam auf Wunsch der Pfarrer zustande, nachdem Erzbischof Ludwig von Hessen42 in einem Schreiben Geldzahlungen der Kirche für Boden, der schließlich dem Herrn gehört, für ungehörig erklärt hatte.«

Ockos Blick löste sich von dem Pergament, seine Augen flogen rasch zwischen seinem Vater und seinem Oheim hin und her.

»Ja, ja. Ich weiß!«, sagte Keno Hylmerisna mürrisch. Die Intervention des Erzbischofs hatte ihm damals missfallen, sehr sogar. Und dessen Auffassung war nichts weiter als ein Vorwand. Ein Machtspiel. Natürlich war es an der Tagesordnung, dass auch Kirchen Pachtzins mit Geld bezahlten. Aber es wäre unklug gewesen, sich den Kirchenfürsten wegen einer solchen Sache zum Gegner zu machen.

»Ceterum43 Geldansprüche aus Pachtbesitz als Gerichtsherr in den Kirchspielen Uthum und Visquerd«, schloss Uffo und richtete sich auf.

Gleichzeitig hob Ocko seinen Kopf. Er lächelte, aber um seinen Mund stand ein Zug von Geringschätzigkeit. »Streubesitz!«, sagte er mit spröder Stimme.

Er hatte natürlich einen Überblick über die Besitzungen seines Vaters, ohne jedoch deren genaue Größe und Wert zu kennen. Aber die Aufzeichnungen bestätigten, dass die Hylmerisna außerhalb ihres Stammlandes im Kirchspiel Engerhoffe keine zusammenhängenden Landflächen besaßen.

»Ich versuche, unsere Ländereien durch neue Besitzungen zu vergrößern«, sagte Keno barsch. »Heute Morgen hast du das noch bemängelt, jetzt bemängelst du das Gegenteil. Was ist nun richtig?«

Ocko schüttelte den Kopf. »Ich stelle fest, dass unser Land verstreut ist, Vater«, sagte er ruhig und warf seiner Mutter einen raschen Blick zu. »Weil das so bleiben wird, sollten die Hylmerisna allerdings einen anderen Weg gehen.« Er trat auf seine Mutter Theda zu, neigte sich zu ihr herunter und küsste ihren Scheitel. Sie blieb ruhig sitzen und schenkte ihrem Sohn ein warmes Lächeln.

Keno Hylmerisna hatte seinem Sohn mit wachsendem Zorn zugehört, saß vorgebeugt auf seinem Lehnstuhl und seine Augen waren wie Dolche. »Ich missbillige deine Ungebührlichkeit ausdrücklich, Sohn. Solange ich der Herr von Haus und Hof bin, werden die Geschäfte der Hylmerisna so geregelt, wie ich es will!« Er lehnte sich zurück und warf seinem Schwager einen unfreundlichen Blick zu. »In den Büchern ist zudem festgehalten, dass das Wohlbefinden der Hylmerisna nur zum Teil von Landbesitz abhängt, von den Erträgen der Äcker, Weiden und Wälder zum geringsten.« Er deutete auf seinen Sohn. »Setz dich her und höre, was dein Oheim hierzu zu sagen hat!«

Ocko verneigte sich. »Ich bitte Euch um Verzeihung, Vater«, sagte er förmlich und kam an den Tisch zurück, während Uffo in dem Folianten zu blättern begann. Der Verwalter schlug die Seite mit den Handelsbeteiligungen auf.

»Zehn Teile an dem Schiff des Frederic von Emende44 mit allen seinen Erträgen, bis zum dritten Monat dieses Jahres zwölf Mark Rheinischen Gulden und dreiunddreißig Pfennige«, sagte Uffo und richtete sich mit vorwurfsvollem Blick auf. »Die Erträge des vierten Monats kenne ich noch nicht. Aufs Jahr gesehen erbringt die Beteiligung etwa einhundertachtundzwanzig Mark Rheinische Gulden.«

»Ja, ja!« Keno nickte ungeduldig und bedeutete ihm, fortzufahren.

»Item dreieinhalb Teile am Kontor des Handelsherren Jacobus Schermbeke zu Brema, zu zwei Fünfteln angerechnet auf die Erträge von Salz und friesischer Wolle«, las Uffo umständlich und hob den Zeigefinger. »Jacobus hat die Zahlen für den zweiten Monat noch immer nicht übermittelt. Ich habe ihm deshalb schon geschrieben. Im letzten Jahr lagen die Einkünfte aus dieser Beteiligung bei fünfundsechzig Mark Bremisches Silber und sechseinhalb Pfennige.«

Der Brokmanne nickte erneut. »Gib ihm noch einen Mond. Wenn er die Zahlen nicht bringt, erheben wir einen Aufschlag von einem weiteren Fünftel auf den Ertrag, mindestens aber zwanzig Bremischen Pfennigen. So ist es beurkundet.«

Uffo nickte beflissen und blätterte zur nächsten Seite um. Es folgten Beteiligungen an Handelshäusern in Appinggadamme45 und Hamborch46, die den Umschlag von Feldfrüchten, aber auch von Holz, Fleisch, Fetten, Fellen und Häuten betrafen. Schließlich war Keno Hylmerisna Teilhaber an drei Fischereien im Umkreis von Noirden. Summa summarum beliefen sich seine Einkünfte aus Anteilen am Handel auf fünfhundertsechsundzwanzig Mark und sieben Pfennige Bremisches Silber im Jahr.

Es folgten nun die Zinseinnahmen. Keno Hylmerisna hatte einer ansehnlichen Zahl von Bauern und Fischern aus dem Umland und in angrenzenden Landgemeinden Geld geliehen. Meistens handelte es sich um kleinere Beträge, die zur Überbrückung von akuten Notlagen gebraucht wurden. In einigen Fällen stand es den Schuldnern frei, den fälligen Zins in Feldfrüchten und anderen Erzeugnissen zu begleichen. Dies hatte allerdings nach den Vorgaben der Herrin von Engerhoffe zu erfolgen, die im Einzelfall festlegte, ob sie etwa den Scheffel47 Getreide, das Fass Heringe oder den Bund Lammfelle akzeptieren wollte.

Größter Schuldner der Hylmerisna war jedoch der Erzbischof von Brema, der zugleich Graf von Aldenborch48 war49. Keno hatte ihm 200 Mark Bremische Pfennige geliehen. Der Erzbischof brauchte das Geld als Einlage einer Handelsbeteiligung bei der Hanse in Bruege50. Die Summe war mit 12 Mark Bremischen Pfennigen im Jahr zu verzinsen. Dieses Geld war an Sankt Michaelis51 zu zahlen.

Der Erzbischof hatte Hilderaad, den Abt des Klosters Marienkamp52, mit strengen Auflagen beauftragt, das Geschäft einzufädeln, bei dem er nicht selbst in Erscheinung treten wollte. Auch an Ermahnungen des Kirchenfürsten an den Abt, die nötige Diskretion zu beachten, hatte es nicht gefehlt. Hilderaad hatte einen seiner Mönche nach Engerhoffe geschickt. Am späten Abend, lange nach dem Vesperläuten, war der Mann aufgetaucht. Keno, schon im Nachtgewand, hatte ihn schließlich in der Stube empfangen, ungehalten über die Störung um diese Zeit, aber der Mönch hatte sich geweigert, sein Anliegen dem Verwalter vorzutragen. Es eine Weile gedauert, bis Keno begriff, dass der Erzbischof von Brema der eigentliche Bittsteller war. Die Summe hatte ihn ebenso erstaunt wie der Sachverhalt selbst. »Warum ich? Warum gibt ihm dein Herr das Geld nicht?«

Der Mönch hatte den Kopf geschüttelt. Dazu wollte er nichts sagen. Sein Auftrag sei, über das Darlehen zu verhandeln. Am Verwendungszweck wäre das Geschäft beinahe gescheitert.

»Wozu?«, hatte Keno gefragt aber wieder hatte der Mönch die Schultern gehoben. Er hatte kein Mandat gehabt, darüber zu sprechen.

»Ich gebe kein Geld, ohne zu wissen, welchem Zweck es dient!«, hatte der Brokmanne barsch geantwortet, aber der Mönch hatte in angesehen und geschwiegen. Es war ihm schärfstens verboten gewesen, über diesen Punkt Auskunft zu geben. Der Erzbischof hatte sogar angeordnet, dass er auf die Anleihe verzichte, sollte der Brokmanne die Nennung des Verwendungszwecks als »conditio sine qua non«53 betrachten. Den Grund hierfür kannte nur der Erzbischof selbst.

Keno Hylmerisna wäre es nicht ernsthaft eingefallen, an dieser Sache das Geschäft scheitern zu lassen. Dazu war die Aussicht, den Erzbischof von Brema als Schuldner zu haben, zu verlockend. Vor allem aus machtpolitischen Gründen. Zudem hatte er das Geld und war entschlossen, einen günstigen Zinssatz herauszuschlagen. Erst viel später und eher zufällig hatte Keno erfahren, dass der Kirchenfürst in die Hanse investieren wollte.

Bei der Festlegung der Zinsbedingungen hatte sich der Mönch dann als zäher Verhandler erwiesen. Es war bereits weit nach Mitternacht, als man sich endlich auf 12 Mark Bremische Pfennige einigte. Das Geld war in der Diözese zu erwirtschaften und durch das Kloster Marienkamp an Sankt Michaelis zu zahlen. Der Benediktiner hatte schließlich noch einen eher zaghaften Versuch unternommen, an Stelle der Geldzahlung eine Gegenleistung in Sachwerten auszuhandeln. Offensichtlich hatte er auch hierzu entsprechende Anweisungen. Sein Angebot von vier Fässern schmiedbarem Eisen oder zweihundert Schaffellen hatte der Brokmanne jedoch brüsk zurückgewiesen. Dann hatte er Uffo von der Schlafpritsche holen lassen, um den Vertrag aufzusetzen. Das war jetzt reichlich über ein Jahr her. Von der zusätzlichen Vereinbarung, die geliehene Summe zurückzuzahlen und sich damit von der Schuld zu befreien, hatte der Kirchenfürst bisher keinen Gebrauch gemacht. Und wenn es nach Keno Hylmerisna ging, dann hatte das auch keine Eile. Es gefiel ihm, Gläubiger des Erzbischofs von Brema zu sein.

Er lehnte sich zufrieden zurück und wandte sich an seinen Sohn. »So also, siehst du, verhält es sich mit unserem Vermögen. Ich werde es, solange ich kann, nach meinen Kräften mehren. Wenn deine Zeit kommt, dann bewahre es nicht nur, sondern sieh zu, das es wächst!«

Der Verwalter schloss den Folianten und Ocko verneigte sich erneut. Er wusste längst, dass es ein zweites Buch gab, groß und mit schweren Beschlägen, verschlossen in einer Eisenkiste. Sein Vater bewahrte es in der Kleidertruhe seines Schlafgemachs auf. Und nur er selbst führte es. Wenn er dort Eintragungen machte, duldete er niemanden in seiner Nähe. In diesem Folianten notierte Keno Hylmerisna Geldbewegungen, von denen er glaubte, dass sie außer dem Herrn niemand etwas angingen. Ocko war sich ziemlich sicher, dass seine Mutter von diesem Dokument nichts wusste, ganz zu schweigen von Uffo. Sein Vater, das vermutete er, führte dort auch Buch über die fremden Bewaffneten, von denen Ocko annahm, dass sie auf irgendeine Art Gesetzlose waren, vielleicht Seeräuber, Freibeuter, denen sein Vater Unterschlupf gewährte, wenn in Herbst und Winter der Seehandel nahezu zum Erliegen kam und sich Seeräuberei »nicht lohnte«.

Es musste so sein. Sein Vater hatte sie bei ihrem ersten Auftauchen als »Freunde« vorgestellt und keine weiteren Erklärungen abgegeben, aber die Mehrzahl der Fremden, unter denen auch Friesen waren, sprachen mit einem kaum verständlichen, harten nordischen Akzent, keiner war wie ein Bauer gekleidet und alle trugen Waffen. Er hatte den missbilligenden Blick seiner Mutter gesehen, die jedoch keinen Widerspruch gewagt hatte. Sie blieben unter sich, holten sich ihr Essen in der Küche und aßen auf der Tenne, getrennt vom Gesinde, an einem abseits stehenden Tisch. Ocko wusste auch, dass die Männer für ihren Aufenthalt zahlten, zumindest für das Essen, denn sie arbeiteten nicht auf dem Hof, sondern begleiteten seinen Vater gelegentlich, wenn er den Hof verließ, und dann waren sie immer in Eisen. Er hatte gesehen, wie einer der Fremden seinem Vater einen Lederbeutel zusteckte, verstohlen, aber er hatte es gesehen und der Beutel war schwer. Als sein Vater ihn entgegennahm, hörte man das leise Klirren von Geldstücken.

Die Fremden erschienen stets im frühen Herbst, etwa um Sankt Michaelis54, sie blieben den Winter über und verschwanden wenige Tage nach Sankt Georgius55. Sie trafen keine erkennbaren Vorbereitungen. Nichts deutete auf ihren Aufbruch hin. Aber dann, irgendwann eines Morgens, hatten sie den Hof verlassen. Ocko missbilligte nicht etwa, was sein Vater hier tat. Er wusste, dass man innerhalb und außerhalb der Landgemeinde ungünstig darüber sprach, auch deshalb, weil Keno Hylmerisna in dieser Sache niemanden in sein Vertrauen zog. Selbst die anderen Richter in Brokmannia nicht.

Aber Ocko registrierte mit Wohlwollen, welche Wirkung die Fremden in Brokmannia hatten, und ihm selbst begegneten sie mit dem zurückhaltenden Respekt, der gegenüber dem Erben der Hylmerisna wohl angebracht war. Erst neulich war er hinter dem Gesindehaus mit einem der Männer zusammengestoßen, es war schon dämmerig. Der Kerl, ein grober, muskelbepackter Klotz, es musste ein Nordmann gewesen sein, hatte geflucht und die Hand zum Schlag erhoben. Dann aber hatte er erkannt, wen er vor sich hatte, war zwei oder drei Schritte zurückgetreten, hatte sich tief verbeugt und etwas gemurmelt, das wie eine Entschuldigung geklungen hatte, wieder in dieser rauen, harten Sprache, die kaum jemand sonst verstand. Ocko hatte die Unterwürfigkeit des Mannes gefallen, sie vermittelte ein Machtgefühl, das ihn durchströmte wie ein Schluck des erhitzten Weines seiner Mutter am Christtag.

Er hieß es wohl, dass diese Männer seines Vaters Waffenknechte waren und es schien, als gehorchten sie aufs Wort. Der kleinste Wink genügte, und sie taten, was verlangt war, selbst der Anführer machte da keine Ausnahme. Auch dafür musste es einen Grund geben. Ocko kannte ihn nicht und das war es, was ihn an der Sache störte: dass sein Vater auch ihn, seinen Erben, nicht einweihte. Ocko vermutete, dass die Fremden irgendein Geschäft betrieben, aus dem sein Vater Gewinn schöpfte. Vielleicht gab er ihnen auch Geld oder unterstützte sie auf andere Weise. Jedenfalls schien eine Art von wechselseitiger Abhängigkeit zu bestehen, in der Keno Hylmerisna ohne jeden Zweifel der Stärkere war.

Über einen anderen Posten in den Aufzeichnungen seines Vaters hatte ihn Keno selbst aufgeklärt, zumindest in groben Zügen und mit erkennbarem Widerwillen. Auslöser war die Unterhaltung einiger Richter aus dem Hairlingerlant bei einer Kirchenweihe gewesen. Die Männer hatten zusammengehockt und sich das Bier des Erzbischofs schmecken lassen. Keno hatte den Tisch bereits passiert, Ocko war einige Schritte hinter seinem Vater stehen geblieben, um die Satteldecke des bischöflichen Zelters zu bestaunen. So war er Zeuge des Gesprächs geworden, das gewiss nicht für seine Ohren bestimmt gewesen war. Sie hatten abgewartet, bis Keno sich außer Hörweite entfernt hatte. Einer der Redjeven machte dann eine abfällige Bemerkung über den Mantel seines Vaters, der mit einem kostbaren Pelz besetzt war.

»Seht ihn euch an, den stolzen Brokmannen. Da trägt er das Gold spazieren, das sein Ahne den Sarazenen56 geraubt hat.«

Die anderen lachten, aber einer schüttelte zweifelnd den Kopf.

»Hat er es den Sarazenen geraubt oder den Juden? Oder hat es ihm der Erzbischof von Cöln geschenkt, dem er während des Kreuzzuges in den Arsch gekrochen ist?«, sagte der Mann langsam und genüsslich und die übrigen brachen in brüllendes Gelächter aus. Dann sahen sie Ocko, brachen abrupt ab und drehten ihm ihre Rücken zu.

Er sprach seinen Vater später darauf an und sofort stand in Keno Hylmerisnas Augen ein drohendes Glitzern. Eingehend erkundigte er sich nach den Männern. »Und Magnus tom Diek war nicht darunter?«, fragte er lauernd.

Ocko schüttelte den Kopf. »Was ist mit dem Gold?«

Sein Vater machte keinen Hehl daraus, dass aus der Familie der Hylmerisna Männer am 5. Kreuzzug57 teilgenommen hatten. »Auch Hisko Hylmerisna, der ein Vorfahr deines Vorvaters Addo gewesen ist.«

Ocko starrte seinen Vater neugierig an. »Ist er reich zurückgekommen?«

»Reich? Nein. Mit Ehren überhäuft, wegen seiner Tapferkeit wohl sogar dem Kaiser58 selbst in Audienz vorgestellt. Und krank, ja, aber nicht reich.« Keno wandte sich ab, um klarzumachen, dass für ihn damit das Thema beendet war.

Ocko wusste nicht, ob er ihm glauben sollte. Gut möglich, dass dieser Hisko doch mit Beute zurückgekehrt war, vielleicht mit Gold, an dem Blut klebte und das deshalb als anrüchiger Teil des Vermögens der Hylmerisna irgendwie versteckt werden musste. Als Einlage in Handelsbeteiligungen, oder längst für Landkäufe ausgegeben. Oder für den Erwerb der Gerichtsherrschaft in den Kirchspielen Uthum und Visquerd gezahlt. Diese beiden Kirchspiele lagen nicht im Stammland der Hylmerisna. Ocko wusste, dass sogar Bischöfe große Summen bezahlten, um in den Besitz von Gerichtsrechten zu gelangen. Sie sicherten Einfluss und Einkünfte. Eines Tages würde er erfahren, ob es sich in seiner Familie ähnlich verhielt. Er sah seinen Weg vor sich, und seine Ziele waren klar abgesteckt.

»Sorge dich nicht, Vater. Wenn meine Zeit kommt, werde ich meine Pflicht tun. Wenn sie abgelaufen ist, werden die Hylmerisna reicher und mächtiger sein als je zuvor«, sagte er mit fester Stimme und sah Keno wie zur Bestätigung nicken. Dann stand er auf, küsste seiner Mutter die Hände und verließ ohne weitere Worte den Raum.

*

Der Ritt durch die Stadt bereitete Keno Hylmerisna kein Vergnügen. Brema ging ihm auf die Nerven mit seinem Dreck und dem Lärm Tausender Menschen. Es stank überall nach Fäkalien, verfaulten Abfällen und Schweiß. Ratten und anderes Ungeziefer huschten an Häuserwänden entlang oder verschwanden zwischen angehäuften Küchenresten, die vor den Türen lagen. In den schlammigen Straßen, die nach den kalten Niederschlägen der letzten Wochen noch lange nicht abgetrocknet waren, lag der Morast fußhoch und machte das Weiterkommen selbst für die Pferde schwer. Er bahnte sich fluchend seinen Weg, begleitet von einem kleinen Gefolge, und hatte seine Augen überall. Nur mit Mühe konnte er einmal dem Inhalt eines Nachttopfes ausweichen, den irgendwo über ihm jemand wie üblich aus dem Fenster entleerte. Es musste die Nachtproduktion einer ganzen Familie gewesen sein, der Guss pladderte neben ihm auf die Straße und sofort verbreitete sich ein scharfer, stechender Uringestank.

Auf den Gassen herrschte trotz der frühen Stunde bereits hektische Betriebsamkeit. Fuhrleute steuerten ihre Wagen brüllend durch das Gewühl, dazwischen das hohe Gekeife von Marktweibern und aufgeregten Bauern, die blökendes Vieh mit Schreien und Schlägen zu den Marktplätzen trieben. Lehrjungen von Handwerkern hasteten mit schwer beladenen Kiepen durch Menschenlücken hindurch, auf ihren besorgten Gesichtern spiegelte sich die Furcht vor der Prügel, die sie beziehen würden, wenn sie ihre Ware nicht rechtzeitig und, vor allem, unversehrt an ihr Ziel brachten. Die ganze Stadt war dem Brokmannen ein Graus. Schmalbrüstige Bretterbuden, teilweise sogar noch mit Grassoden gedeckt, klebten eng an kaum solider gebauten Holzhäusern, nur wenige Gebäude waren aus Stein. Doch selbst die waren oft in einem beklagenswerten Zustand, die Sockel bespritzt mit dem Schlamm der Straße, umgeben von Unrat und Müll.

Auch die Residenz des Erzbischofs von Brema machte da keine Ausnahme, trotz ihrer imponierenden Abmessungen, aber Keno war dennoch froh, als er sie endlich erreicht hatte. Ein Pferdeknecht nahm ihnen die Reittiere ab und ein rotgesichtiger, schwitzender Mönch, dessen Kutte ein strenger Ziegengeruch entstieg, führte Hylmerisna in den oberen Teil des Gebäudes.

Der Erzbischof von Brema saß in seinem hohen Lehnstuhl und aß eine Grütze aus Leinsamen, vielleicht sein zweites Frühstück oder ein vorgezogenes Mittagessen. Er trug einen einfachen Priesterrock, den lediglich das Bischofskreuz zierte. Es hatte den Brokmannen überrascht, dass der Kirchenfürst seiner Bitte um ein Treffen innerhalb weniger Tage entsprochen hatte. Als ärgerlich empfand Keno dagegen die Ablehnung seines Sohnes Ocko als Teilnehmer an der Audienz. Er hatte dem Erzbischof mitteilen lassen, es gehe nicht um Geld. Dennoch erwartete der Oberhirte wohl einen unangenehmen Anlass, bei dem er keinen Halbwüchsigen an seinem Tisch dulden wollte. Vielleicht kam der Brokmanne letztlich ja doch als sein Gläubiger, oder die Sache wurde während der Unterredung zur Sprache gebracht und warf ein ungünstiges Licht auf ihn. Man wusste nie, wie dergleichen ausging. Und er hasste es, wenn er ein Gespräch nicht kontrollieren konnte.

»Du kommst ungünstig«, knurrte er und reichte dem Brokmannen mit einer trägen Bewegung seine Hand zum Kuss. Keno berührte den bischöflichen Siegelring mit spitzen Lippen.

»Nichts liegt mir ferner, als Euer Liebden beim Mahl zu stören«, sagte er, aber der Erzbischof winkte ab und deutete auf einen Stuhl zu seiner Linken.

»Mein Arzt hat mich auf fleischlose Kost gesetzt«, klagte er und rieb sich seinen mächtigen Leib. »Er macht mir Einläufe und kalte Wickel um den Bauch, damit die Krämpfe sich lösen.« Er schüttelte den Kopf und seine Miene verdüsterte sich. »Der Mann hat angeblich in Cordoba59 studiert und ist doch ein Quacksalber wie all die anderen. Warum gibt es bei uns keine anständigen Ärzte, kannst du mir das sagen?« Erneut fuhr er sich seufzend über seinen gewaltigen Bauch. Dann deutete er auf den gut gefüllten Pokal neben seinem Teller. Jede seiner Bewegungen setzte eine Wolke säuerlicher Ausdünstungen frei. »Willst du Wein?«

Keno lehnte dankend ab und der Erzbischof sagte: »Mit deiner Erlaubnis«, und begann erneut, seine Grütze zu löffeln. Er aß geräuschvoll und ohne besondere Sorgfalt. Trotz seiner feisten Gestalt war er ein harter und kraftvoller Mann, der seinen Körper sehr wohl einzusetzen wusste. Er hatte in seiner Kathedrale einen Opferstockräuber auf frischer Tat ertappt und den Mann derart verprügelt, dass dessen Wunden anschließend von einem Bader behandelt werden mussten. Wie man sich erzählte, schreckte er auch nicht davor zurück, Bedienstete durch Ohrfeigen und Schläge zu züchtigen. Die Pfarrer und Mönche seines Bistums fürchteten ihn wegen seiner oft rüden Art der Rede und des Auftretens. In seinem ganzen Habitus war Otto I. eher ein Grundherr als ein Kirchenfürst und so benahm er sich auch. Mit einem leisen Rülpser schob er nun seinen Teller zur Seite und griff nach dem Weinglas.

»Was ist es, das dich zu mir führt?«, fragte er und fügte mit einem spitzbübischen Lächeln hinzu: »In einer Frage der Kirche hättest du dich gewiss an meinen Amtsbruder, den Erzbischof von Monasterium60, gewandt, in dessen Händen deine Seele liegt«.

»Meine Seele liegt in den Händen des Herrn«, sagte Keno und mischte so seine gespielte Demut geschickt mit verstecktem Tadel. Er beugte sich vor. »Und der Erzbischof von Monasterium war zur Jagd und hatte keine Zeit für mich.«

Er hatte unmittelbar nach dem Streit mit Magnus tom Diek zwei Boten gleichzeitig ausgesandt und die Männer hatten Anweisung, vor Ort auf Antwort zu warten. Erzbischof Ludwig war nicht in seiner Residenz. Irgendein Prälat hatte den Boten drei Tage lang hingehalten und dann erklärt, der Diözesanherr erprobe in seinen Revieren einem neuen Beizvogel, ein Geschenk des Erzbischofs von Utrecht, und sei nicht vor Anfang des nächsten Monds zurück. Erst vor zwei Tagen war der Bote heimgekehrt, völlig erschöpft, sein Pferd war gänzlich ausgeritten und lahmte an drei Hufen.

Aber bereits nach einer Woche hatte Keno Hylmerisna Nachricht, dass der Oberhirte von Brema bereit war, mit ihm zu sprechen.

Der Kirchenfürst lehnte sich zurück und grinste breit. Er schob sein Brustkreuz zur Seite und kratzte sich am Bauch. »Sieh an! Zur Jagd!« Dann glitt ein Schatten über sein breites, flächiges Gesicht und sein Kinn wurde unvermittelt hart. »Dieser Mann ist mir ein Dorn im Auge. Er erhebt unverschämte Besitzansprüche an meiner westlichen Diözesengrenze und beruft sich dabei auf uralte Dokumente, die natürlich gefälscht sind!«

Otto hob sein Gesäß leicht seitlich an und ließ einen knarrenden Furz fahren.

»Daraus leitet er dann Patronatsrechte ab, richtet Sendkirchen ein und nimmt den Zehnten von Klöstern, die eigentlich mir gehören. Kostet mich mindestens dreißig Pfund Tournosen im Jahr. Und der Pontifex lässt ihn gewähren!«, grollte er und griff nach seinem Weinglas.

Keno Hylmerisna kannte diesen Rechtsstreit. Er ging zurück auf komplizierte und unübersichtliche Grenzverläufe im Süden der beiden Bistümer. Sie wurden verursacht durch häufige Besitzwechsel, die zudem nur unzulänglich beurkundet waren. Aber der Papst, Benedikt XII, hatte in dieser Angelegenheit Anno 1337 noch zur Amtszeit von Burkhard Grelle, Ottos Vorgänger auf dem Bischofsstuhl, entschieden und damit den Streit formal beigelegt. Er hatte zudem beide Kirchenfürsten ermahnt, ihre Kraft stärker auf ihre Pflichten als Oberhirten ihrer Diözesen zu lenken, statt sie in Rechtsstreitigkeiten über irdische Besitztümer zu vergeuden. Man konnte sehen, dass damit für den Erzbischof von Brema diese Sache noch nicht beendet war.

»Ausgerechnet Benedikt!«, zischte Otto, wohl in Erinnerung an die Zurechtweisung durch den Bischof von Rom. Dieser Papst gerierte sich als frommer, sittenstrenger Reformer, drang auf harte Zucht in den Klöstern und geißelte als erklärter Feind des Nepotismus61 Gewinnsucht und Bestechlichkeit in seiner Kirche, wobei er nicht nur die Kurie im Auge hatte. Dabei wusste doch jeder, dass Benedikt sein Amt dem König von Frankreich verdankte, für dessen Politik er sich regelmäßig missbrauchen ließ.

»Das ist verlogen. Und es schadet der Macht der Kirche«, schloss der Erzbischof von Brema und griff nach seiner Tischglocke. Ein bleicher Mönch in schwarzem Habit huschte herein, füllte den Kelch des Erzbischofs nach, goss ohne zu fragen auch für den Brokmannen ein und verschwand.

Keno schwieg. Er begriff, dass Otto diese Gelegenheit nutzen wollte, um seinen Ärger abzuladen, und sah keinen Anlass, ihn darin zu bestärken. Sein Anliegen war anders. Wieder gingen ihm die Worte seines Sohnes durch den Kopf. Ocko war auch zornig darüber gewesen, dass seine Teilnahme an dieser Audienz nicht erwünscht war. Aber er hatte sich gefügt. Und erneut eine erstaunliche Reife gezeigt, als sie über die taktische Gesprächsführung diskutiert hatten. »Sage ihm, dass die Zersplitterung der Macht niemandem nützt. Sage ihm auch, dass wir gemeinsame Interessen haben. Und sage ihm schließlich, dass die Kirche Stütze vor allem in den führenden Familien finden kann, wenn es darum geht, ihren Einfluss zu mehren!«

Keno Hylmerisna hatte seinen Sohn in einer Mischung aus Nachdenklichkeit und Bewunderung angestarrt. Es schien ihm, als sehe er ihn plötzlich mit anderen Augen. »Hast du berücksichtigt, dass Otto nicht unser Diözesanherr ist? Er kann alles ablehnen, sich als nicht zuständig erklären. Wir unterstehen dem Bischof von Monasterium!«

Aber Ocko hatte milde gelächelt und den Kopf geschüttelt. »Mein Vater. Es ist wahr, wir gehören zu Ludwig dem Hessen, der dich nicht empfängt. Aber Otto ist, ebenso wie Ludwig, ein Machtmensch. Er wird aus grundsätzlichen Überlegungen auf unserer Seite sein. Und Brema ist nun einmal näher als Monasterium!«

So war das gewesen und der Brokmanne war sich erneut bewusst geworden, dass sein Sohn in wenigen Monaten eine verblüffende Entwicklung genommen hatte. Er mochte noch immer im Körper eines Halbwüchsigen stecken. Aber er dachte bereits wie ein vollwertiger Mann, kühl und überlegt.

Wenige Stunden später hatte er dann jedoch wieder den anderen Ocko erlebt, der zu unkontrollierten Wutausbrüchen fähig war. Auf einem Ritt durch die Landgemeinde passierten sie ein Flurstück, an dessen Rand mehrere Kinder einen Entwässerungsgraben reinigten. Das älteste, ein Junge, mochte zehn oder elf Jahre alt sein. Mit einfachen Weidenrechen zogen sie Unrat, Äste und Steine aus dem Graben, um den Durchfluss des Wassers zu verbessern. Alle waren barfuß und in dünnen Leinenkitteln, die Füße rot angelaufen vor Kälte. Der Vater arbeitete auf einer Fläche daneben. Er grub Torferde mit einem Holzspaten ab und schichtete sie zum Trocknen auf. An einer anderen Stelle verbrannte er Torf zur Salzgewinnung für die häusliche Küche, wie es viele Familien taten, denen das Salz auf den Märkten zu teuer war.

Es begann schon zu dämmern und sie ritten im Galopp, denn der heimatliche Hof war weit und einen Pächter wollte Keno noch aufsuchen. Der Vertrag lief aus und der Bauer wollte ihn zu den alten Bedingungen verlängern, aber er hatte zwei gute Ernten gehabt und der Brokmanne sah damit eine günstige Gelegenheit, die Pachthöhe neu zu verhandeln.

Also gaben sie ihren Pferden die Sporen und donnerten auf dem schmalen Weg das Flurstück entlang. Sie waren schon fast an der Stelle, als plötzlich eines der Kinder, ein kleines Mädchen, mit einem Schreckensschrei seinen Rechen wegwarf, sich umwandte und losrannte, seinem Vater entgegen, der auf der anderen Seite stand. Es war reines Glück, dass die ersten Reiter das Kind verfehlten und trotzdem auf der Straße blieben, aber Ocko konnte nicht mehr ausweichen. Sein Pferd erwischte die Kleine mit dem Huf hart am Hinterkopf, kam ins Straucheln und fing sich nicht mehr. Es stürzte mit einem dumpfen Schlag in den Graben. Sein Reiter, inzwischen aus dem Sattel, schlug wenige Schritte daneben in den morastigen Grund. Mit einem wütenden Schrei war Ocko sofort wieder auf den Beinen, stürmte die Böschung hinauf und zog noch im Rennen sein Messer.

Der Bauer war jetzt bei seinem Kind und hob es völlig verdattert vom Boden auf. Die unnatürliche Pendelbewegung des Kopfes, der wie lose am Hals des Mädchens baumelte, machte klar, dass sein Genick gebrochen war. Der Mann glotzte fassungslos auf den Leichnam in seinen Armen, wusste nichts, verstand nichts, da war Ocko heran und riss seine Klinge nach oben. Er hätte in seinem Zorn gewiss zugestochen, nur ein scharfer Befehl seines Vaters und die Geistesgegenwart eines der Bewaffneten, der das Unheil kommen sah und ihm in den Arm fiel, hielten ihn davon ab.

»Is gudd! Is scho todd!«, radebrechte der Bewaffnete und drückte die Hand mit dem Dolch nach unten mit einer Leichtigkeit, als ob es überhaupt nichts wäre. Ocko war außer sich. Sein Sturz und seine verschmutzten Kleider brachten ihn so sehr in Rage, dass ihn der Tod des kleinen Mädchens ebenso wenig berührte wie das Weinen seiner Geschwister oder die völlige Fassungslosigkeit des Bauern, die sich jetzt allmählich in Tränen zu lösen begann. Keno Hylmerisna steckte dem Mann ein paar Pfennige zu, einer der Knechte aus der Begleitmannschaft hatte Ockos Pferd aus dem Graben geholt und sie saßen auf und ritten davon. Niemand blickte auch nur ein einziges Mal zurück.

Als sie wenig später bei dem Pächter eintrafen, hatte sich Ocko völlig beruhigt. Nüchtern und kühl folgte er den Verhandlungen, auf seinen Lippen stand ein geringschätziges Lächeln, als der Bauer wegen der von seinem Vater geforderten Pachthöhe zu lamentieren begann. Kein Bedauern, nicht einmal ein Anzeichen von Betroffenheit. Ocko Hylmerisna war kalt wie eine Hundeschnauze.

Daran dachte der Brokmanne jetzt. Sein Sohn war aus dem Holz geschnitzt, Keno Hylmerisnas Traum zur Begründung herrschaftlicher Strukturen zu verwirklichen, mehr noch: zur Bildung einer Dynastie in Brokmannia, vielleicht sogar darüber hinaus. Dazu bedurfte es ohne jeden Zweifel der Unterstützung durch die Kirche. Dieses Gespräch musste hierfür den Grundstein legen. »Die Macht der Kirche, Euer Liebden, das ist es, was mich heute zu Euch führt«, sagte Keno klar, fast scharf, und sah Ottos Kopf ruckartig nach oben fahren.

Der Erzbischof griff an sein Brustkreuz, in seinen Augen war plötzlich ein funkelndes Lauern. »Was schert dich die Macht der Kirche?« Otto wuchtete sich aus seinem Stuhl hoch, ging zum Fenster und sah hinaus. Die bleigefassten Scheiben ließen trotz ihrer zahlreichen Einschlüsse deutlich mehr Licht in den Raum als die mit inzwischen vergilbten Schweinsblasen bespannten Holzrahmen im Wirtschaftstrakt des unteren Stockwerks. Die massige Gestalt des Erzbischofs hob sich schwarz und drohend gegen den hellen Hintergrund ab.

Keno trank einen Schluck Wein, er brauchte einen Augenblick, um sich zu sammeln. Er hatte sich seine Argumente sorgfältig zurechtgelegt. Dann sprach er, sprach jetzt sehr schnell, ganz so als befürchte er, Otto lasse ihm nicht genügend Zeit, seinen Standpunkt vorzutragen. Er beschränkte sich auf wenige Sätze. Umriss die künftigen Strukturen friesischer Machtverhältnisse. Legte dem Kirchenfürsten dar, wo er den wechselseitigen Nutzen einer Zusammenarbeit mit den »führenden Familien« der Landgemeinden sah. Wies mit besonderem Nachdruck auf die Unsicherheiten hin, die das jetzige System der wechselnden Richter mit sich brachte. Dann schwieg er.

Auch Otto schwieg. Lange. Plötzlich fuhr er mit einem Ruck herum. »Was du da planst, riecht verdammt nach Untreue. Verrat. Ich hoffe du weißt, worauf du dich einlässt!«, polterte der Kirchenfürst.

Keno Hylmerisna beugte sich vor. Seine Stimme war jetzt beißend, mit einem Mal fehlte ihr jede Unterwürfigkeit. »Verrat woran? An Friesland, das ohne eine feste Führung seine Freiheit an fremde Herren verlieren wird? An einer Redjevenordnung, die ihre Unfähigkeit zur Lösung der Probleme längst bewiesen hat? Verrat an meinen Landsleuten, den Friesen, die Sicherheit und damit Wohlfahrt gewinnen?«

Er schüttelte den Kopf und lehnte sich zurück, versuchte, seiner Erregung Herr zu werden. Auf seiner Stirn sammelten sich kleine Schweißtropfen. Seine Hand drehte den Weinpokal. »Diese Entwicklung ist nicht aufzuhalten. Wer das nicht sieht, ist blind. Also nehmen wir lediglich vorweg, was ohnehin eintreten wird. Friesland wird künftig durch Herren regiert. Die Frage ist nur, ob es eigene oder fremde sind.«

Der Erzbischof warf ihm einen schrägen Blick zu. »Was kümmert mich die Freiheit der Friesen. Mein Amt ist die Sorge um ihr Seelenheil!« Er hob warnend seinen Zeigefinger. »Und vergiss nicht, Keno Hylmerisna: Ein fremder Herr bin ich auch.«

»So wie der Erzbischof von Monasterium«, antwortete Keno trocken und auf seinem Gesicht stand ein freudloses Lächeln. Er sprach noch immer sehr selbstbewusst, vermied jeden Gestus der Unterordnung und was er sagte, ließ an Deutlichkeit nichts vermissen. »Damit das klar ist: Friesland braucht Euch nicht als Fürsten. Ich am allerwenigsten. Sondern als Verbündeten zu Eurem eigenen Nutzen!«

Otto beschlich plötzlich das Gefühl, dass hier auch ein Gläubiger seinem Schuldner entgegentrat.

Der Erzbischof kam mit kleinen Schritten an den Tisch zurück. Seine Hände hatte er fest hinter dem Rücken verschränkt. Es sah so aus, als wolle er sie davon abhalten, den Brokmannen zu schlagen. Er war zornig über das Gespräch, das seiner Kontrolle entglitten war. Er war deshalb zornig über sich selbst und er war zornig über Keno Hylmerisna, dessen inzwischen unbotmäßiger Ton ihn wurmte. Er ließ sich schwer in seinen Lehnstuhl fallen, schrie nach frischem Wein und wartete ungeduldig darauf, dass der Mönch den Raum verließ.

»Mein eigener Nutzen. Mein eigener Nutzen!«, maulte er und wandte sich dem Brokmannen heftig zu. »Was ist das denn, mein eigener Nutzen? Was hast du mir denn zu bieten?«

Keno lächelte. Es sah aus wie das Lächeln seines Sohnes bei den Einwänden des Bauern gegen die Pachterhöhung vor wenigen Tagen. So waren sie vielfach, die hohen Herren. Den Grafenstand im Rücken. Reich durch das Erbe ihrer Väter. Kirchenfürsten durch Protektion. Und ihre Augen nur auf dem eigenen Geldbeutel, den es zu füllen galt. Alle Kraft auf das naheliegende Ziel gerichtet. Darauf, was jetzt zu greifen war. Aber unfähig zu Planung darüber hinaus. Nicht in der Lage, hinter den nächsten Hügel zu denken. Und hinter den darauf folgenden. Und hinter den Berg, der dann kam. Sie waren nichts als degenerierte Kleingeister, die ihren Rangplatz eigentlich nicht verdienten.

Keno sah keinen Grund mehr für Zurückhaltung. Er betrachtete sich nun als gleichwertig, Vertreter einer aufstrebenden Familie, die ebenfalls, wer mochte wissen wann, dynastische Ansprüche durchsetzen würde.

»Ich biete dir Stabilität, Verhältnisse, in denen deine Klöster zuverlässig wachsen und Erträge abwerfen. In denen deine Kirchspiele Glieder gewinnen und an Bedeutung zunehmen. Ich bietet dir ein Stück Friesland, das dein Ansehen und deinen Reichtum mehrt«, sagte der Brokmanne. Er sagte es leichthin, wie nebenbei, ohne besondere Betonung.

Der Erzbischof zog ein nicht mehr ganz sauberes Leinentuch aus seiner Soutane und wischte sich über sein feistes Gesicht. In seinem Mienenspiel widerstritt ein säuerliches Lächeln mit offenkundigem Zorn. Er hatte die Wende im Ton ihres Gesprächs ja nicht nur bemerkt, sie war ihm um die Ohren geschlagen worden. Insubordination, Aufsässigkeit, ja Blasphemie wurde ihm hier zugemutet. Frechheiten, von einem kleinen Emporkömmling aus Brokmannia, der kaum eine Handvoll Grase sein eigen nannte. Ein Mann von geringem Stand. Mit unbedeutenden Vorfahren. Aber auch ein aufstrebender Geist. Offenkundig nicht ohne Vermögen, der Teufel mochte wissen, ob alles davon den Segen des Herrn fand. Und einer, der seinen Machthunger kaum bändigen konnte. Also ein ernstzunehmender Gegner. Und ein Gläubiger. Verdammte Sauzucht! Hatte er es nicht geahnt, als ihm die Bitte um Audienz vorgelegt wurde? Aber das Verrückteste war, dass aus der Verbindung mit diesem Kerl tatsächlich ein Nutzen für ihn heraussprang. Immerhin, was der Bursche zu sagen hatte, war nicht von der Hand zu weisen.

Aber es gab auch noch eine andere Seite. Er nahm einen Schluck Wein, rülpste leise und wischte sich mit dem Ärmel über den Mund.

»Na schön. Stabile Verhältnisse. Wachsende Klöster und Kirchspiele, so war’s doch?«, fragte er bissig und Keno neigte zustimmend den Kopf. »Ein Stück Friesland, das mein Ansehen und meinen Reichtum mehrt, nicht wahr, ich habe doch richtig gehört?«, wiederholte der Erzbischof mit saftiger Ironie und Keno Hylmerisna schwieg. Otto beugte sich dem Brokmannen zu. In seinen Augen funkelte es boshaft.

»Und was ist mit dir? Wo steckt der Nutzen für dich und die Deinen?«, fragte er flach. Keno hob die Schultern und noch bevor er antworten konnte, fuhr der Kirchenfürst fort: »Auch stabile Verhältnisse, nehme ich an. Wachsende Latifundien. Sich mehrendes Ansehen«, sagte er genüsslich und seine Mundwinkel umkräuselte plötzlich ein kaltes Lächeln. »Und am Ende? Eines Tages? Bauernfürst? Oder gar der Grafentitel?«

Kenos Gesicht wurde hart und sein Kinn straffte sich. Er schätzte es nicht, wenn man mit ihm spielte. Und er fühlte sich herabgesetzt. Das duldete er nicht. Von niemandem. Auch nicht von einem Erzbischof.

»Wer weiß?«, sagte er aufsässig und der Erzbischof warf sich in seinen Stuhl zurück und lachte dröhnend, aber das Lachen erreichte seine Augen nicht.

33) Pachtzins

34) Victorbur, bei Aurich

35) Wiesens, bei Aurich

36) lat. für ebenso, ebenfalls, auch

37) Hage bei Norden

38) bei Emden, damals zum Brokmerland gehörend

39) Emsingerland

40) Larrelt in der Krummhörn

41) Manslagt in der Krummhörn

42) Gemeint ist hier Ludwig II, Landgraf von Hessen, von 1310-1357 auch Erzbischof von Münster, in

dessen Diözese die Kirchspiele Larrelt und Manslagt lagen.

43) llat. für im Übrigen, sonst

44) Emden

45) Appingedam in den heutigen Niederlanden

46) Hamburg

47) Mittelalterliches Hohlmaß, konnte je nach Region zwischen 23 und 222 Litern Volumen liegen.

48) Oldenburg

49) Gemeint ist Otto I., Graf von Aldenborch, von 1344 -1348 zugleich Erzbischof von Bremen.

50) Brügge in Flandern

51) 29. September.

52) Marienkamp in Holtgast bei Esens, 119ß vom Benediktinerorden gegründet

53) lat.: Unabdingbare Voraussetzung

54) 29. September

55) 23. April

56) Im Mittelalter Bezeichnung für die Araber / Moslems des Mittelmeerraumes.

57) 1228/29

58) Gemeint ist der Staufer Friedrich II, der von 1212 bis 1250 regierte.

59) Stadt in Andalusien; bereits zur Zeit der Kalifen Universitätsstadt

60) Münster

61) Vetternwirtschaft

Friesische Herrlichkeit

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