Читать книгу Friesische Herrlichkeit - Lothar Englert - Страница 8

1.

Оглавление

Dies ist die erste Volksküre und das Privileg König Karls, dass ein jeder im Besitz seines Gutes bleibe, solange er es nicht verwirkt habe.

1. Gemeinfriesische Küre

Eesensem4, Hairlingerlant, am Tag des hl. Thomas von Aquino, Anno Domini 1345 (Montag, 7. März)

Enno nahm die rasenden Schläge im Unterbewusstsein wahr. Er war noch nicht wach, aber da war dieses wahnsinnige Hämmern, dröhnte schmerzhaft in seinem Kopf und ließ sein Zwerchfell im Rhythmus der Wiederholungen vibrieren. Er wusste sofort, dass irgendetwas Furchtbares passiert sein musste, wusste das schon im Zustand zwischen Wachsein und Schlaf und plötzlich raste auch sein Herz, passte sich dem irren Gedröhn der Alarmschläge an und riss ihn auf die Füße.

Er stürzte in den Vorhof und sah Tjarko, den hageren Pferdeknecht, auf der Plattform des Torhauses stehen und wie besessen auf den schweren Holzbalken dreschen, der unter dem Dach hing. Der Knecht schrie etwas, aber Enno konnte ihn nicht verstehen. Das Licht war noch schwach, Neumond erst drei Tage vorbei, aber er sah das offene Tor und den fremden Reiter unter dem Torbogen stehen, sein Pferd völlig ausgeritten mit hängendem Kopf und schlagendem Schweif. Der Knecht schrie ununterbrochen und Enno wurde klar, dass der Reiter eine schreckliche Botschaft überbracht haben musste und der Knecht auf dem Turm versuchte, die Mannschaft der Hofanlage zu alarmieren.

Sein Vater, Magnus tom Diek, war mit dem größten Teil des Gesindes bereits auf den Feldern. Die übrigen waren mit den Rindern in die südlichen Huden5 aufgebrochen, um das noch frische Gras der Weideflächen zu schonen. Und dann wurde ihm klar, dass der Wind verdammt schlecht stand. Es wehte eine lebhafte Brise von Land her, nahm die Schläge auf den Alarmgong mit sich fort und trugen sie in Richtung auf das offene Meer hinaus. Unwahrscheinlich, dass die landeinwärts arbeitende Mannschaft überhaupt etwas hörte.

Plötzlich kam tumultartiges Gebrülle von den Stallungen her und dann tauchte der lange Holländer auf, Adriaan, der Teufel mochte wissen, wieso der noch auf dem Hof war, geduckt auf seinem Riesengaul, die Lederkappe tief in die Stirn gedrückt und mit wilden Versuchen, im Abreiten seinen Lanzenspieß unter Kontrolle zu bekommen, den er unglücklich viel zu weit am Ende gefasst hatte. Richtete sich im Sattel auf und zog die Lanze ein gutes Stück hinter sich her, bevor er sie endlich am Griff packen konnte, fegte in einem irren Tempo und mit waghalsiger Schräglage um die Kurve auf das offene Tor zu. Tjarko sah ihn jetzt und brüllte ihm irgend etwas zu, aber der lange Adriaan donnerte wie verrückt unter dem Tor hindurch, verfehlte mit seinem Kopf den Querbalken nur um Haaresbreite und verschwand in der Senke Richtung Süden.

Es war klar, der Lange wollte auf die Felder, den Schollenherren6 und seine Leute warnen. Offensichtlich hatte er begriffen, was vorging, auch ohne das Gebrülle des Pferdeknechtes. Der fremde Reiter war inzwischen abgestiegen und hatte sein Pferd abseits an die Tränke geführt. Enno registrierte im Vorbeihetzen die braune Bekleidung aus billigem Tuch und den plumpen eisernen Hauer an der Hüfte des Mannes. Ein Bauernreiter von der Küste. Der Pferdeknecht kam ihm von oben entgegen, hastete mit seinen schlaksigen Beinen die Treppe hinunter und schrie noch immer, und jetzt konnte Enno ihn verstehen.

»Tor zu! Das Tor zu, Mann! Macht das verdammte Tor zu!« Zerrte ihn mit nach unten, trieb ihn an wie von Sinnen und gemeinsam warfen sie die schweren Flügel des Hoftores zu und sicherten sie mit den massiven eichenen Balken. Inzwischen waren die Frauen und Kinder im Hof zusammengelaufen, der alte Tryggve kam herangehumpelt und Enno sah seine Mutter Almeth mit angstvollem Gesicht bei dem Bauerreiter stehen, die Augen vor Schreck geweitet. Und dann aus dem Stimmengewirr immer deutlicher die Rufe.

»Überfall! Seeräuber! Normannen! Die Normannen!!« Jetzt schrie es auch Tjarko aus vollem Hals. Der Bauernreiter hatte einen Überfall auf einen Küstenhof gemeldet, anscheinend mit einem flinken Schiff, vielleicht einem Knorr7, ausgeführt. Der Hof brannte, das Vieh war gestohlen oder bestialisch geschlachtet, die Bewohner erschlagen oder verschleppt. Weitere Nachrichten gab es nicht. Niemand wusste, ob sich das Raubgesindel noch in der Gegend aufhielt, oder, was wahrscheinlicher war, blitzschnell zugeschlagen hatte und danach wieder verschwunden war. Tjarko in seiner Not hatte nicht gewusst, ob er zuerst das Tor zumachen oder Alarm schlagen sollte, deshalb seine Aufregung, er war nicht der Hellste.

Sie taten jetzt das Vernünftigste, was sie unter diesen Umständen tun konnten: Besetzten das Torhaus, ließen das Tor geschlossen und warteten darauf, dass der Bauer mit seinen Leuten zum Hof zurückkehrte. Almeth tom Diek schickte Frauen und Kinder in die Häuser und ließ die Läden verriegeln.

Inzwischen war es nahezu hell. Im Nordwesten zeigte sich eine dünne Rauchfahne und Tjarko wies aufgeregt mit dem Arm in die Richtung. Von den Angreifern war nichts zu sehen. Überfälle dieser Art, meist von Männern aus dem Norden, waren selten geworden. Sie hatten sich vor vielen hundert Jahren gehäuft, und die Alten erzählten noch heute an den Feuern Geschichten voller Härte und Grausamkeit, Geschichten von Brand, Tod, von Raub und sinnloser Zerstörung. Mit unvorstellbarer Brutalität fielen sie über wehrlose Höfe und Siedlungen her, erschlugen die Männer, vergewaltigten die Frauen und nagelten Säuglinge an Scheunentore. Was von Wert war, nahmen sie mit, Junge und Starke wurden auf den Märkten weiter im Süden als Sklaven verkauft.

Ganz allmählich hatten diese Heimsuchungen aufgehört. Aber es gab in den Ländern nördlich des großen Meeres immer noch nachgeborene Bauernsöhne, für die auf dem väterlichen Hof kein Platz war, oder die sich nicht mit einem Leben als Knecht des Erstgeborenen zufrieden gaben, sich lieber als Räuber durchs Leben schlugen. Und es fand sich genügend Gesindel, Abenteurer und gemeine Verbrecher, das als Mannschaft bei solchen Raubzügen mitmachte. Vielfach operierten diese Banden von See her. Es gab keine Verheerungen mehr wie in der alten Zeit, als die Normannen mit schnellen Langschiffen sogar Flüsse hinaufgefahren waren und ganze Städte in Schutt und Asche gelegt hatten. Aber die heutigen Angriffe waren nicht weniger grausam und brachten Leid, Elend und Not über die betroffenen Menschen.

Sie starrten angestrengt nach Norden und Tjarko, der Pferdeknecht, scharrte unruhig mit den Füßen. Der Bauernreiter stand immer noch an der Tränke bei seinem Pferd, als in ihrem Rücken plötzlich ein dumpfes Grollen zu hören war. Es riss ihre Köpfe herum und sie sahen zu ihrer Erleichterung Magnus in einem Pulk von Reitern in gestrecktem Galopp heranstürmen, eingehüllt in eine Wolke von Dreck und Steinen, der lange Adriaan vorneweg und weiter hinten folgte im Laufschritt die restliche Mannschaft.

Tjarko scheuchte Enno vom Turm hinunter und schrie dem Bauernreiter mit überschlagender Stimme zu: »Bewegung, Mann! Das Tor auf! Der Schollenherr kommt!«

Wenig später war die Spitze des Trupps bereits heran, donnerte durch das Tor in den Hof und die Männer sprangen aus den Sätteln, noch bevor die Pferde richtig standen. Anscheinend hatte der lange Adriaan Zeit gehabt für eine hinreichende Meldung, denn sofort stürzten alle davon, um sich zu bewaffnen, während die Frauen unter Führung Almeths die Pferde versorgten. Enno sah seinem Vater bei dem Bauernreiter stehen. Der Mann hatte, vielleicht überwältigt von einem Gefühl der Erschöpfung und Erleichterung, niederknien wollen und nach der Hand des Großbauern gegriffen, aber diese Geste war unüblich und Magnus hielt ihn fest und zog ihn auf die Füße. Er hörte mit gesenktem Kopf zu, während der Mann hastig berichtete. Dabei wies er immer wieder mit dem Arm Richtung Küste und Enno sah, dass der Reiter jetzt weinte. Er sah, wie sein Vater den Mann beruhigte, ihm tröstend die Hand auf die Schulter legte und sah nun auch den langen Adriaan mit den anderen rennend aus den Häusern zurückkommen, alle mit Kopfhauben und Langwaffen. Der lange Holländer schleppte immer noch seinen Lanzenspieß und seine Panzerweste war noch offen. In der anderen Hand trug er die Ausrüstung seines Vaters, das Schwert, das Wams aus schwerem Leder mit Eisenplatten über der Brust und die Kampfhaube. Er schrie und tobte und fluchte in einem fort, alles ging ihm nicht schnell genug, bis Magnus ihn mit einem scharfen Befehl zum Schweigen brachte.

Magnus tom Diek war ruhig und besonnen und es war klar, unnötige Hast war nun eher schädlich. Anscheinend war der Trupp der Angreifer nicht allzu stark, kaum mehr als fünfzehn Leute, so viel hörte Enno jetzt und sein Vater verwarf den Plan, weitere Männer aus dem Kirchspiel zu alarmieren. Sie waren über dreißig, alle gut beritten und bewaffnet und sie trauten sich wohl zu, die Sache allein in Ordnung zu bringen. Magnus streifte sich das Wams über und griff nach Schwert und Haube. Gleichzeitig gab er seine Befehle. Die meisten der Männer waren schon wieder zu Pferde.

»Wir bleiben zusammen!« Er wies auf den Bauernreiter. »Dieser Mann, er heißt Addo, wird uns führen. Wir gehen zum Platz des Überfalls, um uns ein Bild zu machen.« Er wischte sich über die Stirn. »Danach suchen wir die Gegend ab. Dazu Befehle, wenn es so weit ist. Ich will die Schweine haben. Keine Eigenmächtigkeiten. Ihr tut nur, was ich euch sage!« Dann saß er auf und wandte sich zum Turm. »Tjarko, du bleibst mit Enno hier. Die Frauen, Kinder und Alten in die Häuser. Solltest du Hilfe brauchen, gibst du Feuersignal, hast du verstanden?« Er zeigte auf die Grube mit feuchtem Heu in der Hofmitte und der Pferdeknecht nickte. Der Redjeve8 hob die Hand und sie donnerten davon Richtung Küste, Magnus und der Bauernreiter vornweg. Der lange Adriaan, am Ende, mühte sich schreiend und mit Hieben, seinen riesigen Zossen schnell zu machen.

*

Es war schon später Nachmittag, als sie zurückkehrten, alle unversehrt, aber verdreckt und müde, die Pferde am Ende ihrer Kräfte. Enno stand immer noch mit Tjarko auf dem Turm und sah sie kommen; der Pferdeknecht schlug wieder an das Alarmholz, um den Hof auf die Beine zu bringen. Der Schollenherr stieg schweigend und steif vom Pferd und teilte sofort eine Mannschaft ein, um die am Morgen begonnene Arbeit fortzusetzen. Sie wechselten die Tiere, aßen – schon wieder im Sattel – hastig einen Kanten Brot, die Frauen reichten Krüge mit Bier. Und dann brachen sie wieder auf, kaum, dass der Schollenherr ein Wort gesprochen hatte. Enno wusste überhaupt nichts, er brannte vor Neugier und Ungeduld, aber er musste bis zum Abend warten.

Es war der lange Holländer, Adriaan, der ihm auf der Tenne ausführlich berichtete. Die Familie des Bauern und das gesamte Gesinde waren wie üblich zum gemeinsamen Nachtmahl versammelt. Magnus saß mit seiner Frau an der Kopfseite des Tisches und aß schweigend sein Brot mit Biersuppe, dazu kalten Braten und Emmergrütze. Enno hatte es nicht zwischen den Eltern ausgehalten. Sein Vater sprach nicht eine Silbe von dem Überfall, und so hatte Enno sich neben den Langen gezwängt und löcherte ihn.

Viel war aus Adriaan nicht herauszuholen gewesen. Jawohl, sie hatten den überfallenen Hof gefunden, auch ein paar Tote hatten sie begraben. Nachfragen des Jungen wies er brüsk zurück. Erst später erfuhr Enno von der nackten Frauenleiche, die man an einem Seil auf das Scheunendach gezogen hatte, bevor das Haus in Brand gesetzt wurde. Der Körper der Frau war fast verbrannt, aber das Geschlecht noch zu erkennen. Auch tote Kinder hatten sie gefunden, schrecklich zugerichtet, und das war wohl der Grund für die mürrische Schweigsamkeit des Schollenherrn bei seiner Rückkehr gewesen. Ebenso schrecklich wie sonderbar war die unnötige Grausamkeit, mit der die Angreifer vorgegangen waren. Es genügte ihnen nicht, Beute zu machen. Sie wollten, so wie früher die Normannen, ihre Mordlust ausleben.

Wie durch ein Wunder hatte ein erwachsener Sohn des Bauern überlebt, er war beim Fischen gewesen und zum Zeitpunkt des Überfalls nicht auf dem Hof. Er traute sich zu, mit einigen Leuten aus seiner Familie das Land weiter zu bewirtschaften und Magnus tom Diek hatte ihm Ersatz für das gestohlene oder in sinnlosen Verstümmelungen getötete Vieh versprochen. Zumindest einen Grundstock, zwei oder drei Kühe und einen jungen Stier, mit denen der junge Bauer eine neue Herde aufbauen konnte.

Von den Angreifern selbst war keine Spur zu finden, auch das Schiff blieb verschwunden. Es war ihnen offensichtlich ausreichend Zeit geblieben, sich mit ihrer Beute abzusetzen. Ennos Vater hatte trotzdem zur Warnung zwei Boten in die angrenzenden Kirchspiele geschickt. Dann sei man zum Rückweg aufgebrochen.

So war das gewesen. Eine unliebsame Überraschung hatten sie dann auf dem Heimweg erlebt. Auf halbe Strecke sei man in den Marschwiesen nördlich Eesensem einem fremden Reitertrupp begegnet.

Enno hob den Kopf. »Wer war das?«

Der lange Adriaan trank bedächtig einen mächtigen Schluck aus seinem Wasserkrug. Dann wischte er sich über den Bart und spuckte auf den Tennenboden. »Hylmerisna!« Es klang wie ein Fluch.

Enno erschrak. »Keno Hylmerisna? Der Brokmanne?«

»Genau der!«, bestätigte der lange Holländer. »Und zwar auf dem Grund und Boden deines Vaters. Unaufgefordert. In einer Landgemeinde, die ihn einen Dreck angeht. Mit mindestens zwanzig Leuten! Sogar sein Sohn Ocko war dabei. Alle bewaffnet und gerüstet. Viele davon, ihn selbst eingeschlossen, in Eisenwesten.«

Enno lehnte sich zurück. Er hörte sein Herz schlagen. Natürlich kannte er Hylmerisna. Er war ihm in Begleitung seines Vaters bei der Weihe der Kirche von Werdum begegnet. Er erinnerte sich an das rötliche, bereits dünne Haar, den kalten, forschenden Blick aus wasserhellen Augen und die unreine Gesichtshaut. Und auch an die übertriebene, aufgesetzte Freundlichkeit des Mannes und die reservierte Zurückhaltung seines Vaters. Keno war einer der Redjeven der Broeckmerlande9 und stand in dem Ruf, ehrgeizig und rücksichtslos in der Verfolgung seiner Interessen zu sein. Es schien ihm auch schwerzufallen, sich nach dem Amtsjahr als Richter von der Macht zu trennen, wie es der Umgang erforderte. Er besaß ein Steinhaus bei Utengherbur10, das auch Buta Ee oder Engerhoffe hieß, und setzte sich damit über ein altes Gesetz der Brokmannen hinweg, das einen solchen Besitz nicht erlaubte.

Das Haus stand auf einem Warfenhügel, um den er noch einen Graben gezogen hatte, natürlich zur Entwässerung, aber die Anlage machte ihn hinter den Mauern nahezu unangreifbar. Manchmal hielten sich wochenlang Bewaffnete auf seinem Anwesen auf, Leute, die niemand kannte und die nicht auf den Feldern arbeiteten. Sie lungerten herum, saßen in der Sonne und tranken Bier, fast alle in Eisenjacken und jeder ständig mit Schwert und Dolch gegürtet. Hylmerisna nannte sie Gäste, aber es hielten sich böse Gerüchte, dass diese Männer eher dazu da waren, die Nachbarn einzuschüchtern, die sich unwohl fühlten, wenn die Fremden auf dem Hof waren. Es gab auch einen Vorfall aus dem letzten Herbst, als Keno Hylmerisna einen benachbarten Besitz aufgesucht hatte, um eine alte Schuld einzutreiben.

Der Bauer hatte zwei katastrophale Jahre hinter sich gehabt. Schwere Unwetter hatten ihm große Teile seiner Äcker verwüstet und zu allem Überfluss war ihm Vieh in einem Schlot ersoffen. Kenos Forderung bestand grundsätzlich zu Recht. Sie war der Gegenwert zu einer Fuhre Saatgut und ein paar Kühen, die er dem Mann überlassen hatte. Aber dann kamen weitere Missernten auf kargen Böden und der Bauer konnte die Summe von drei Mark Silber nicht aufbringen. Den Vorschlag des Brokmannen, ihn statt dessen mit einem Stück Land zu bezahlen, lehnte der Mann ab, weil er wusste, dass Hylmerisna ihn schließlich auf eigener Erde zum Abhängigen machen wollte.

Diesmal tauchte Keno mit den Bewaffneten auf. Sie donnerten auf den Hof, taten weiter nichts, verbreiteten nur durch ihre Anwesenheit Angst und Schrecken und der Bauer, bleich wie der Tod, willigte sofort in die Landübergabe ein. Keno ließ sich einen dürren Geestrücken überschreiben, sandig und zur Landwirtschaft nur bedingt nutzbar, aber er erweiterte damit seine Ländereien in Richtung Emesingerland und Noerderlant11, Gebiete, in denen er seinen Einfluss zu vergrößern gedachte.

Man hörte so einiges von Keno Hylmerisna. Viel Gutes war nicht darunter, wusste Enno. Auch aus den gelegentlichen Bemerkungen seines Vaters konnte man schließen, dass der Brokmanne auf dem besten Wege war, seine Landgemeinde unter seine Herrschaft zu zwingen, und dem Vernehmen nach dachte er nicht daran, es dabei bewenden zu lassen. Ein Satz fiel Enno wieder ein, abends nach der Arbeit in der Männerrunde auf der Tenne hingeworfen, eher beiläufig, aber doch so inhaltsschwer, dass er augenblicklich für Ruhe sorgte. »Dieser Mann wird mit seiner verdammten Machtgier noch Unheil über uns bringen!«, hatte Magnus gesagt. Enno erinnerte sich, wie erschrocken er gewesen war, und auch die anderen, die mit großen Augen starrten und auf weitere Erklärungen warteten, aber es kamen keine. Sein Vater hatte nur noch geschwiegen.

Und nun also trieb sich Keno Hylmerisna in ihrer Landgemeinde herum. Bewaffnet und mit seinen Leuten. Enno richtete sich auf. »Was wollte er dort?«

Adriaan sah ihn spöttisch an. »Was wird er schon gewollt haben. Seinen Schweinerüssel in fremde Angelegenheiten stecken. Einfluss nehmen. Mitmischen. Einfach da sein!« Adriaan lehnte sich zurück, senkte seinen langen Oberkörper gegen die Flechtwand der Tenne und streckte mit einem Stöhnen die staksigen Beine aus. Als er weitersprach, troff seine Stimme vor Sarkasmus. »Hat natürlich Hilfsbereitschaft geheuchelt. Hätte von dem Überfall gehört und wollte nachsehen, ob Verstärkung gebraucht wird. Jeder wusste, dass das eine dumme Ausrede war, ein vorgeschobener Grund. Na, der Schollenherr war sehr erfreut, wie du dir denken kannst!«

Enno sah zu seinem Vater hinüber. Magnus sprach ernst und düster mit seiner Frau. Seinen Teller hatte er halbleer von sich geschoben. »Was hat er gesagt?«

»Gesagt?« Der lange Holländer lachte freudlos. »Ich glaube, er hat es eher ausgespuckt!« Er schüttelte den Kopf und seine Augen waren plötzlich voller Bewunderung. »Aber sehr fein, verstehst du, er hat die nötige Form gewahrt, so, dass der Brokmanne sich nicht angeschissen fühlen konnte. Aber natürlich hat er ihn angeschissen!« Er griff sich ein Stück kaltes Fleisch von der Platte und biss hinein. »Sagte, er danke herzlich. Aber auf seinem Land könne er selbst für Ordnung sorgen«, fuhr er kauend fort und spülte mit Wasser nach. »Und wenn er auf seinem Land Hilfe brauche, dann werde er darum ersuchen. Und die Landgemeinde Hairlingerlant, in der er, wie Hylmerisna wohl wisse, einer der Redjeven sei, der amtierende noch dazu, käme schon alleine zurecht, so etwa!« Er grinste. »War schon eine Sache. Er hat dem Brokmannen öffentlich die Eier gequetscht, ohne ihm weh zu tun.«

Enno fuhr sich mit der Zunge über die trockenen Lippen. Er hatte ein ungutes Gefühl, konnte aber nicht sagen, warum. »Und was hat der Brokmanne getan? Keno Hylmerisna. Was hat er gemacht?«

Der lange Adriaan grinste jetzt breit. »Gemacht? Nichts. Was sollte er denn tun? Hat deinen Vater ›Bruder‹ genannt, noch mal etwas von Nachbarn und Hilfe gesagt, seinen Kopf artig geneigt und ist davon, seine Truppe wie ein Rudel hungriger Wölfe hinterher.« Er wandte den Kopf und sah Enno an. »Freunde werden die beiden wohl nicht mehr, Gott weiß es!«

*

Eine Woche später verletzte sich der alte Tryggve bei der Arbeit an den Brennholzvorräten. Er war seit Urzeiten auf dem Hof, war irgendwann aus dem Norden gekommen, allein und völlig ausgehungert, und hatte in gebrochenen Worten nach Arbeit gefragt. Magnus’ Vater hatte ihn aufgenommen, weil ihm kurz zuvor ein Knecht gestorben war. Tryggve war offensichtlich Däne, vermutlich Seeräuber, er hatte verräterische Kampfnarben an Brust und Armen, aber er konnte mit Pferden umgehen und war auch sonst anstellig.

An diesem Morgen war Tryggve nach dem Frühstück wie gewöhnlich auf den Abtritt geschlurft, um sich von seiner Biersuppengrütze zu erleichtern, und hatte sich dann an sein übliches Tagwerk gemacht. Er arbeitete mit einem Hebeleisen, um überlange starke Äste so zu kürzen, dass die Herrin sie für die Feuerstelle im Haus verwenden konnte. Dabei brach ein trockener Buchenast so unglücklich, dass ihm ein daumendicker, fast handlanger Splitter in den linken Unterarm fuhr und dort stecken blieb. Das stumpfe Ende saß oben zwischen Handwurzel und Ellenbogen, die Spitze sah unten heraus. Er ließ niemanden an die Wunde heran, auch die Herrin nicht, zog sich in seine Hütte zurück und wartete bis zum Abend auf die Rückkehr der Männer von den Feldern. Almeth tom Diek stellte ihm einen Krug Bier neben das Lager und bedeckte den Arm mit einen Tuch aus sauberem Linnen, mehr erlaubte der Alte nicht.

Als Magnus und Adriaan am Abend mit den anderen auf den Hof zurückkehrten, war Tryggve noch bei Bewusstsein, aber es ging ihm schon sehr schlecht. Mit seinem harten, nordischen Akzent berichtete er in heiseren und abgehackten Wortfetzen von seinem Missgeschick, stieß immer wieder ein raues, rasselndes Lachen aus und was er sagte, war kaum zu verstehen. Der Arm war inzwischen derart angeschwollen, dass der Splitter im Fleisch verschwand. Nur die Wundränder zeigten die Stellen, an denen er eingedrungen war. Die Wunde nässte stark, blutete noch immer leicht und sonderte einen strengen Geruch ab. Es war klar, sie mussten das Holz entfernen, aber weder Magnus noch Adriaan hatten je dergleichen getan.

Sie ließen sich von Almeth nochmals genau erklären, wie der Splitter saß. Danach hatten sie zwei Möglichkeiten; entweder das Holz vollends durch die Wunde zu treiben und so zu entfernen, was ohne Zweifel den Wundkanal vergrößerte. Oder den Splitter entgegen der ursprünglichen Bewegungsrichtung herauszuziehen. Diese Methode konnte ebenfalls zu weiteren Verletzungen führen, wenn das Holz unregelmäßig geformt war und Widerhaken aufwies. Sie entschlossen sich nach kurzer Überlegung, das Holz rückwärts herauszuziehen.

Während Adriaan von einigen Knechten die notwendigen Vorbereitungen treffen ließ, beugte sich Magnus zu dem Alten hinunter. »Wir müssen den Splitter herausziehen, Tryggve, verstehst du?«

Der alte Mann hatte ihre Beratung mit stumpfem Blick verfolgt. Sein Fieber war hoch und er hatte starke Schmerzen. Er nickte und öffnete den Mund zu einem flachen Röcheln.

»Wir müssen schneiden, Tryggve, damit wir an den Splitter herankommen, hast du verstanden?«

»Ja, Herr!« Der Knecht senkte gehorsam den Kopf und beobachtete, wie Adriaan die Hufzange zurechtlegte und das Messer aus dem Feuer zog.

Magnus hob den Bierkrug an Tryggves Lippen. Der Alte trank, aber seine Augen ließen das Messer nicht los, mit dem sich der lange Holländer jetzt näherte. Die Knechte traten hinzu und hielten den alten Mann fest, während Magnus ihn in die Arme nahm und die Hand auf seine Augen legte.

Beim ersten Schnitt stieß Tryggve einen heulenden Schrei aus und bäumte sich auf, bevor er das Bewusstsein verlor. Der zweite Schnitt legte den oberen Rand des Splitters frei, das geschwollene Fleisch stand so unter Spannung, dass es zur Seite wegplatzte und die Wunde sich öffnete. Während die Knechte den Arm fixierten, zerrte Adriaan mit der Hufzange leise fluchend an dem Splitter. Das Holz war, wie befürchtet, unregelmäßig gebrochen und hakte an den Wundrändern fest. Als Adriaan es endlich lösen konnte, schoss ein Schwall schwärzlichen Bluts hervor und für kurze Zeit war das blitzende Weiß der Elle zu sehen. Almeth wusch die Wunde mit Bier aus und versorgte sie anschließend mit erhitztem Emmeröl, denn etwas anderes wusste sie nicht. Dann verband sie den Arm mit sauberen Streifen aus gebleichtem Linnen. Einer der Knechte blieb bei Tryggve hocken, der immer noch ohnmächtig war.

Spät in der Nacht kam Magnus, um nach dem alten Tryggve zu sehen. Er brachte eine Schale mit Mus aus gekochten Pferdebohnen und einen frischen Krug Bier. Der Knecht berichtete, dass der alte Mann immer wieder kurz bei Bewusstsein sei. Er habe nichts gegessen oder getrunken, leide starke Schmerzen und auch das Fieber schiene höher als zuvor. Magnus musste den Verband lösen, denn der Arm war weiter angeschwollen und der Stoff schnitt in das Fleisch. Als er die Wundstelle freilegte, waren die Ränder stark gerötet und es hatten sich weiße Blasen gebildet. Tryggve atmete hechelnd zwischen den Zahnstummeln hindurch, sein Gesicht war angespannt und kantig vor Schmerzen. Als Magnus die Wunde berührte, fuhr der alte Mann mit einem tiefen Stöhnen in die Höhe und starrte blicklos ins Leere. Aber sofort danach rutschten die Augäpfel nach oben weg, so weit, dass nur noch das Weiße zu sehen war, und der Kopf sank ihm auf die Brust.

In den folgenden zwei Tagen verschlechterte sich Tryggves Zustand erheblich. Der Arm wurde dunkel und brandig, schwoll weiter auf und die Wunde sah aus wie ein aufgeplatzter Pferdeapfel. Sie sonderte jetzt einen starken Fäulnisgestank ab und es war klar, dass der alte Mann diese Verletzung nicht überleben würde. Tryggve redete irre unter hohem Fieber, stieß immer wieder furchtbare Schreie aus, die dann in ein flaches, gehetztes Flüstern abfielen, heisere Wortfetzen in einer Sprache, die niemand verstand. Er war dem Tod schon sehr nahe.

Am Abend befahl Magnus einem der Knechte, den Priester des Kirchspiels zu holen. Es war bereits weit nach Mitternacht, als Bruder Ludgerus erschien. Er war ein Benediktiner aus dem Kloster Marienkamp. Sein unruhiges, streitbares Wesen hatte innerhalb der Bruderschaft stets für Unfrieden gesorgt, und so war der Abt Hilderaad froh gewesen, ihn auf den Posten des Gemeindepfarrers loszuwerden, als der Amtsvorgänger im Winter 1341 von einer marodierenden Bande im Rausch erschlagen worden war. Unter der Führung des amtierenden Redjeven hatte man die Täter festgesetzt und zwei von ihnen hingerichtet, weil sie die für Totschlag festgesetzte Geldbuße nicht aufbringen konnten. Die übrigen, Söhne reicher Familien, hatten ihr Friedensgeld bezahlt und die Summe war dem Verfahren entsprechend an den Erzbischof von Brema12 abgeflossen. So weit hatte alles seine Ordnung. Die Kirche stand auf Land der Familie tom Diek, aber Magnus verzichtete auf sein Patronatsrecht13 und überließ die Benennung dem Abt des Klosters.

Als dieser Bruder Ludgerus als neuen Pfarrer des Kirchspiels einsetzen wollte, war es zu einem Eklat gekommen. Die Richter der Landgemeinde hatten sich nach vergeblichen Versuchen, Hilderaad umzustimmen, an den Erzbischof von Brema gewandt, um die Amtseinsetzung des Benediktiners zu verhindern. Sie wollten einen friedfertigen, auf Ausgleich bedachten Geistlichen und nicht diesen widerborstigen Querulanten. Besonders Magnus tom Diek als betroffener Schollenherr hatte sich dafür stark gemacht, nach einer anderen Lösung zu suchen.

Aber es war ein Fehler gewesen, den Kirchenfürsten einzuschalten. Burkhard Grelle hatte die Gelegenheit genutzt, seine schwache Position in diesem Teil seines Bistums zu stärken. Der Anlass war günstig, Einfluss und damit letztlich Macht der Kirche im Osten der Diözese mehr Geltung zu verschaffen. Zunächst hatte er die Abordnung ohne jede Erklärung in einem unbeheizten Vorzimmer warten lassen. Es war ein bewusster Affront, so viel war ihnen klar und sie waren schon entschlossen gewesen, die Sache zu beenden. Dann hatte er sie schließlich empfangen, blasiert und unhöflich auf seinem Erzbischofsstuhl, einen roten Mantel mit Pelzkragen um die schmalen Schultern gezogen. Er trank erhitzten, geharzten Wein, hielt es aber nicht für nötig, davon anzubieten. Den Kammerdiener hatte er mit einer herrischen Handbewegung aus dem Raum gescheucht. Dann hatte er sie mit kalten Fischaugen gemustert und hatte, ohne sie auch nur anzuhören, klargemacht, dass die Besetzung der Pfarrersstelle eine Entscheidung der Kirche sei. Punktum. Nichts weiter. Als es schließlich Magnus war, der Einwände erhob, wandte sich der Kirchenfürst schroff an ihn.

»Du hast dein Patronatsrecht an Abt Hilderaad abgetreten, wie ich höre. Schön. Eines solltest du wissen: Ein Vorschlagsrecht birgt das Recht, einen Vorschlag zu machen. Mehr nicht!« Er lehnte sich in seinem Erzbischofsstuhl zurück und drehte sein Weinglas in den Händen. Auf seinen Lippen stand ein spöttisches Lächeln, aber seine Augen blieben kalt. »Ich wundere mich besonders über dich, Magnus tom Diek. Da du meines Wissens trotz Taufe keinen Trost in den heiligen Sakramenten unseres Herrn Jesus Christus suchst, leugne ich dein Recht auf Mitwirkung an dieser Entscheidung. Woher also nimmst du die Stirn, im Namen der Gemeinde zu sprechen?«

Magnus hatte ganz ruhig das hoffärtige Gesicht gemustert, diesen mitleidlosen, unbarmherzigen Blick, und war dann einen kurzen Schritt näher getreten. »Meine Familie lebt christlich, dafür sorgt schon meine Frau. Und ich fördere die Kirche in meinem Kirchspiel. Wie Ihr wisst, Herr. Ich werde die christlichen Riten vollziehen, wenn ich so weit bin!«, hatte er geantwortet und in dem Raum war es totenstill geworden. Und in diese Stille hinein war Magnus fortgefahren: »Da Ihr selbst, Herr, meines Wissens ein Weltlicher und ohne Priesterweihe auf diesen Stuhl gekommen seid und nun entscheidet, wird Euch bewusst sein, dass die Gemeinde ihre Wünsche nicht angemessen berücksichtigt sieht!«

Da war Grelle nach vorn geschossen. »Die Kirchengemeinde? Die Glieder der Kirche in deinem Kirchspiel? Oder ihr? Oder du, Magnus tom Diek? Der Abt von Marienkamp übt, zumal du verzichtet hast, nach dem Kirchengesetz das Patronatsrecht aus. Er hat entschieden. Ich bestätige hiermit seine Entscheidung!«, hatte er mit eiskalter, scharfer Stimme geantwortet, viel lauter als nötig, und sich dann in seinen Stuhl zurückgeworfen, so heftig, dass die Lehne ächzte. Magnus hatte zu einer Entgegnung angesetzt, aber Burkhard Grelle hatte mit einer herrischen Armbewegung das Gespräch beendet.

Inzwischen war Bruder Ludgerus seit gut drei Jahren Pfarrer des Kirchspiels und die Befürchtungen der Gemeinde hatten sich bestätigt. Ludgerus war insgesamt das Gegenteil eines wohlmeinenden, Wärme und Geborgenheit vermittelnden Hirten seiner Herde. Selbstverständlich wusste er, dass unter den Redjeven vor allem Magnus tom Diek ihn abgelehnt und gegen ihn interveniert hatte, was ihr persönliches Verhältnis zusätzlich belastete. Auch jetzt war er in übelster Laune, man hörte ihn schon am Tor fluchen und schimpfen. Er hockte auf seinem Maultier und stieg auch nicht ab, als Magnus ihn vor der Hütte empfing.

»Was ist es, Herr, das dich veranlasst, mich mitten in der Nacht aus dem Bett zu holen?«, fragte er vorwurfsvoll und wischte sich mit dem Ärmel seiner Kutte schniefend über das schweißnasse Gesicht. »Begehrst du endlich, zu beichten oder den Leib des Herrn zu empfangen, oder willst du meiner erbärmlichen Kirche, die immer noch keine Glocke hat, endlich ein festes Dach …«

Mit einer Handbewegung brachte ihn Magnus zum Schweigen.

»Unser Herr Jesus Christus und seine Apostel haben ihres Gottes Wort unter freiem Himmel verbreitet und du hast eine Kirche!«, erwiderte er hart und wies mit dem Daumen auf das Haus. »Wir haben hier einen sterbenden Mann, der deinen Beistand braucht. Also bewege dich und tue deine Pflicht! Und erinnere dich gelegentlich daran, mit wem du sprichst, Priester! Ich bin der Schollenherr deiner Gemeinde. Deine Kirche steht auf meinem Acker, du reitest ein Maultier aus meinem Stall und ernährst dich von meinen Feldern!«

»Und der Gnade des Herrn«, entgegnete Ludgerus aufsässig, stieg mürrisch von seinem Reittier und folgte Magnus zögernd in die Hütte.

Das Licht war spärlich, es brannten nur einige Kienspäne in der Ecke und stechender Geruch stieg ihnen in die Nase. Viel Gesinde war um das Lager versammelt, und auch Almeth, die Herrin, Enno und Adriaan, der lange Holländer.

Als er näher trat und den alten Tryggve erkannte, prallte der Mönch zurück. »Nein! Nicht dieser Mann! Er ist Heide und kein Christ!«, keuchte er und wollte sich wegdrehen.

Er sah den Schlag nicht kommen, so schnell war er geführt, halb Griff an die Kutte, halb Hieb gegen den Hals, und der lange Holländer packte ihn und hielt ihn fest.

»Er ist ein Mensch« sagte Magnus ruhig. »Wenn du willst, dann taufe ihn, aber du wirst ihn segnen und ihm die Sakramente spenden.«

Mit einer zornigen Bewegung schüttelte Ludgerus die Faust des langen Adriaan ab, der ihn immer noch gepackt hielt, und wandte sich dem Lager zu. Sein Arm stieß wie ein Schwert auf den Sterbenden hinab, aber er sah ihn nicht an. »Weißt du denn nicht, wer das ist? Das ist doch auch einer von diesen Hunden, die Frauen Gewalt antun, Männer erschlagen, Kinder als Sklaven verkaufen und Höfe abbrennen. Er ist es nicht wert, hörst du, er ist es nicht wert, der Gnade Gottes teilhaftig zu werden!«, geiferte er mit sich überschlagender Stimme und Enno sah die Speichelfäden zwischen seinen Lippen. In der Hütte war es jetzt totenstill und plötzlich sah Enno auch, dass Tryggve bei Bewusstsein war und die Augen offen hatte. Er war ganz ruhig, schien in diesem Augenblick keine Schmerzen zu spüren und sah den Priester unverwandt an.

»Es ist der alte Tryggve, mein treuer Knecht, der jetzt auf den Tod liegt und jeden Trost braucht, den er bekommen kann. Auch deinen!«, hörte Enno seinen Vater sagen, langsam, fast bedächtig und mit sanfter Stimme, aber seine Augen waren wie Dolche. Einen Moment lang standen sie sich schweigend gegenüber, fixierten sich, bis der Mönch den Blick senkte und sich neben Tryggve niederhockte.

»Verstehst du mich?«

Der alte Nordländer senkte und hob die Augenlider.

»Willst du getauft werden?«

»Ja«, sagte Tryggve jetzt sehr klar. Danach schüttelte ihn ein heftiger Schmerzkrampf, er ermattete zusehends und verfiel schließlich in einen tiefen Dämmerzustand.

Ludgerus taufte ihn auf den Namen Johannes. Er tat es hölzern und unbeteiligt. Mit einer herrischen Armbewegung hatte er zuvor die Umstehenden zum Knien aufgefordert, aber nur wenige waren ihm gefolgt. Almeth bereitwillig, Magnus mit Zögern und auch Enno und einige andere. Der lange Holländer war mit finsterem Gesicht stehen geblieben.

Danach hastete der Benediktiner durch ein Paternoster und wandte sich schließlich dem Glaubensbekenntnis zu. »Credo in unum deum patrem omnipotentum«, sagte er kalt und ohne Betonung, begleitet von Almeth und Teilen des Gesindes. Der Mönch blickte zur Seite und vermied jeden Augenkontakt mit dem Sterbenden. Die Kienspäne waren inzwischen heruntergebrannt und der Raum so dunkel, dass man nur noch Umrisse erkannte. »… descendit de coelis et incarnatus est de spiritu ex maria virgine …«, murmelte Ludgerus und einer der Knechte zündete weitere Kienspäne an, die ein diffuses Dämmerlicht auf das Lager warfen. Tryggve lag jetzt wie tot, sein Gesicht war von einer wächsernen Blässe, die Lippen spröde und schuppig wie ausgedörrtes Leder. »… et expecto resurrectionem mortuorium et vitam venturi saeculi. Amen«, schloss der Benediktiner fast widerwillig, ignorierte die zornigen Blicke, langte in den von Almeth hingestellten Fettkrug, über den er vorher achtlos das Kreuz geschlagen hatte. Als er den heiligen Ritus der Sterbesakramente vollzog, war seine Stimme flach und ausdruckslos.

»Durch diese heilige Salbung und durch seine mildreiche Barmherzigkeit verzeihe dir der Herr, was du gesündigt hast durch Sehen, Hören, Reden, Riechen, Tasten und Tun«, sagte er mit halber Stimme. Er legte seine Rechte segnend auf Tryggves Augen, Ohren, Nase, Mund und wiederholte die Worte bei jeder Berührung. Dann stand er auf und warf dem Hausherrn einen auffordernden Blick zu, ganz so, als schiene er auf etwas zu warten.

Aber bevor Magnus reagieren konnte, trat Almeth hinzu und maß den Mönch mit Augen, die dunkel waren vor Zorn. »Du bekommst dein Geld, wenn er beerdigt ist. Deine heutigen Dienste waren jedenfalls keine Bezahlung wert!«

Ludgerus wischte sich fahrig über seine schwarze Kutte. In der zunehmenden Dunkelheit waren seine Augenhöhlen wie die Löcher in einem Totenschädel. »Bedenke, Herrin, dass es immer gottgefällig ist, der Kirche zu geben«, murmelte er dumpf, aber Almeth hatte sich schon zu Tryggve gehockt und reinigte ihm mit einem feuchten Linnen das Gesicht.

In dieser Nacht starb der alte Tryggve. Er wurde einen Tag später auf dem Kirchhof hinter der Kapelle begraben. Es war kalt, die Erde war noch fest gewesen und die Knechte hatten Mühe gehabt, die Grube auszuheben. Während des Begräbnisses fiel immer wieder von scharfem Westwind getriebener eisiger Schnee. Ludgerus begann mit der Zeremonie, noch bevor die Gemeinde vollständig versammelt war. Mit ungebührlicher Hast eilte er durch den Ritus und warf immer wieder giftige Blicke auf das Runenholz, das Magnus in seinen Gürtel gesteckt hatte. Es war uralt, glänzend poliert und mit einem massiven Silberring in der Mitte, schon seit Generationen in der Familie. Magnus tom Diek hielt es nicht für unpassend, das Holz bei der Beerdigung des alten Tryggve, der jetzt Johannes hieß, bei sich zu tragen.

Der Leichnam war in eine Schilfmatte eingeschlagen, die Enden hatte man mit Stricken verknotet. Das Bündel war nicht viel größer als bei einem Kind. Während die Knechte den alten Tryggve in die Grube senkten, führte Magnus das Runenholz an Brust und Stirn, wie es seine Vorfahren getan hatten, und in den Augen des Benediktiners stand blanke Wut. Eine stürmische Böe fuhr plötzlich auf und riss dem Mönch die Worte von den Lippen, legte sich, kehrte zurück und zerrte an den Kleidern. Niemand wusste später genau zu sagen, was sich zugetragen hatte, aber Enno schwor, Bruder Ludgerus habe über der offenen Grube das Kreuz geschlagen, und dabei habe sich der schwarze Habit drohend aufgebläht wie die Schwingen eines unheimlichen Riesenvogels und die segnenden Arme hätten gewirkt wie zupackende Klauen. Niemals in seinem Leben werde er diesen Anblick vergessen.

Am Ende umringte die Gemeinde das Grab, um von dem alten Tryggve Abschied zu nehmen und Ludgerus trat ungerührt zur Seite. Magnus bezahlte ihn mit einem halben Pfennig hamburgisches Silber, den der Mönch gierig und ohne Dank ergriff und in den Falten seiner Kutte verschwinden ließ. Dann wandte er sich wortlos ab und stapfte in seine Kirche.

Den folgenden Sonntag kniete Magnus tom Diek schon kurz nach Tagesanbruch in seiner Bank vor dem Altar. Bruder Ludgerus maß ihn mit einem erstaunten Blick und sah ihn den Beichtstuhl betreten. Der Mönch kam herüber, verhüllte wortlos sein Haupt mit der Kapuze und nahm Magnus das Sündenbekenntnis ab. Seine Stimme blieb unbeteiligt, aber Magnus spürte die Augen des Priesters durch das Sichtgitter kalt und forschend auf sich gerichtet. In der Messe empfing Magnus tom Diek zum ersten Mal in seinem Leben den Leib des Herrn.

4) Esens

5) Gerodete Waldflächen, als Viehweide benutzt

6) auch: »Eigenerbe«: Bauer mit eigenem Land, das durch Vererbung in Familienbesitz verblieb.

7) auch Knarr: Hochseetüchtiges Schiff, wurde mit einer Besatzung von etwa 10 bis 15 Mann gefahren.

8) gewählter Richter

9) Brookmerland, auch Brokmannia

10) Engerhafe, Kreis Aurich

11) Emsigerland, Landgemeinde an der oberen Ems und Landgemeinde Norderland.

12) Bremen

13) Vorschlagsrecht zur Ernennung von Geistlichen, hier: Dem Pfarrer einer Kirchengemeinde. Stand in der Regel dem Besitzer des jeweiligen Landes zu, auf dem dir Kirche stand. Das letzte Wort zur Ernennung und Investitur hatte allerdings der zuständige Kirchenfürst, also der Erzbischof der Diözese.

Friesische Herrlichkeit

Подняться наверх