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ОглавлениеWer durch Machtgier oder Eigensucht den Umgang unterbricht und damit die Freiheit der Friesen bedroht, geht aller Ämter verlustig, namentlich derer als Richter oder Gerichtsherr. Verstöße gegen die Friedenspflicht hieraus mit Folgen für Haut, Haar oder Blut ziehen die Leibstrafe nach sich und können mit Wergeld nicht gesühnt werden.
Primküre des Magnus tom Diek
Upstallesbame, Auwreke,
den fünften Tag nach St. Johannis, Anno Domini 1345 (Mittwoch, 11. Mai), vor dem Angelusgebet am Mittag
Enno erwachte mitten in der Nacht. Das Feuer war heruntergebrannt, in der Grube gloste nur noch ein Rest Glut. Wer immer auch aus der Delegation zur Feuerwache eingeteilt war, er legte nicht nach und es würde am Morgen Ärger geben, wenn die Grütze zum Frühstück nicht warm gemacht werden konnte.
Es fiel ein leichter Nieselregen. Er sah seinen Vater ruhig atmend unter seiner ölgetränkten Pferdedecke liegen. Der lange Adriaan und die anderen lagen verstreut um die Feuerstelle herum und schnarchten. Der alte Richter Tammo Kenesna und sein Handmann Garrelt lagen da wie gefällte Bäume, so wie sie lange nach Mitternacht einfach umgefallen waren, volltrunken, neben ihren noch zusammengefalteten Decken, der eine mit rasselndem Atem, der andere wie tot. Es war die übliche Sauferei geworden, teils aus Wiedersehensfreude, teils aus Gewohnheit. Aber Enno wusste von seinem Vater, dass beim Thing das Bier auch als Waffe eingesetzt wurde. Er hatte Magnus entgeistert angestarrt. »Als Waffe? Wie das?«
Und der Vater hatte gelächelt. »Mein Sohn, beim Thing geht es manchmal um wichtige Dinge. Da ist es gut, einen klaren Kopf zu haben. Und es ist noch besser, wenn andere eben keinen klaren Kopf haben, oder zumindest noch nicht, verstehst du? Achte einmal auf Keno Hylmerisna!«
Enno hatte begriffen. Und auf den Brokmannen geachtet. Es war schon augenfällig, wie großzügig der Richter aus Brokmannia mit dem Bier war, er, der sonst jeden halben Pfennig sechsmal umdrehte, bevor er ihn ausgab. Drei ganze Fuder hatte er spendiert, das Fuder zu zehn Kannen, und hatte alle zum Trinken ermuntert. Es war sofort nach dem Angelusgebet losgegangen mit dem Zechen.
Er hatte gesehen, wie sein Vater sich zurückgehalten hatte, wie die Äbte und ihre Mönche zwischendurch Wasser tranken, und auch der Brokmanne hatte noch spät am Abend klare Augen. Aber die meisten der anderen hatte es laufen lassen wie zu alten Zeiten. Und jetzt lagen sie da und röchelten die Sterne an. Doch das war es nicht, wovon Enno aufgewacht war. Vielleicht war es sein pochendes Herz, das ihm seltsam schwer in der Brust lag, seit Wiska, die Tochter des Oosterämbters, ihm erzählt hatte, dass sie versprochen war. Einem Kaufmannssohn aus Gruningenn. Aus reicher Familie. Hatte es mit heiterem Gesicht erzählt, wie es ihre Natur war, aber ihre Augen waren seltsam trübe gewesen in diesem Moment, sie strahlten nicht, es war, als läge ein Schatten auf ihnen. Er hatte einen kleinen Stich in der Brust verspürt, kurz und scharf, und plötzlich seinen Herzschlag gehört.
So wie jetzt. Aber da war noch ein anderes Geräusch, irgendwie fremd, kein Röcheln oder Grunzen, es passte nicht ins Bild und nach einer Weile wusste er, was er da hörte. Es waren Stimmen, erregte Stimmen, und sie kamen aus der Richtung, in der das Zelt der beiden Prälaten stand. Er schälte sich vorsichtig aus der Decke, legte Holz und Stroh nach, ging dann, um sein Wasser abzuschlagen, ein paar Schritte abseits, weg von den Schlafenden, und jetzt war es deutlich auszumachen. Eghardus’ Stimme, scharf und aufgebracht, und dazwischen, leiser, kaum zu verstehen, eine zweite, das musste Hilderaad sein. Er schloss seinen Hosenlatz und spähte hinüber. Vor dem Eingang zum Zelt konnte er schwarze Schatten erkennen. Sie sahen aus wie von einem Pflug aufgeworfene Erdraupen, aber er wusste, es waren Mönche, die dort unter ihren Decken lagen und schliefen.
Er war nun vollends wach und Wiska ging ihm durch den Kopf und er wusste, er würde ohnehin keine Ruhe finden. In dieser Nacht nicht mehr. Plötzlich packte ihn eine unwiderstehliche, brennende Neugier. Er schlug einen kleinen Bogen und näherte sich dem Zelt von der Seite. Als er an den schlafenden Mönchen vorbeischlich, kam ihm säuerlicher Bierdunst entgegen: Also hatten auch die frommen Brüder der Versuchung nicht gänzlich entsagen können. Der Eingang des Zeltes war offen, dahinter ein zweiter Vorhang leicht zur Seite gerafft. Er huschte hinein und kauerte sich in eine dunkle Ecke. Die Trennwand zwischen beiden Schlaflagern war hochgezogen und er sah, dass sich die Äbte verbittert knapp über Armlänge gegenüberstanden. Sie hatten einen Tisch in die Mitte geschoben, auf dem ein brennender Kienspan schwaches, dämmeriges Licht verbreitete. Es musste einer von vielen Kienspänen sein, das Gefäß, in dem er steckte, war voller Asche.
»Was hat mein Kloster damit zu schaffen?«, fragte Eghardus mit scharfer Stimme und der Benediktiner hob beschwichtigend die Arme.
»Gar nichts! Gar nichts, Bruder! Jedenfalls nicht direkt. Ich wollte doch nur euer Bestes.«
»Was für uns das Beste ist, entscheiden wir immer noch selbst«, sagte Eghardus ungerührt und strich sich die Kutte über seiner hageren Brust glatt. Sein Brustkreuz war aus Holz, es hing an einem ledernen Riemen.
»Die Investitur des Pfarrers in Eesensem war ja schon beschlossene Sache«, sagte Hilderaad beschwichtigend. »Es war von vornherein klar, dass es ein Benediktiner werden sollte. Der Erzbischof hatte es ja schon so festgelegt. Strittig war nur noch, welches Kloster ihn stellt.«
Eghardus richtete sich auf. In seiner Stimme schwangen Zweifel und Empörung. »Und warum wurde dann nicht mit mir gesprochen? Warum habt ihr, du und dein Erzbischof, in dieser Sache über meinen Kopf entschieden?«
»Wir haben nicht über deinen Kopf entschieden. Du warst ja gar nicht betroffen. Ich sagte dir doch, Seine Eminenz wollte einen Benediktiner«, antwortete der Abt von Marienkamp mit fester Stimme. »Ich habe dem Erzbischof vorgeschlagen, Bruder Ludgerus zu nehmen, und er hat dazu seinen Segen gegeben.«
»Du lügst!«, sagte Eghardus schroff. »Die Entscheidung für diesen Mönch hast du getroffen. Gegen das Patronatsrecht des Schollenherrn. Du hast sie dir damals von Burghard Grelle nur absegnen lassen!«
»Bruder! Bruder im Herrn!« Hilderaad rang die Hände, seine Stimme zitterte vor Erregung, aber der Zisterzienser unterbrach ihn mit kalter Härte.
»Genug davon! Genug! Das alles ist Angelegenheit deines Klosters, deiner Kirche, deiner Priester und deiner Gemeinden. Du sagst es selbst: Meine Diözese war nicht betroffen. Was also habe ich damit zu schaffen? Was hat meine Herde in Ihlo damit zu tun? Und was weiß mein Erzbischof in Monasterium davon?«
»Die beiden Kirchenfürsten haben sich abgestimmt«, sagte Hilderaad vorsichtig. »Sie waren sich einig über die Ordensfrage. Und dass es kein Zisterzienser sein sollte.«
»Was geht mich das an? Was gehen mich eure Ordensgeschäfte an? Was habe ich damit zu schaffen?«, schrie Eghardus. Er schrie es so laut und unvermittelt, dass draußen einer der Mönche röchelnd aus dem Schlaf hochkam und Enno ein eisiger Schreck durch die Glieder fuhr. Besorgt sah er sich um, aber der Mönch sank auf sein Lager zurück, grunzte und schlief weiter.
Der Abt von Marienkamp hatte abwehrend die Hände gehoben. Auf seiner Stirn standen plötzlich winzige Schweißtropfen und an seinem Kinn zuckte nervös ein Muskel. »Die Marienthaler wollten keinen ihrer Brüder abstellen!« Er sprach jetzt sehr schnell. »Der Erzbischof von Brema hat aber verlangt, dass das Kloster sich beteiligt. Zu Gunsten der Kirche von Eesensem.«
Enno horchte auf. Um seine Kirche ging es also, das Kirchspiel seines Vaters Magnus tom Diek. Er sah, wie der hagere Körper des Zisterziensers ruckartig nach vorn fuhr. Mit einem Mal schien Eghardus klar, dass der Benediktiner ihn hinhielt. Dass das Gerede um die Investitur des Pfarrers von Eesensem nur ein Vorwand war. Dass es in Wahrheit um ganz andere Dinge ging als um den Streit zwischen Benediktinerklöstern. Das Gesicht von Abt Eghardus wurde kantig. In seinen Augen stand plötzlich ein kaltes Lauern.
»Was soll das? Was willst du von mir? Warum haben die beiden Erzbischöfe miteinander gesprochen, wenn meine Diözese, mein Kloster nicht betroffen war? Warum erzählst du mir das alles, mitten in der Nacht?«
»Ich sagte, du bist nicht direkt betroffen«, log der Benediktiner mit bebender Stimme. »Es geht eher um deinen Herrn, den Erzbischof von Monasterium. Es gibt zwischen ihm und meinem Herrn, dem Erzbischof von Brema, gewisse … nun …Verbindlichkeiten, die eingelöst werden müssen.«
Der Zisterzienser atmete scharf ein und drehte ein Ohr nach vorn. Es war, als glaubte er nicht, was er soeben gehört hatte. »Verbindlichkeiten?«
Der Benediktiner nickte.
»Welche Verbindlichkeiten? Was für Verbindlichkeiten?«, fragte Eghardus mit erhobener Stimme.
»Nun ja. Gewisse Verpflichtungen. Offene …«
»Was für Verpflichtungen? Welche Verbindlichkeiten?«, schrie der Zisterzienser.
»Dein Herr steht bei meinem im Obligo!«, brüllte Hilderaad zurück. »Hat Schulden bei ihm. Schon seit langer Zeit. Und jetzt werden sie beglichen!«
Enno drückte sich noch tiefer in den Winkel des Eingangs. Er hatte panische Angst, nun entdeckt zu werden, bei diesem Geschrei musste irgendwer doch wach werden. Die Mönche mussten sich erheben oder einer der Sekretäre der beiden Äbte musste kommen und nachsehen. Er spähte vorsichtig nach einer Möglichkeit, das Vorzelt unbeobachtet zu verlassen, aber um ihn herum blieb alles ruhig. Und da Eghardus nun schwieg, sichtlich ebenso zornig wie konsterniert, schob der Benediktiner noch nach: »Es geht um die Glocke!«
»Welche Glocke? Welche Glocke?«
»Die Glocke der Kirche von Eesensem. Bruder Ludgerus’ Kirche!«
»Was ist damit?«
»Es gibt noch keine. Sie soll gegossen werden! Von den Brüdern in Marienthal. Das ist der vom Erzbischof geforderte Beitrag.«
Der Zisterzienser schüttelte voller Unverständnis den Kopf »Und weiter?«
»Sie wird gegossen im Auftrag deines Erzbischofs, verstehst du? Er ist der Auftraggeber für den Guss. Die Arbeit wird nicht bezahlt. Aber das Material. Die Bronze. Die Schmelze aus Kupfer und Zinn. Das zahlt dein Herr. Damit begleicht er seine Schulden!«
Ein paar Atemzüge lang war nun Stille, lastende, drückende Stille. Das schwache Licht des Kienspans warf von unten her einen gespenstischen Schein auf die beiden Klosterführer. Ihre Augenhöhlen blieben beschattet, Kinn und Nase stachen hervor, als wären sie wie Waffen auf den jeweils anderen gerichtet. Enno hörte sein Herz in den Ohren pochen. Er wusste, es stand ihm nicht zu, einem Streitgespräch zwischen so hochgestellten Persönlichkeiten zu lauschen. Aber er wagte nicht, sich zu rühren.
Nach einer Weile wich Abt Eghardus mit erhobenem Kopf einen Schritt vom Tisch zurück. Die beiden Prälaten starrten sich an, als hätte jeder sich vorgenommen, nicht als Erster den Blick zu senken. Als könnte auf diese Weise der Sachverhalt noch geändert werden. Als sei noch nichts entschieden.
Doch dann bekreuzigte sich der Zisterzienser mit einem Seufzer, faltete die Hände und flüsterte: »Gut, Bruder. Aber ich verstehe noch immer nicht. Was gehen mich die Schulden meines Herrn an?«
Der Abt von Marienkamp langte in einen Ärmel seiner Kutte und zog ein zusammengerolltes Pergament hervor. Auf der Verschnürung klebte ein erzbischöfliches Siegel. Er reichte es dem Zisterzienser, der die Rolle widerstrebend entgegennahm.
»Du wirst sie begleichen«, sagte er ohne Triumph. »Es ist verfügt. Von deinem Erzbischof. Ich bin beauftragt, dich in Kenntnis zu setzen«
Eghardus starrte auf das Pergament. Das Siegel des Bistums schien rot und höhnisch zu leuchten. »Wie viel?«, fragte er flach.
»Fünfundsiebzig Pfennige Bremisches Silber«, antwortete der Benediktiner mit Bedauern in der Stimme. »Du kannst in Teilen zahlen. Es steht alles beurkundet.«
Der Zisterzienser breitete verzweifelt die Arme aus. »Woher soll ich die Pfennige nehmen?«
»Von den Erträgen deiner Abtei. Vom Verkauf eurer Feldfrüchte auf den Märkten. Sagt dein Herr.«
Eghardus hob die Rolle. »Du weißt also, was beurkundet ist?«
»Ich habe sie geschrieben. Ich war der Sekretär der beiden Herren bei der Verhandlung«, sagte der Benediktiner nicht ohne Stolz. »Du wirst alle wichtigen Einzelheiten in der Niederschrift finden. Das Geld geht direkt an den Abt.«
Vom Kienspan glomm nur noch ein kleiner Rest. Die beiden Prälaten standen einander gegenüber wie Schatten, ihre Konturen erhoben sich undeutlich gegen das dämmerige Grau des frühen Morgens. Plötzlich kam leichter Wind auf und die Zeltplanen des Eingangs bewegten sich in sanften Schwüngen.
Abt Eghardus legte die Pergamentrolle ungeöffnet auf den Tisch und ließ sich auf sein Lager sinken. Er war zornig und verletzt. Zornig darüber, dass ausgerechnet seine Abtei, der es gerade gegenwärtig nicht gut ging, durch den Erzbischof für diese Sache herangezogen wurde. Zornig auch darüber, dass der Diözesanherr sich über die ihm wohlbekannten Schwierigkeiten des Klosters hinwegsetzte. Oh, Eghardus kannte ihn, Ludwig den Hessen. Er war einer der Kirchenfürsten, die ihre Bistümer führten wie einen gräflichen Besitz. Mit egoistischer Sorglosigkeit. Mit Sturheit, Eigennutz und Gewinnsucht. Ohne Rücksichtnahme auf die Leistungsfähigkeit derer, die darin lebten und arbeiteten. Wie ein Feudalherr. Er zog heraus, was herauszuziehen war. Zu seiner persönlichen Wohlfahrt. Die klerikale Arbeit überließ er weitgehend seinen Äbten, Prioren und Priestern.
Aber das Schlimmste war die verletzende, demütigende Art, in der alles abgelaufen war. Dass er ihn nicht eingeweiht, nicht ins Vertrauen gezogen hatte. Dass ausgerechnet dieser blasierte Benediktiner alles wusste, ja, sogar am Verhandlungstisch gesessen hatte, und er, Abt Eghardus, nicht. Und dass ihn Hilderaad hier nachträglich in Kenntnis setzte, fast als Befehlsübermittler auftrat, ihm einen Sachverhalt mitteilte, der ihm durch seinen Kirchenfürsten hätte dargelegt werden müssen. Es war einfach alles unglaublich. Und dann dieser Abt von Marienthal, Nikolaus. Der war der Empfänger des Geldes. Genauso blasiert und arrogant wie Hilderaad. Ein Benediktiner eben. Eghardus seufzte, es klang fast wie ein Schluchzen.
»Es tut mir leid, Bruder«, sagte Hilderaad in die Stille hinein. »Ich wollte wirklich nur euer Bestes, aber ich konnte es nicht verhindern.«
Eghardus lag auf seinem Bett wie eine Leiche. Die Hände hatte er über dem mageren Bauch gefaltet, das Brustkreuz steckte darin wie bei einem Aufgebahrten. »Welche Rolle spielt dieser Mönch? Ludgerus. Wie kommt es, dass er solchen Einfluss hat?«, fragte er mit müder Stimme.
»Ich weiß es nicht. Vielleicht ist er nur ein Werkzeug in einem Machtspiel. Eine Figur auf dem Schachbrett«, sagte Hilderaad, aber man konnte hören, dass er selbst daran zweifelte. Oder dass er es besser wusste.
*
Als die Jurati feierlich in das offene Rund einzogen, war die Matutinae78 lange vorbei. Mönche der beiden Klöster hatten sie zelebriert, um sie herum die Gemeinde in dunklen Haufen versammelt wie eine eng aneinandergedrängte Schafherde, die drei Prälaten knieten stumm in der ersten Reihe. Jetzt war die Morgendämmerung bereits weit fortgeschritten, aber der Himmel war noch grau. Es hatte aufgehört zu regnen. Die Äbte saßen an einem abseits stehenden Tisch, Hilderaad und Eghardus mit grauen, müden Gesichtern und geröteten Augen, Allardus, der Augustinerprior, asketisch und hellwach.
Das Altarkreuz stand vor ihnen und schimmerte im Schein flackernder Kienspäne. Hilderaad umklammerte ein kleines, reich verziertes Holzkästchen. Es war der Reliquienschrein seines Klosters, in dem sich nach der Sage ein Stück Tuch von der Kutte des heiligen Bonifatius befand. Auf diese Reliquie waren die Reinigungseide zum Beweis von Unschuld zu schwören. Der Stoff steckte in der gläsernen Kapsel einer Monstranz. An der Kopfseite, zur Rechten des Benediktinerabtes, kauerte ein Mönch als Bruder Librarius79 mit Feder und Tintennapf. Er hatte zusätzlich die Aufgabe, das vor ihm stehende Stundenglas zu bedienen und die zeitlichen Abläufe des Things festzuhalten80.
Der Zug der Jurati nahm Aufstellung vor dem Altartisch. Es waren erwartungsgemäß die amtierenden Redjeven der Landgemeinden gewählt worden, in einem kurzen, akklamatorischen Vorgang, gleich nach dem Frühstück aus halbwarmer Grütze und Bier. Magnus tom Diek war ebenso unter den Richtern wie Keno Hylmerisna, Ayderd Zeerijp und Stidolf Noerlant. Die Abordnungen hatten einfach mit Zuruf ihre Juroren benannt und ein Mönch aus dem Kloster Ihlo hatte die Namen aufgeschrieben. Danach hatten die Prälaten die Liste den Bräuchen entsprechend gesegnet, so wie sie jetzt die kniende Reihe von Jurati segneten.
Es war Elso Fockana aus dem Emesingerlant zugefallen, das Richtschwert als Symbol der Wehrhaftigkeit der Landrechte zu tragen, er hob es stolz in die Höhe, als Hilderaad die Waffe mit Weihwasser besprengte. Keno Hylmerisna hatte widerstrebend den Beutel mit friesischer Erde angenommen und schielte ärgerlich auf den Schwertträger. Als der Weihwasserkessel zu Abt Eghardus wechselte und der Zisterzienser die Erde segnete, hielt ihm der Brokmanne den Leinenbeutel eher lustlos entgegen. Auf dem Platz herrschte Stille, nur die murmelnden Segensprüche der Prälaten waren zu hören.
Die Abordnungen der Landgemeinden hatten sich auf den Hügeln niedergelassen, die den Tagungsort ringförmig umgaben und aus dessen Mitte sich der eigentliche Verhandlungsplatz wie eine kleine Wurt erhob. Nicht amtierende Richter und Vornehme saßen auf treppenartig in die Erde gegrabenen Stufen, die Sitzflächen mit Lederstücken oder Wollstreifen abgedeckt. Andere lagerten auf ihren Schlafdecken im Gras. Einige Schritte hinter den Bänken der Jurati brannte ein Grubenfeuer, dort hockten die Waffenknechte mit dem Henker und dem Bader. Ihre Aufgabe war es, Verurteilte festzusetzen und Leibstrafen durchzuführen.
Die Priester und Mönche waren, dem Brauch entsprechend, nicht bei ihren Delegationen, sondern bildeten eine eigene Gruppe. Sie hatten sich auf der Anhöhe hinter den Prälaten versammelt, auf niedrigen, unbequemen Schemeln, die sie zwangen, ihre Knie eng an den Körper zu ziehen, sodass die Schienbeine dem Vordermann als Rückenlehne dienen konnten. Immerhin saßen sie nicht auf der blanken Erde. Enno sah Bruder Ludgerus mit griesgrämiger Miene unter den Kuttenträgern hocken. Seine Augen waren gerötet, auch er schien in der letzten Nacht nicht viel geschlafen zu haben. Zu seiner Verwunderung sah Enno Ocko Hylmerisna, den Sohn des Brokmannen, neben dem Benediktiner sitzen. Der junge Mann gehörte eigentlich zur Gruppe seiner Landgemeinde. Keinesfalls sollte er zwischen den Mönchen sitzen. Vielleicht nahm er für sich in Anspruch, ebenfalls auf einem Schemel sitzen zu können. Ockos Züge waren, wie gewöhnlich, ausdruckslos. Die etwas zu weit auseinanderstehenden Augen blickten kühl und unbeteiligt.
Nach dem Segen hoben die Jurati ihre Schwurfinger und legten den Eid auf ihren bedingungslosen Kampf zum Schutz der Landrechte ab. Dabei stachen die Stimmen von Magnus tom Diek und Ayderd Zeerijp deutlich aus dem übrigen Gemurmel hervor. Der Brokmanne bewegte scheinbar lautlos die Lippen. Stidolf Noerlant, der neben ihm stand, würde später behaupten, Hylmerisna habe keinen einzigen Ton von sich gegeben.
Die Jurati nahmen auf roh gezimmerten Holzbänken etwa zehn Schritte gegenüber den Prälaten Platz. Das Richtschwert und der Leinenbeutel mit Erde lagen auf einem Tuch friesischer Wolle zu ihren Füßen. Der Enunciator wurde gewählt und sofort schlug Magnus tom Diek Keno Hylmerisna vor, was der Brokmanne mit einem ruckartigen Heben des Kopfes registrierte, aber sein Gesicht blieb ausdruckslos. Es war nicht erkennbar, ob er den Vorschlag guthieß oder nicht. Er konnte das Amt nicht ablehnen, so viel war klar.
Aber er schien zu fürchten, dass er Beschlüsse zu verkünden haben würde, die ihm nicht passten. Zu diesem Zeitpunkt war für Magnus noch offen, wie sich die grundsätzlichen Positionen innerhalb der Geschworenen verteilten. Er wusste Jurati wie Ayderd Zeerijp und Stidolf Noerlant auf seiner Seite, vielleicht auch noch den einen oder anderen Redjeven aus den östlichen Landgemeinden. Doch der Oosterämbter hatte von westlichen Richtern gesprochen, die so dachten wie der Brokmanne, und Magnus nahm an, dass Hylmerisna die Jurati aus dem Emesingerlant und Fiwelgonia zu seinen Unterstützern zählen konnte.
Keno wurde einstimmig ernannt und warf Magnus einen stechenden Blick zu. Er hatte dessen Absicht wohl durchschaut. Wenn es gelang, grundsätzliche Entscheidungen zu Rechtsfragen durchzusetzen, wurde der Brokmanne durch seine verkündende Rolle in besonderer Weise zur Rechtstreue verpflichtet. Dann hätte es schwerwiegende Folgen für seinen Ruf als Richter, wenn er selbst später diese Beschlüsse wieder in Frage stellte. Hylmerisna hatte das Dilemma erkannt und war entsprechend verärgert. Gleich zu Beginn des Things hatten er und seine Fraktion eine Niederlage erlitten. Nur ein schneller Gegenvorschlag mit umgehend erkennbarer breiter Unterstützung des Gremiums hätte den überaus geschickten taktischen Schachzug dieses Sauhundes, Magnus tom Diek, noch abwenden können. Das hatte nicht funktioniert. Die Geistesgegenwart hatte gefehlt, zum Teufel! Bei denen, die ihm folgten und bei ihm selbst. Keno Hylmerisna kochte.
Wahrscheinlich kam es deswegen zu dem Eklat, der sich nun anschloss. Oder Keno Hylmerisna wollte schon hier ein Zeichen dafür setzen, dass er die Tagung für überflüssig hielt. Jedenfalls wäre es nun seine Aufgabe als Sprecher der Jurati gewesen, sich zu erheben und den Thing mit der traditionellen Begrüßungsformel an zu eröffnen.
»Eala Frya Fresena! Seid gegrüßt, freie Friesen. Gott halte seine Hand über diese Tagung. Er segne sie, damit sie Recht als Recht erkenne, zum Lobe des Herrn und zum Nutzen der Friesen als des Schöpfers freie Kinder!«
Aber er tat nichts dergleichen, hockte da und schwieg, alle Blicke auf sich gerichtet. Einige Atemzüge lang herrschte Totenstille, dann kam Unruhe auf und von den Rängen erhob sich Gemurmel. Mit einem Mal war eine Spannung in der Luft, die man mit Händen greifen konnte. Die Prälaten wechselten fragende Blicke und Magnus tom Diek war überzeugt, dass der Brokmanne die erste Kraftprobe des Tages anzettelte. Endlich, ganz langsam, fast so, als müsste er eine ungeheure Last stemmen, erhob sich Keno Hylmerisna. Stand auf und blickte in die Runde, bis auch die letzte Stimme, das leiseste Flüstern erstarb. Und sprach die Begrüßungsformel.
Und dann, als er am Ende war und schon ein Seufzer der Erleichterung durch die Reihen lief, fügte er mit klarer Stimme hinzu: »Es sei angemerkt, Brüder, dass nicht Auwreke, sondern Gruningenn der Thingplatz der Friesen ist. Es sei weiterhin angemerkt, Brüder, dass das Recht zur Einberufung des Thing nicht einem einzelnen Richter zukommt, sondern der Gesamtheit der Jurati der letzten Versammlung!«
Er trat einen Schritt nach vorne, stieg über die Decke mit dem Richtschwert und dem Erdbeutel hinweg und nahm Aufstellung gegenüber den Prälaten. Seine Hände lagen locker hinter seinem Rücken verschränkt, aber die Finger blieben unruhig. »Ich stelle fest, Brüder, dass dem Thing zu Auwreke anno 1345, Gott halte seine Hand über ihn, damit wesentliche Mängel anhaften.«
Von den Hängen kam erneut Unruhe, vereinzelt waren Stimmen zu hören, ob zustimmend oder ablehnend war nicht auszumachen, und Enno sah die Äbte mit dem Prior tuscheln.
Nun erhob sich auch Magnus tom Diek. »Soll das heißen, dass du die Beschlüsse dieser Tagung in Frage stellst, noch bevor sie getroffen sind?«
»Ich halte ihre grundsätzliche Entscheidungsbefugnis für fraglich.«
»Das ist Unsinn! Mag sein, dass wir am falschen Ort sind, wie du sagst, aber die Brüder westlich der Ems sind hier. Eingeräumt, dass ich nicht befugt war, die Tagung einzuberufen. Aber das Thing ist zusammengetreten und also aus sich selbst heraus beschlussfähig. Willst du von deinem Amt als Enunciator entbunden werden?«
Keno Hylmerisna steckte den Hieb ein, ohne mit der Wimper zu zucken. Es war der zweite an diesem Tag. Sein Gesicht war starr, die Augen wanderten seltsam blicklos über die dicht besetzten Hügel. Wieder einmal hatte er die Lage falsch beurteilt, sich diesmal zu weit vorgewagt und erneut einen Fehler gemacht. Der Verzicht auf das Amt des Enunciators wäre ohne Beispiel in der Geschichte des Upstallesbame, ein unerhörter Vorgang und hätte nach den Verfahren zudem seinen Ausschluss aus dem Kreis der Jurati zur Folge gehabt. Das konnte nicht in seinem Sinne sein.
»Nein«, sagte er nach einer Weile, schüttelte den Kopf, als sei er über sich selbst erstaunt, und setzte sich auf seinen Platz.
Magnus war stehen geblieben. Er versuchte, sich ein Bild über die Kräfteverteilung innerhalb des Gremiums zu machen, aber die Gesichter der anderen Jurati gaben wenig Aufschluss. Stidolf und Ayderd lächelten ihm zu, die Mienen der anderen waren verschlossen oder sie hielten die Köpfe gesenkt, so wie jetzt der Brokmanne. Er schien zu grübeln.
»Ich stelle also fest, Brüder, dass die Tagung den Gesetzen der Friesen entsprechend Beschlüsse fassen kann«, sagte Magnus mit ruhiger Stimme und sah Keno Hylmerisna unwillig mit den Schultern rucken. Auch diese Erklärung kam eigentlich niemand anderem zu als ihm, dem ernannten Enunciator des Things. Der Schreiber notierte eifrig, während Hilderaad mir düsterem Blick auf das Pergament starrte. Einen Augenblick lang war außer dem scharfen Kratzen des Gänsekiels nichts zu hören. Dieses Geräusch schien Keno Hylmerisna aus seiner Starre zu lösen. Er hob den Kopf, stand auf und trat in die Mitte des Platzes.
Nach einer Verneigung in Richtung der Prälaten forderte er die Vertreter der Landgemeinden auf, ihre Klagefälle und Anfragen zur Rechtsauslegung zu nennen. Die Abordnungen gaben ihre Auskünfte und der Schreiber legte sie nieder. Danach wurde der erste Streitfall aufgerufen. Zwei Bauern traten vor. Einer kam aus dem Emesingerlant und führte Klage darüber, dass ihm sein Nachbar aus dem Kirchspiel Uthum eine Kuh als trächtig verkauft hatte, die aber dann kein Kalb geboren hatte. Der Nachbar hatte behauptet, die Kuh habe das Kalb durch falsche Haltung verloren, wahrscheinlich in einem zu feuchten Stall, und dafür sei der Käufer verantwortlich. Der Geschädigte hatte den Fall vor den Redjeven seiner Landgemeinde gebracht, dort sei aber bisher keine Entscheidung gefallen.
»Warum nicht?«, fragte Ayderd Zeerijp.
Der Bauer hob die Schultern und ließ sie wieder fallen. Sein rechtes Auge stierte himmelwärts, während das linke unruhig flatterte. »Es war um die Erntezeit. Der Richter hatte ein paar Kranke in seinem Gesinde und wusste nicht recht, wie die Frucht einbringen. Er hatte keine Zeit.«
Die Jurati warfen sich Blicke zu. Aus dem Publikum hörte man vereinzeltes Lachen.
»Die letzte Ernte ist Monde her. Was war in der Zwischenzeit?«, fasste Ayderd nach.
Der Bauer schüttelte den Kopf. »Nichts weiter. Uthum liegt ja im Federgo81. Die beiden Richter, meiner und der andere, Enno Fockena, haben miteinander gesprochen, konnten sich aber nicht einigen.«
Stidolf Noerlant beugte sich vor und richtete seinen Blick auf Hylmerisna. »Uthum? Da bist du doch Gerichtsherr, Keno, oder nicht?«
Der Brokmanne stand auf. Er musterte die beiden Bauern finster. »Ich kenne den Fall. Er ist mir vorgetragen worden und ich habe ihn an die beiden Richter zurückverwiesen. Sie sollten sich gefälligst verständigen. Jetzt ist aber der Emesingoer gestorben, letzte Woche. Hat sich bei der Feldarbeit unter sein Zuggespann gelegt und ist erschlagen worden. Der neue Redjeve ist noch nicht im Amt.«
Noerlant musterte ihn aufmerksam. »Du bist doch Gerichtsherr in Uthum«, wiederholte er. »Warum hast du in der Sache nicht selbst entschieden?«
»Als mir der Streitfall vorgetragen wurde, durch diesen Bauern hier, Eme Emesna, waren nach meinem Eindruck die beiden Richter schon dabei, die Sache zu Ende zu führen. Ich wollte ihnen nicht vorgreifen«, sagte der Brokmanne und fügte dann nüchtern hinzu: »Nun komm schon, Stidolf Noerlant. Du und deinesgleichen, ihr legt doch größten Wert auf die Unabhängigkeit der gewählten Redjeven. Was also passt dir daran nicht?«
Stidolf blieb darauf die Antwort schuldig. Er verschränkte die Arme vor der Brust und sah den Kläger prüfend an. »Warum kaufst du im Herbst eine Kuh? Wäre es nicht vernünftig, damit bis zum Frühjahr zu warten, damit du sie weiden kannst mit den anderen?«
Der Bauer nickte. »Schon. Aber mir ist den Tag nach Michaelis82 eine Kuh in einem Schlot ersoffen, war ein gutes Tier, gab viel Milch und ich wollte schnell eine neue.« Er wischte sich über das Gesicht. Das rechte Auge stand noch immer nach oben. »Eine, die trächtig ist und im Frühjahr ein Kalb hat und Milch gibt!«, ergänzte er noch und warf mit dem linken Auge einen scharfen Blick auf seinen Widersacher, der mit düsterer Miene neben ihm stand.
»Und was war nun mit der Kuh, die du gekauft hast, Eme?«
Der Bauer breitete die Arme aus. »Ich weiß es nicht. Sie war dick und rund, als ich sie kaufte. Im Stall hat sie nur gefressen und gefurzt. Sie hat so gefurzt, dass sie das Feuer im Wohntrakt ausgeblasen hat. Sie war nicht trächtig, denn sonst hätte sie ja gekalbt. Ich glaube, sie hatte einfach nur Blähungen.«
Der andere Bauer hatte mit finsterem Gesicht zugehört. Auf den Rängen regte sich erneut Gelächter, einzelne Zurufe wurden laut wie; »Eme, was ist nun mit deinem Feuer?«, und »Eme, es wird wohl ein Esel, der trägt auch übers Jahr!«, die wiederum Lachsalven hervorriefen. Die Unruhe wuchs, bis sich die Prälaten unwillig umwandten und Stidolf Noerlant mit erhobener Stimme Ruhe befahl. Auf seinen Wink trat der Beklagte nun vor. Ehe er sprach, zog er seine Mütze vom Kopf und knüllte sie in der Faust zusammen. Er trug einen sauberen Kittel und hatte schlechte, durch den Genuss von Brot aus grob gesiebtem Mehl stark abgenutzte Zähne. Sein Blick wanderte die Reihe der Jurati entlang und blieb dann an Stidolf Noerlant hängen.
»Ich bin Tammo Sypzena aus dem Kirchspiel Uthum. Die Kuh war trächtig, das nehme ich auf meinen Eid. Eme hat sie falsch gehalten. Oder falsch gefüttert, wer weiß? Dann hat sie das Kalb verloren, vielleicht hat er es nicht gemerkt«, sagte der Mann mit Trotz in der Stimme.
»Nicht gemerkt? Bist du bei Trost? Hab sie ja nicht aus den Augen gelassen, all die Zeit. War mehr bei ihr als bei der Frau. Hatte Ärger, deswegen«, gab Eme entrüstet zurück und Stidolf erstickte das neuerlich aufbrandende Gelächter der Versammlung mit einem scharfen Befehl.
»Was hast du bezahlt für die Kuh, Eme?«
»Ein Fuder Brenntorf und einen und einen halben Pfennig Bremisches Silber«, sagte Eme mürrisch und Stidolf warf dem Uthumer einen schrägen Blick zu.
»Ein stolzer Preis für eine Kuh«, sagte er.
»Nicht für ein junges Tier, das viel Milch gibt und vor der ersten Kalbung steht. Und nicht, wenn sie zudem noch trächtig ist«, antwortete der Bauer fest.
»Sie war nicht trächtig!«, brüllte Eme, jetzt mit beiden Augen nach oben blickend und da nahm der andere seine Mütze und schleuderte sie mit einem Wutschrei auf den Boden.
»Gott ist mein Zeuge. Sie war hitzig. Ich habe sie von meinem eigenen Bullen bespringen lassen und sie wurde befruchtet. Ihre Vulva war heiß, gerötet und angeschwollen. Das heißt, sie war trächtig!«, schrie er und Abt Hilderaad sprang auf und erstickte mit hoch erhobenem Brustkreuz jeden zotigen Zuruf von den Rängen. Er setzte sich erst wieder, als völlige Ruhe herrschte, die Versammelten sich schweigend duckten unter seinem zornigen Blick.
Die beiden Bauern entfernten sich auf Stidolfs Wink einige Schritte und standen abseits, während sich die Jurati nun mit heiteren Gesichtern und gedämpften Stimmen berieten.
Nicht lange, und Keno Hylmerisna, der Enunciator, stand auf und verkündete das Urteil der Richter. »Tammo Sypzena, Bauer aus dem Kirchspiel Uthum, zahlt dem Eme Emesna, Bauer im Kirchspiel Grotehusum83, einen halben Pfennig Bremisches Silber zurück. Zusätzlich wird angeordnet, dass die Kuh erneut so oft zu bespringen ist, bis sie trächtig wird. In diesem Fall geht der halbe Pfennig Bremisches Silber wieder an Tammo Sypzena.«
Der Schreiber notierte mit kratzender Feder. Aus der Versammlung kamen zustimmende Rufe, aber vereinzelt auch ablehnendes Murren. Die Bauern, offensichtlich beide unzufrieden, verneigten sich knapp und finster vor den Jurati, setzten ihre Mützen auf und stapften davon.
Danach wurden weitere Fälle verhandelt. Ein Streit über das rechtmäßige Eigentum von Grund und Boden aus dem Kirchspiel Hagha84 im Noerderlant wurde vorgetragen. Der Tradition entsprechend übernahm jetzt mit Ayderd Zeerijp der Redjeve einer anderen Landgemeinde die Verhandlungsführung. Der Nachbar eines Bauern erhob Besitzansprüche an einem Acker in der Grenzgemarkung der beiden Anwesen. Das Feld hatte einem Bauern gehört, der mit seiner Familie in das Sagelterlant85 gezogen und dort gestorben war. Der Besitzer behauptete, das Stück gekauft zu haben, was der Kläger bestritt. Vielmehr habe er selbst die Zusicherung des ehemaligen Eigentümers erhalten, den Grund in Besitz zu nehmen und bewirtschaften zu dürfen. Das wolle er nunmehr vollziehen.
Ayderd Zeerijp fackelte nicht lange. Nachdem die Standpunkte ausgetauscht waren, winkte er die beiden Kontrahenten heran. Seine blauen Augen funkelten angriffslustig.
»Hört her. So kommen wir nicht weiter. Der ursprüngliche Besitzer ist tot. Ihn können wir nicht mehr fragen.« Dann wandte er sich an den Beklagten. »Es muss also geschworen werden. So fordert es das fünfte friesische Landrecht. Bist du bereit, zur Bekräftigung deines Anspruchs den Eid auf die Reliquie zu leisten?«
Die drei Äbte beugten sich gespannt vor. Der Bauer sah den Richter in größter Ruhe an. »Ja!«
Ayderd fixierte den anderen. »Und du?«
Der Kläger wich einen Schritt zurück. Er drehte den Körper halb zur Seite und warf einen scheelen Blick auf den Tisch, an dem die Prälaten saßen. »Warum gleich schwören? Die Frau lebt noch. Wir können sie fragen«, sagte er flach.
Der Westfriese schüttelte den Kopf. »Das werden wir nicht. Der Fall wird jetzt entschieden. Wirst du schwören?«
Und als der Mann immer noch zögerte, wandte sich der Beklagte um, ging an den Tisch und kniete nieder. Die Klosterführer erhoben sich von ihren Stühlen, alle Anwesenden standen auf und es wurde still auf dem Thingplatz. Hilderaad schob den Schrein nach vorn und der Bauer legte mit gesenktem Kopf seine Hände auf den Kasten.
»Ich schwöre bei der Reliquie des heiligen Bonifatius, dass der strittige Grund rechtmäßig in meinem Besitz ist«, sagte der Mann mit ruhiger und lauter Stimme und wiederholte seinen Eid, den Forderungen entsprechend, noch sechs Mal. Danach segnete ihn Hilderaad. Keno Hylmerisna verkündete die so gefallene Entscheidung und der Schreiber notierte.
Es kamen weitere Streitfälle, in denen es um Erbangelegenheiten, die Höhe von Pachtzinsen und Tauschgeschäfte ging, und in jedem Fall wechselte die Verhandlungsführung auf einen Richter, dessen Landgemeinde nicht betroffen war. Der Mittag näherte sich und es ging auf das Angelusgebet, als ein Fall aufgerufen wurde, in dem schnell erkennbar wurde, dass eine Leibstrafe zu vollstrecken war.
Zur Verhandlung kam ein Totschlag aus der Landgemeinde Rustringe und Magnus tom Diek übernahm die Rolle des Verhandlungsführers mit einigem Zögern. Er wusste, was auf ihn zukam, aber der amtierende Redjeve, Ede Lubben, bat ihn förmlich und die anderen, die in Frage kamen, lehnten sich sofort erleichtert zurück. Das Vollstrecken einer Leibstrafe war keine leichte Sache und dem Verhandlungsführer kam es zu, die Rechtsfindung nach der festgelegten Sanktion auszurichten, wobei er sich allerdings streng an die Vorgaben der Küren zu halten hatte.
Der Fall selbst, so kam bald heraus, war eindeutig. Eine Witwe aus Gudenzen86 führte Klage gegen den Handmann eines Großbauern aus dem Kirchspiel. Der Mann war ein bekannter Raufbold, ein grobschlächtiger Klotz, der vor allem wegen seiner tückischen Brutalität im Trunk gefürchtet war. Nun hatte er den Mann der Klägerin mit einem Schwert erschlagen. Sie waren sich abends begegnet, der Handmann auf dem Heimweg von der Schenke, der Getötete nach der Feldarbeit. Beide waren in Begleitung, es gab also Zeugen für das, was vorgefallen war. Die beiden Gruppen trafen sich an einem engen Steg über einem Sieltor. Der Weg war so schmal, dass ihn die Männer im Gänsemarsch passieren mussten. Der Bauer und seine Leute hatten die Planken schon betreten, als der Handmann und seine Kumpane auf der anderen Seite auftauchten, alle stark bezecht.
Anstatt die Gruppe der Bauern passieren zu lassen, betraten die anderen den Steg und dann standen sie sich gegenüber, der Handmann und der Bauer ganz vorne, ihre Leute in Reihe dahinter. Es gab einen Wortwechsel, in dessen Verlauf der Handmann den anderen grob und unflätig beschimpfte und verlangte, dass der Weg freigegeben werde. Als der Bauer sich weigerte und sagte, er und seine Leute wären zuerst auf dem Steg gewesen, spie der Handmann ihm ins Gesicht und nannte ihn einen Brotesser und Tagelöhner. Was dann geschah, darüber gab es widersprüchliche Aussagen.
Die Leute des Bauern gaben an, ihr Schollenherr habe die Hand gehoben, um sich den Speichel abzuwischen. Die anderen behaupteten, er habe schlagen wollen. Jedenfalls hatte der Handmann, der seinen Sax marottenhaft immer über der Schulter trug, so, dass der Griff oben heraussah, plötzlich nach hinten gelangt und seine Waffe gezogen, ungeheuer schnell und beweglich für einen Mann in seinem Zustand. Und in einer einzigen, fließenden Bewegung habe er die Klinge wuchtig gegen den Bauern geführt und ihn so tief und unglücklich zwischen Hals und Schulter getroffen, dass der Kopf zur Seite wegkippte, der Getroffene augenblicklich in die Knie brach, auf den Steg stürzte und wenig später auf dem Platz starb.
Der Handmann war in Begleitung seines Schollenherrn vor der Tagung erschienen, stand groß und massig, als freier Friese noch ungebunden neben seinem Herrn, auf der anderen Seite die Witwe mit ihren Zeugen. Die Waffenknechte des Things hielten sich zwischen beiden Parteien in Bereitschaft. Magnus tom Diek forderte zunächst, den Tathergang nochmals zu schildern.
In der Versammlung wurde es totenstill und jeder lauschte den Berichten über die Vorfälle an jenem Abend. Es gab keine Unterschiede in der Darstellung der Abläufe, wohl aber über den Auslöser des Schwerthiebs. Der Handmann, unterstützt durch seinen Schollenherrn, gab an, er habe sich durch die Bewegung des Bauern bedroht gefühlt und folglich in Notwehr gehandelt. Die Zeugen der Witwe unterstrichen, dass hierzu jeder Anlass gefehlt habe, zumal der Bauer unbewaffnet gewesen sei und seine Feldhacke von seinem Hintermann getragen wurde. Alle fünf waren bereit, dies auf ihren Eid zu nehmen und auf der Reliquie zu beschwören.
In einer kurzen Beratung stimmten sich die Jurati über die Rechtslage ab. Die war denkbar einfach; die siebzehnte Rustringer Landesküre forderte zunächst, dass in der Landgemeinde keine Schwerter getragen werden sollten. Über diese Forderung setzten sich immer mehr Rustringer hinweg. Wie der Handmann des Großbauern. Der Verstoß wurde nicht geahndet, solange niemand zu Schaden kam. Für den Fall einer Verwundung oder gar Tötung mit dem Schwert sah die siebzehnte Küre jedoch Strafen vor. Und zwar erstens die Zahlung des doppelten Wergeldes. Zusätzlich bei Verwundung das Schlagen des Richtmessers auf die Schwerthand, was eine erhebliche Schnittverletzung nach sich zog. Die Hand war für lange Zeit nicht zu gebrauchen und sollte den Bestraften an seine Missetat erinnern. Bei Tötung war das Abschlagen der Schwerthand auf dem Dingstapel87 vorgeschrieben. So lagen also die Fakten.
Während der Abstimmung der Richter hatte im zunächst schweigend lauschenden Rund Raunen und Gemurmel eingesetzt. Magnus sorgte für Ruhe und rief die beiden Parteien zu sich. Mit klarer Stimme trug er den Wortlaut der siebzehnten Rustringer Küre vor und man sah, wie dem Handmann jede Farbe aus dem Gesicht wich. Dann forderte er die Zeugen des Getöteten auf, ihre Eide auf die Reliquie zu leisten. Nacheinander knieten sie nieder, legten ihre Hände auf den Schrein, schworen und ließen sich von Hilderaad segnen. Der Totschläger und sein Schollenherr standen bleich und finster daneben.
Jetzt erhob sich Keno Hylmerisna und verkündete das Urteil. Sein Gesicht war blass und kantig, aber seine Stimme war fest. Dann ließ Magnus den Handmann durch die Waffenknechte greifen. Sie warfen sich über ihn, da er sich wehrte, und zerrten ihn zu Boden, wo sie ihn banden. Es waren dazu fünf Männer nötig. Der Schollenherr stand schweratmend abseits, als die Waffenknechte den Mann auf die Füße stellten. Er unternahm einen letzten Versuch, seinem Handmann die Amputation zu ersparen, es ging ihm gewiss weniger um das abgehauene Glied als um die Verwendbarkeit seines Vormanns auf dem Hof. Er bot das Dreifache des Wergeldes an, dann das Vierfache und der Handmann heulte dazwischen, auch er sei bereit, jeden Eid auf die Kutte des Heiligen zu schwören. Von seiner grobklotzigen, tückischen Gefährlichkeit war jetzt nichts mehr übrig, er war nur noch ein Häufchen elender Angst. Mit einer schroffen Handbewegung brachte ihn Magnus zum Schweigen.
»Welches ist deine Schwerthand, Kerl?«, fragte er scharf. Der Mann wand sich in hilflosen Bewegungen, starrte auf seinen Schollenherrn, der ihm nicht helfen konnte, stierte hinüber zu den Prälaten, die mit gesenkten Köpfen an ihrem Tisch saßen und fügte sich schließlich in sein Schicksal. »Die rechte«, sagte er schluchzend. Zwischen seinen Lippen hingen Speichelfäden.
»Die linke«, verbesserte einer der Zeugen. Es war der Mann, der direkt hinter dem Bauern auf dem Steg gestanden hatte. Er hatte sich die Schwerthand genau gemerkt. Magnus nickte und die Waffenknechte packten den jetzt wieder heulenden Verurteilten und zerrten ihn auf den Dingstapel zu. Er sträubte sich so heftig, dass einer der Waffenknechte ihm schließlich den Schaft seines Kettenbrechers88 über den Schädel zog und der Mann sich mit einem Seufzer entspannte. Sie lösten seine Hände, legten einen schmalen Riemen um die Linke und zogen den ausgestreckten Arm auf den Dingstapel. Auf dem Platz herrschte nun völlige Stille. In den hinteren Reihen erhoben sich Leute, um einen besseren Blick zu haben. Mit einem wuchtigen Hieb des Richtschwertes trennte der Vormann der Waffenknechte die Schwerthand ab.
Der Schlag war so schnell und sauber geführt, dass die Gefäße sich schlossen und aus dem Stumpf kaum Blut austrat. Der Bader tauchte den Arm in kochendes Harz und verband ihn mit einem sauberen Wolltuch. Der Mann war noch ohnmächtig. Die abgeschlagene Hand wurde in die Feuergrube geworfen und einer der Knechte legte einige Scheite Holz nach. Über der Versammlung lag unverändert tiefes Schweigen. Der Schollenherr winkte seine Leute heran und gemeinsam hoben sie den Handmann auf ein Pferd und führten es davon. Erst ganz allmählich löste sich die Starre auf dem Platz. Hier und dort regten sich leise Gespräche, als Abt Hilderaad sich erhob und zum mittäglichen Angelusgebet rief. In diesem Augenblick kam leichter Wind auf, und es begann zu regnen.
78) Das »Morgenlob«, eine vor Anbruch der Morgendämmerung gehaltene Messe, später auch »Laudes« genannt.
79) lat.: Schreiber
80) Die zeitliche Ordnung der Tagesabläufe war im weltlichen Leben dieser Zeit weitgehend unbekannt. Soweit erforderlich, fanden Verfahren der Geistlichkeit Anwendung. Im vorliegenden Fall dürfte dies die Einteilung der Benediktiner gewesen sein, die sich grundsätzlich an den liturgischen Handlungen des Arbeitstages orientierte, beginnend mit der Matutina (Mette; zwischen 2.30 und 3.00 Uhr) und endend mit dem Completorium (Komplet/Nachtgebet; gegen 18.00Uhr).
81) , nördlich des Emsingerlandes/ Emsgaus.
82) 25. September
83) Groothusen in der Krummhörn
84) Hage, Kreis Norden
85) Saterland, Kreis Cloppenburg
86) Gödens, Kreis Wittmund
87) Richtblock
88) Mittelalterliche Lanzenart. Die Spitze war stark genug, das Kettenhemd eines Gerüsteten zu durchschlagen