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Wenn man jemandem ein Haarbüschel abschlägt, so dass Haar und Kopfhaut und drittens Blut nachfolgen, so ist die Buße 24 Schillinge, oder man schwöre zwei Reinigungseide.

3. Rüstringer Bußtaxe

Westerbensze14, Hairlingerlant, am Tag vor Ambrosius, Anno Domini 1345 (Sonntag, 3.April)

Der Winter mit seinen Stürmen hatte den Deichen arg zugesetzt und Magnus wurde eine schadhafte Stelle an der Südweststrecke gemeldet, nicht weit von der Grenze zu Noerderlant. Als er mit seinen Leuten eintraf, war Keno Hylmerisna schon dort. Er schien Stidolf Noerlant, den Redjeven von Noerderlant, zu begleiten, der mit einer Gruppe weiterer Richter seiner Landgemeinde ebenfalls vor Ort war. Sie begrüßten sich steif und förmlich. Gemeinsam gingen sie mit ihrem Gefolge die Deichkrone ab und begutachteten die Schäden. Das Meer hatte die Deichsohle großflächig ausgewaschen. In der Folge waren ganze Streckenteile eingebrochen, Armierungen und Befestigungsgeflecht waren fortgespült worden oder lagen ausgerissen am Strand. Mit finsterem Gesicht betrachtete der Brokmanne die Zerstörungen. Dann richtete er seinen Blick nach Westen, wo sich die Deichanlagen von Noerderlant anschlossen.

»Ein Deich mit einem Bruch ist wie ein Krug mit einem Loch im Boden«, sagte er grollend an Magnus gerichtet und sah ihn kalt an. »Die schöne Hülle bewirkt nichts mehr, ist nur noch Schein, und reißt bei nächster Gelegenheit wie eine Kette mit morschen Gliedern.« Er wies die Küste hinauf und seine Stimme hob sich. »Wenn ihr hier nicht für Ordnung sorgt, werdet nicht nur ihr bei der nächsten Sturmflut bezahlen. Auch wir in Noerderlant saufen dann ab wie die Ratten!«

Magnus wusste, dass Hylmerisna recht hatte, aber er dachte nicht daran, ihm zuzustimmen. Schäden an den Deichen waren trotz ständiger Pflege der Wälle nicht zu vermeiden. Es kam darauf an, sie rasch zu beseitigen, ja, die schadhafte Stelle noch stärker zu befestigen, als dies vorher der Fall gewesen war. Er blickte hinab auf die Deichsohle. Der für diesen Abschnitt verantwortliche Bauer war mit einer Gruppe seines Gesindes und einigen Nachbarn bereits bei der Arbeit. Mit Tragen und einem Gespann wurden Baumaterialien herangeschafft, um die Einbrüche aufzufüllen. Andere Helfer bargen noch brauchbare Armierungsstämme vom Strand oder schleppten Bauholz von nahen Höfen heran.

Als der Bauer Magnus tom Diek erkannte, stieß er seinen Spaten in die Erde und stieg auf die Deichkrone. Sein Gesicht war gerötet vor Anstrengung und sein Lederwams durchnässt von Schweiß. Er lupfte kurz seine Kappe, setzte sie rasch wieder auf und würdigte den Brokmannen keines Blickes. »Der Bruch kam letzte Nacht.« Er schnäuzte sich zu Seite. »Wir hatte den Riss gestern am Abend bemerkt, aber es war schon zu dunkel, um noch etwas zu unternehmen«, sagte er in einem Ton, der klarmachte, dass er keine Vorwürfe hören wollte.

Magnus nickte, aber Keno Hylmerisna drängte sich nach vorn. »Du weißt hoffentlich, was du zu tun hast. Wenn du deine Deichpflicht nicht mehr erfüllen kannst, musst du deinen Hof aufgeben. Andere werden ihn übernehmen und vielleicht besser arbeiten!«, sagte er scharf.

Die Spielregeln waren klar. Wer an der Küste Land besaß, übernahm besondere Verantwortung für den Zustand des Deichs auf seinem Boden. Ihm oblag die ständige Beobachtung seiner Festigkeit und bei Schäden die Alarmierung der in der Deichacht zusammengeschlossenen Familien des Hinterlandes. Diese Bauern hatten mit Hand- und Spanndiensten zu helfen, auch mit Baumaterial, aber die Hauptlasten hatte der Grundeigner am Deich zu tragen. Konnte er die damit verbundenen Leistungen an Geld und Arbeit nicht mehr erbringen, verlor er unweigerlich seinen Besitz. Aber diese Entscheidung lag allein bei der Landgemeinde. Hylmerisna hatte in Hairlingerlant keinerlei Rechte und diesmal konnte sich Magnus tom Diek nicht zurückhalten. »Es ist nicht dein Geschäft, darüber zu befinden, Keno Hylmerisna.«

Der Bauer nickte und wollte sich schon abwenden, hielt dann aber inne und trat einen Schritt auf den Brokmannen zu. »In meinem Abschnitt gibt es zwei Sieltore«, erwiderte er ruhig. »Beide haben mir die letzten Stürme stark beschädigt. Ich habe sie in mehreren Tagwerken mit meinen Leuten ohne weitere Hilfe instand gesetzt.« Jetzt stand ein grimmiges Lächeln auf seinen Lippen und er sah den Hylmerisna voll an. »Ich wusste nicht, dass du nun auch für Noerderlant sprichst, obwohl Stidolf und die anderen edlen Herren der Landgemeinde ebenfalls hier sind. Interessant!«

Er hatte lauter gesprochen, als nötig gewesen wäre, und die Gruppe um Stidolf Noerlant war aufmerksam geworden und sah herüber.

»Ich habe im letzten Spätsommer die Meerseite des Deichs, da, wo kein grüner Anwachs ist, bis zur halben Höhe mit Stroh gestickt, Gott ist mein Zeuge!«, fuhr der Mann bitter fort. »Ich habe in dieser Zeit meine Felder vernachlässigt und in zahllosen Fuhren Steine herangeschafft, um die Dielen und Pfähle der Sohlenarmierung zu verstärken.« Er wies mit dem Arm nach Nordosten. »Die Herren mögen sich überzeugen, dass der Deich in gutem Zustand ist. Es gibt weiter keinen Mangel an ihm, auch die Neigung zur Seeseite ist, wie sie sein muss!«

Die Abordnung aus Noerderlant war inzwischen nähergetreten. Magnus sah Edo Onnisna und Willo ten Huus. Diese beiden waren gemeinsam mit Stidolf im März Anno 1340 auf dem Weg zu einer Pilgerreise nach Rom in der Stadt Cöln festgesetzt und in den Kerker geworfen worden, weil man ihnen einen Betrug anhängte, den tatsächlich Utrechter Kaufleute zu verantworten hatten. Es war eine mysteriöse Geschichte gewesen, damals. Hartnäckigen Gerüchten zufolge hatten sich die drei in einer Vorstadtschenke vergnügt, auch mit irgendwelchen Frauen, und waren dann, schon nicht mehr ganz nüchtern, von einem Mittelsmann des städtischen Weinkontors in eine Taverne hinter der Stadtmauer abgeschleppt worden. So weit schien die Sache zu stimmen.

Dort sollte es schließlich zu dem dubiosen Handel gekommen sein. Angeblich hatten Noerlant und seine Begleiter eine größere Menge Wein geordert, insgesamt drei Fuder, von der sie im nüchternen Zustand nichts mehr wissen wollten. Zudem warf man ihnen vor, ihre Schuld für Speisen und Wein mit Münzen bezahlt zu haben, deren Silbergehalt deutlich unterhalb des Normgewichtes gelegen haben sollte. Die Geschädigten, zwei Cölnische Weinhändler, machten geltend, übers Ohr gehauen worden zu sein, und ließen die drei brutal misshandeln. Sie nahmen ihnen ihr restliches Geld weg und sorgten dafür, dass der erzbischöfliche Kerker für eine Weile ihr Zuhause wurde.

Die Verwechslung mit den Westfriesen wurde irgendwann offenkundig, aber die Cölner betrachteten Stidolf und seine Gefährten wohl als eine Art Geiseln, um ihre Forderungen durchzusetzen. Und sie verlangten nicht irgendeine Münze, sondern silberne Tournosen15. Es bedurfte des massiven Einsatzes eines zufällig in der Stadt weilenden Dominikaners aus Noirden16, sie aus dem Kerker zu befreien. Bruder Ricaldus schaffte es irgendwie, die geforderten 25 ½ Pfund Silbergroschen zusammenzukratzen, wohl nicht ohne die Hilfe des Cölner Klerus, und kaufte die Männer frei.

Als sie dem Kerker entstiegen, waren sie in einem jämmerlichen Zustand, verdreckt und ausgehungert, dem Tode näher als dem Leben. Nur durch die eindringliche Klage der Redjeven und der Landgemeinde von Noerderlant und Hairlingerlant und unter Androhung des Abbruchs der Handelsbeziehungen gelang es, die Cölner zu einer Entschädigung zu bewegen. Das gemeinsam durchlittene Elend hatte Stidolf, Edo und Willo zusammengeschweißt. Sie traten in der Regel zusammen auf, waren oft gleicher Meinung, weshalb man sie in ihrer Landgemeinde scherzhaft häufig als »Dreieinigkeit« bezeichnete, und stellten in Noerderlant einen Machtfaktor dar, der nicht unterschätzt werden durfte.

»Er spricht nicht für uns«, sagte Noerlant mit seiner hellen, kindlichen Stimme, in der Ärger mitschwang, und die anderen nickten.

Der Brokmanne hob den Kopf und sein Kinn straffte sich. »Keno Hylmerisna spricht für Keno Hylmerisna!« Er raffte seinen Mantel über der Brust zusammen und drehte die Schulter in den scharfen Seewind. »Der Deich ist nur so stark wie seine schwächste Stelle, das wissen wir alle. Und ich habe Besitz in Noerderlant, den ich geschützt sehen will!«

Stidolf Noerlant und seine Begleiter entfernten sich ein paar Schritte, steckten die Köpfe zusammen und berieten sich leise. Dann kam Edo Onnisna herübergestapft, seine gedrungene Gestalt war in einen Mantel aus blauem friesischem Tuch gehüllt. Er war Bauer, aber durch den Handel reich geworden und glaubte fest daran, dass sich Wohlstand auf Sparsamkeit gründet.

So hatte er trotz aller Beschwernisse nicht im Traum daran gedacht, sich und seine Gefährten aus ihrer Cölnischen Haft auszulösen, was er ohne weiteres gekonnt hätte. Überzeugt, sein Geld niemals wiederzusehen, saß er lieber im Gefängnis. Und als er bei einem Sturz vom Pferd seine obere Zahnreihe verlor, ließ ihn der Preis für Zahnersatz aus Ochsenknochen erbleichen. Der Medicus des Aldenborcher Grafen bot auch Elfenbein an, doch Edo schrie er vor Entsetzen über die genannte Summe. Er ließe sich eine Prothese aus geweißtem Holz fertigen.

Seine Holzzähne waren inzwischen vergilbt und saßen schlecht. Obwohl er sie mit Harz am Oberkiefer befestigte, lösten sie sich immer wieder und behinderten ihn beim Sprechen.

Er stellte sich vor den Brokmannen und sah ihm fest in die Augen. »Deine Güter in Noerderlant, Keno Hylmerisna, die eigentlich deiner Frau gehören, o ja, die kennen wir. Wir wissen auch, dass du sie zu mehren trachtest«, nuschelte Edo und entblößte lächelnd seine Schneidezähne. Sie hatten sich wieder gelockert und er drückte mit der Zunge dagegen, half schließlich umständlich mit dem Daumen nach und schob die Prothese in ihre richtige Position. Stidolf Noerlant und Willo ten Huus waren inzwischen hinzugetreten und auch Magnus näherte sich der Gruppe. Das Gesinde dagegen hielt Abstand.

Von See her fuhren plötzlich raue Böen über den Deich und die Arbeiter am Strand drehten ihre Rücken in den scharfen Wind. Der Bauer verabschiedete sich mit einem flüchtigen Kopfnicken, schnäuzte sich erneut und ging hin­unter zu seinen Leuten. Bevor er seinen Spaten aufnahm, warf er einen langen Blick auf die Deichkrone, suchte Blickkontakt zu Keno Hylmerisna, spuckte kräftig aus, spie ein zweites Mal in die Hände und begann zu arbeiten.

Das Gesicht des Brokmannen war jetzt eine steinerne Maske. Er sprach ruhig und beherrscht, aber in seinen Augen glitzerte die Wut.

»Wer trachtet nicht danach, seine irdischen Güter zu mehren?«, fragte Hylmerisna ironisch und wandte sich direkt an Edo Onnisna. »Es ist gottgefällig und du tust es auch, gerade du, Edo!« Er schüttelte den Kopf. »Es ist ein Jammer, Brüder. Schließlich wollen wir doch alle dasselbe, ist es nicht so? Gut und sicher leben und für unsere Söhne ein wachsendes Erbe.« Er zupfte an seinen eleganten Handschuhen und warf dem Bauern an der Deichsohle einen verächtlichen Blick zu. Der Mann teilte jetzt seine Leute neu ein. Ein Pferdegespann brachte Eichenstämme heran, die abgeladen und verbaut werden mussten. Kenos Augen lösten sich, seine Stimme troff vor Geringschätzung. »Leider ist es aber auch so, dass unfähiges Gesindel uns dabei zu oft in die Suppe spuckt. Leute, die Freiheiten genießen, die ihnen nicht zukommen dürften. Die sich anmaßen, in Angelegenheiten mitzureden, die nur den führenden Familien vorbehalten sein sollten!«

Sein Hals hatte sich gerötet und er sprach nun laut. »Es liegt an uns selbst, ob wir das weiterhin dulden wollen. Ob wir unser Lebensglück und das Wohlergehen unserer Familien davon abhängig machen wollen, dass Bauern­trampel und Tagelöhner ihre Deichpflicht erfüllen!«

Stidolf und seine Begleiter wechselten rasche Blicke. In ihren Gesichtern stand Ablehnung und Misstrauen. Magnus lächelte. »Interessante Wortwahl. ›Bauerntrampel‹! Wir sind doch alle Bauern? Oder doch nicht? Welchen Standes bist du?«

Der Brokmanne schwieg mit zusammengekniffenen Lippen.

»Und wenn du sagst ›wir‹, dann meinst du doch vor allem dich selbst, Keno, oder nicht?«, ergänzte Noerlant mit heller Stimme. »Du willst nicht länger dulden, was nach unserem Landrecht Gesetz ist: Freiheit und Unabhängigkeit aller. Du willst Privilegien für die führenden Familien, sagst du. Aber bleibt es dabei? Wer schützt uns am Ende vor dir und den Machtansprüchen der Hylmerisna?«

Die anderen brummten und nickten zustimmend.

Jetzt schob sich Magnus tom Diek heran. Er hielt den Kopf gesenkt. Seine Augen waren kalt und die Stimme flach, fast tonlos. »Dieser Bauer heißt Dode Tammena. Du wirst ihn kennen. Ihm gehört ein Anwesen von etwas mehr als zwölf Grase17. Er hat über zwanzig Stück Vieh. Seine Familie lebt hier seit zwei Generationen. Und sie hat ihre Pflichten in Hairlingerlant immer erfüllt!« Magnus hob den Kopf und sah dem Brokmannen in die Augen. Seine Stimme war nun ätzend scharf. »So wie Dode heute. Er pflegt seinen Deichabschnitt wie alle anderen. Das hat zu genügen, auch dir, Keno Hylmerisna. Das übrige geht dich nichts an!«

Der Brokmanne starrte ihm ins Gesicht. Seine Wangenknochen arbeiteten. »Ich kenne Dode Tammena. Sein Großvater Itse war noch Brotesser18 in Noirden und sein Vater hatte kaum genug, um die Mäuler der Seinen zu stopfen.« Er spuckte aus, sein Blick wanderte ziellos über die Arbeiter am Strand und blieb schließlich auf Magnus tom Diek hängen. »Von seinen zwölf Grase Feldmark ist kaum die Hälfte bewirtschaftet. Der Rest ist sandig oder versumpft, weil er seine Siele nicht ausbaut!« Er drehte seine Schulter in den Wind und wies auf das arbeitende Gesinde. »Seht es euch an: Während er hier mit seinen Leuten schuftet, sollte er eigentlich auf seinen Feldern sein, oder dafür sorgen, dass die Schlote ziehen. Irgendwann wird er das auch tun müssen. Die Folgen haben wir alle zu tragen!«

»Ich weiß, was du willst, auch wenn du es nicht offen sagst, warum weiß der Teufel«, antwortete Magnus und sein Blick streifte Stidolf Noerlant und seine Begleiter, die den Brokmannen neugierig musterten. »Aber es gibt Regeln, an die auch du dich zu halten hast. Du kannst die Küren und Landrechte nicht außer Kraft setzen.«

Hylmerisna machte eine wegwerfende Geste. »Küren und Landrechte!« Er spuckte es förmlich aus. »Geschenkt, Magnus tom Diek. Was sind die schon noch wert. Kaum das Pergament, das sie trägt. Und wer setzt sie denn durch?«

»Sie bleiben Recht und Gesetz«, antwortete Magnus ruhig. »Und es liegt an uns und nur an uns, was sie wert sind.«

Keno Hylmerisna fuhr herum. Sein Kopf war rot vor Zorn. »Rede mir nicht von Recht, Magnus! Ich bin Gerichtsherr in den Kirchspielen von Uthum und Visquerd19, du weißt es, und habe von dir keine Belehrungen nötig.« Und dann brach es aus ihm heraus. »Ihr wollt es wohl nicht begreifen: Wir können so nicht ewig weitermachen. Eure Küren und Landrechte sind heute in Wahrheit Fessel für alles, was Friesland nach außen stark und mächtig macht!« Er hob den Arm und stieß mit dem Zeigefinger auf sie, dann auf den Bauern und seine Leute am Strand.

»Ihr und der da, ihr werdet es erleben. Die führenden Familien der Friesen werden es nicht länger hinnehmen, dass unser Volk seine Kräfte zersplittert. Wir werden die Macht in einige wenige Hände legen. Wenn nicht mit euch, dann eben ohne euch. Und wenn nötig auch gegen euch!«

Plötzlich redeten die drei Noerderlanter empört durcheinander. »Wieso? Wer sind denn die ›führenden‹ Familien? Stark nach außen? Gegen die Sachsen? Wann wären wir denn heute von denen bedroht? Wann hätten die denn heute …? Das ist Verrat, Verrat an der friesischen Freiheit!« Sie gestikulierten und ruderten mit den Armen, Edo Onnisna mit hochrotem Kopf, Stidolf Noerlants Stimme war schrill vor Erregung.

Magnus tom Diek schwieg. Dann sagte er mit eisiger Stimme: »Du meinst dich! Du willst die Macht für deine Sippe. Auf Kosten freier friesischer Familien. Das ist Verrat und wird immer meinen erbitterten Widerstand finden, darauf baue!«

Hylmerisna lächelte. Er nahm seine pelzbesetzte Kappe vom Kopf, drehte sie in den Händen und betrachtete sie angelegentlich. »Ich rede nicht von Umsturz. Die Geschichte unseres Landes wird sich so entwickeln, ob es euch gefällt oder nicht. Und dann werde ich dabei sein. Für meine Familie, für meinen Sohn Ocko. Ihr solltet ähnlich denken. Verfahrt ebenso in Euren Ländern, ich rate euch gut. Schließt euch an oder werdet Untertanen. Ihr habt die Wahl!« Er warf ihnen einen letzten herausfordernden Blick zu. Dann wandte er sich ab und stapfte davon. Er stieg den Deich hinunter zu seinem Pferdeknecht, der mit zwei weiteren bewaffneten Männern auf ihn wartete. Hylmerisna ergriff die Zügel seines Braunen, stieg aber nicht auf, sondern drehte sich um und sah zu ihnen herüber. Die Noerderlanter waren noch immer aufgebracht.

»Was sind das eigentlich für Kerle, die da?«, fragte Willo ten Huus. »Wieder dieses Lumpengesindel, Waffenknechte, die sich auf seinem Hof herumtreiben? Man hört ja so einiges davon. Aber nicht gutes! Sachsen oder Nordländer!« Er spuckte verächtlich aus.

»Habt ihr das gehört? Wer glaubt er, dass er ist? Ein Mann, dem kaum dreißig Pferde folgen. Meine Familie hat mindestens die Rechte und den Rang wie seine. ›Schließt euch an oder steht ab‹!«, wütete Noerlant mit vor Zorn blitzenden Augen.

»Nein! ›Schließt euch an oder werdet Untertanen‹, hat er gesagt!«, korrigierte Edo Onnisna zischend durch die gelockerten Schneidezähne.

»Wirrkopf!«, stieß Willo ten Huus hervor.

Magnus schüttelte den Kopf. »Ein Wirrkopf ist er nicht. Aber anders als wir. Er denkt dynastisch, davon bin ich überzeugt. Machtbesessen. Keno Hylmerisna will für sein Geschlecht Sonderrechte. Privilegien. Er will keine gewählten Redjeven und er will keinen Umgang20.« Magnus hob den Kopf und fasste die drei aus Noerderlant ins Auge. »Er wird es zunächst zu Hause versuchen, bei seinen Brokmannen. Da ist er ja schon ziemlich fest im Sattel. Ihr in Noerderlant müsst achtgeben. Bei euch hat er über seine Frau Fuß gefasst. Zudem ist er in Uthum und Visquerd Gerichtsherr. Aber das genügt ihm nicht. Wie man hört, hat er ja inzwischen auch ein Auge auf Auwreke21 geworfen.«

Noerlant nickte bitter. »Ja, wir haben davon gehört. Die dortige Landgemeinde hat wohl gegen einen Brokmannen als Herrn nichts einzuwenden. Es sollte uns eigentlich nicht kümmern, was er dort tut. Aber nach allem, was du sagst, und nach seinem Auftritt vorhin, muss es das wohl doch. Und ich glaube, du hast recht: Er denkt dynastisch.«

Willo ten Huus zog ein leinenes Sacktuch hervor und wischte sich über das Gesicht. Er nahm seinen altmodischen Wollhut ab und fixierte den Brokmannen, der noch immer bei seinem Pferd stand. Dessen Begleitmannschaft war bereits in den Sätteln. »Wenn sich die Geschichte so entwickelt, wie er sagt; was bleibt uns da noch übrig? Und schließlich: Soll er doch in Brokmannia tun, was ihm beliebt, und von mir aus auch in Auwreke. Solange er uns in Noerderlant nicht behelligt, und auch dich nicht in Hairlingerlant. Zum Teufel mit ihm und seinem Ehrgeiz!«

Magnus seufzte. »Es ist nicht ganz so einfach, wie es aus deinem Mund klingt, Willo. Und es geht auch nicht um mich oder euch. Die Frage ist, ob die Friesen, und zwar alle, auch in Zukunft frei und selbstbestimmt leben können.«

Er ließ den Blick über die Deichanlage wandern. Vom Hof des Bauern näherte sich ein Ochsengespann mit Bauholz. Der Fuhrknecht hockte auf der Deichsel zwischen den beiden Zugtieren und schwang einen Ziemer, an dem ein starker Lederriemen befestigt war. Der Boden war tief, das Gewicht der Eichenbalken drückte die Wagenräder mehr als eine Handlänge in die Erde. Magnus hörte die Peitsche schnalzen und sah, wie die Ochsen sich in das Geschirr legten.

»Es geht nicht um das bisschen Huslotha22, die wir ohnehin nicht zahlen, oder nur, wenn wir Lust dazu verspüren«, sagte er und sah die anderen grinsen. »Es geht überhaupt nicht um Geld, jedenfalls nicht an erster Stelle. Die Frage ist, ob uns einer wie Hylmerisna, oder sogar er selbst, demnächst nach seiner Pfeife tanzen lässt. Ob er uns befiehlt, von sich abhängig macht, oder ob wir unsere Entscheidungen auch in Zukunft allein treffen können. Wie freie Männer.«

Danach herrschte für eine Weile Schweigen. Schließlich hob Noerlant die Schultern und sah seine Begleiter an. »Was uns in Noerderlant betrifft, wollen wir dafür sorgen. Die anderen …« Er breitete die Arme aus. Onnisna und ten Huus nickten. »Und was könnten wir für die anderen schon tun?«, schloss der Redjeve von Noerderlant und seine Freunde brummten zustimmend.

»Bemühen wir uns darum, für unser eigenes Auskommen zu sorgen. Alles andere geht uns nichts an«, sagte Edo Onnisna selbstgefällig.

Vom Strand her kam plötzlich lautes Geschrei und sie fuhren herum. Das Ochsengespann mit den Eichenbohlen hatte sich in einer abschüssigen Kurve festgefahren und drohte umzustürzen. Der Fuhrknecht drosch wie wild auf die Zugtiere ein und versuchte, sie an den Nasenringen in die Gegenrichtung zu zerren. Die Ochsen brüllten vor Schmerz, ihre Schnauzen waren bereits blutig. Der Bauer, dem seine Ochsen wichtiger waren als eine Ladung Bauholz, fuhr wie ein Irrer auf den Fuhrknecht los, schlug und trat ihn und der Knecht ließ von den Tieren ab. In diesem Augenblick brach die Seitenwand des Fuhrwerks unter der Last der Eichenstämme. Der Wagen schlug um und die Ladung polterte dröhnend in die Tiefe. Die Deichsel drehte sich mit, drückte den Ochsen auf der Innenseite augenblicklich in die Knie und wuchtete den zweiten derart über die Zugstange, dass er sich aus dem Geschirr löste und Schritte entfernt auf den Strand schlug.

Es war pures Glück, dass beide Tiere und alle Umstehenden mit dem Schrecken davonkamen. Der Bauer war außer sich. Er riss sich wütend die Mütze vom Kopf, sie konnten ihn schimpfen und fluchen hören. Nun hatte er neben der Arbeit am Deich ein zerbrochenes Fuhrwerk und zwei nasenwunde Ochsen, die wohl für eine Weile nicht im Geschirr gehen konnten. Brüllend holte er seine Leute zusammen und sie begannen, die Stämme aufzunehmen und an die Baustelle zu wuchten. Der Fuhrknecht kümmerte sich um die völlig verstörten Ochsen.

Magnus tom Diek wandte den Blick ab und schüttelte den Kopf. »Ihr macht es euch zu leicht. Freunde. Verschont der Falke die Maus, die nur ihren Bau und die Aufzucht ihres Wurfs im Sinn hat?«

Sie starrten ihn an, dann suchten ihre Augen den Brokmannen, drüben an der Landseite des Deichs. Keno Hylmerisna war soeben aufgestiegen und ritt Richtung Süden ab, seine Begleiter folgten ihm wie ein Rudel Wölfe. Magnus sollte ihn an diesem Tag noch einmal treffen.

*

Die Menge teilte sich schweigend und der Karren polterte zum Richtplatz. Der Verurteilte schwankte, er konnte sich nicht festhalten. Seine Hände waren auf dem Rücken zusammengebunden. Die beiden Fronboten23 stießen den Mann rüde von sich, wenn er gegen sie taumelte. Er trug eine grobe, ärmellose Kutte aus Sackleinen, das Haar war bis auf den blanken Schädel geschoren. An Kopf, Hals und Armen klebten noch Reste von Dreck und Abfällen, mit denen ihn johlende Halbwüchsige an diesem Morgen bei der öffentlichen Zurschaustellung beworfen hatten.

Der Mann war ein Tagelöhner aus dem Kirchspiel von Dunumi24. Er hatte im Rausch einer Schwangeren Gewalt angetan, so brutal, dass die Frau eine Fehlgeburt erlitt und an den Folgen starb. Nach dem Urteil des Redjeven war es kein Halsverbrechen im Sinne der sechzehnten Volksküre, aber trotzdem ein überaus schwerwiegender Verstoß gegen die Friedenspflicht in der Landgemeinde Hairlingerlant. Nach der fünfzehnten Volksküre hätte sich der Mann mit vierundzwanzig Mark Silber von der Schuld freikaufen können, aber weder besaß er das Geld noch hatte er Verwandte, die für ihn eintraten. Damit war die Leibstrafe zu vollstrecken.

Der Fuhrknecht hielt bei der Eiche an und die Fronboten zerrten den Verurteilten vom Karren. Magnus tom Diek trat einige Schritte auf den Mann zu. Er trug einen roten Wollmantel mit umlaufender Brokatborte. In seinem Gürtel steckte das Runenholz mit dem Silberring. Der lange Adriaan stand hinter ihm, die Augen wachsam auf den Delinquenten gerichtet. Er hielt den Hut des Redjeven als Symbol der Gerichtsgewalt und den Leinenbeutel mit Erde als Zeichen der Vergänglichkeit, wie es der Brauch war. Mit lauter Stimme verlas Magnus den Text der fünfzehnten Volksküre. Dann fragte er den Gefangenen, ob er die zur Vermeidung der Leibstrafe geforderte Summe bezahlen könnte. Er hatte diese Frage bereits gestern nach der Urteilsverkündung gestellt und stellte sie jetzt, wie es die Verfahren verlangten, erneut.

Die Antwort war die gleiche; der Mann schüttelte stumm den Kopf. Magnus nickte Bruder Ludgerus zu und der Mönch trat vor. Der Benediktiner hatte sich Anfangs gesträubt, an der Hinrichtung teilzunehmen. Aber er vertrat seit Wochen seinen erkrankten Amtsbruder im Kirchspiel Dunumi und musste wohl oder übel auch in diesem Fall seines Amtes walten. Seine Laune war entsprechend. Der Verurteilte hatte am Abend zuvor beharrlich die Beichte verweigert, vielleicht aus Angst vor einem Schuldeingeständnis, und damit den Geistlichen so in Wut versetzt, dass der jeden weiteren Beistand für überflüssig hielt.

»Dieser Schweinehund brauchte mich nicht, um sich zu erleichtern. Er kann also auch ohne mich krepieren«, hatte Ludgerus seinem Schollenherrn erklärt, aber Magnus hatte sich auf nichts eingelassen.

»Du kommst mit und tust deine Pflicht. Für den Herrn und für diese arme Seele!«

Als der Mönch nun an den Verurteilten herantrat, brach der Ärger wieder aus ihm hervor. »Hör zu, du Drecksack! Mir kannst du ans Bein pissen, aber unserem Herrgott nicht, verstehst du? Nicht mehr lange, und du stehst vor ihm und musst Rechenschaft ablegen. Deine Schuld vor den Menschen ist erwiesen. Verurteilt bist du auch. Was fehlt, ist deine Beichte und deine Reue. Willst du mit einer Lüge vor deinen Schöpfer treten oder dein Gewissen erleichtern. Entscheide dich jetzt!«

Der Mann stand da mit gesenktem Blick. Als er den Kopf hob, arbeiteten seine Kiefer. Ludgerus erkannte zu spät, dass dort keine Zähne mahlten, sondern sich Speichel sammelte. Der Mann spie dem Benediktiner ins Gesicht. Ludgerus stieß einen Wutschrei aus, prallte zurück und holte aus, doch schon hatte einer der Fron­boten mit dem Stiel seiner Hellebarde zugestoßen und der Mann brach in die Knie. Er keuchte und pumpte, aber seine Augen waren voll bitterem Hass.

Der Benediktiner funkelte ihn an. »Auch dafür wird Gott dich strafen!« Er wischte den Speichel von Stirn und Wange. Dann wandte er sich dem Redjeven zu. »Du hast gesehen, Herr, dass dieser Hundesohn mit seinen Sünden aus dem Leben zu scheiden wünscht. Wie ich bereits sagte: Wir sollten keine Zeit mehr mit ihm verlieren, denn er ist es nicht wert.«

Magnus nickte und wies stumm auf den Verurteilten. Der Priester schlug widerwillig ein Kreuzzeichen über den immer noch knienden Mann und hastete tonlos durch ein Paternoster. Als er geendet hatte, legten die Fronboten dem Delinquenten das Seil um den Hals. Das andere Ende warfen sie über einen Ast der Eiche. Auf dem Platz herrschte nun nahezu völlige Stille. Von irgendwoher kam ein leises Schluchzen. Gemeinsam zogen sie den Mann hoch. Außer dem Schleifen des Seils über dem Ast und einem Ächzen des Delinquenten gab es keinen Laut. Dann packte einer der Fronboten die strampelnden Beine und zog, bis ein kurzes, trockenes Knacken zu hören war. Die weit aufgerissenen Augen des Verurteilten wurden glasig, dann trüb. Vereinzelt erschollen Beifallsrufe, ansonsten blieben die Menschen ruhig. Die Fronboten nahmen den Toten vom Baum und lösten ihn vom Seil.

Sie warfen die Leiche auf den Karren und die Menge setzte sich in Bewegung. Bis zum Moor waren es nur noch wenige Schritte. Die Knechte beschwerten den Körper mit den vorbereiteten Feldsteinen und warfen ihn in den Sumpf, wo er augenblicklich versank.

Magnus tom Diek zog das Bündel mit den Zweigen vom Karren und warf es auf die Stelle, an der soeben die Leiche versunken war. Damit war diese schändliche Tat symbolisch zugedeckt, wie es der Brauch verlangte. Es blieb nur noch, den von Ludgerus verfassten Eintrag über die Hinrichtung im Kirchenbuch von Dunumi zu beglaubigen.

Als Magnus den Kopf hob, sah er Keno Hylmerisna unter den Zuschauern stehen. Der Brokmanne schien ohne Begleitung zu sein. Die Menge begann sich aufzulösen und Hylmerisna schlenderte heran, zog seine pelzbesetzte Kappe vom Kopf und verneigte sich betont. Magnus tom Diek antwortete mit einem kühlen Nicken. Der lange Holländer, der nicht von des Redjeven Seite wich, fixierte den Brokmannen stumm und finster.

»Die Pflichten eines Gerichtsherrn können unangenehm sein. Ich kenne das«, sagte Keno Hylmerisna beiläufig. »Es bedarf einer gewissen persönlichen Stärke, sich ihnen gerade dann zu stellen.« Er blickte versonnen an Magnus vorbei auf den Richtbaum.

»So ist es«, antwortete Magnus und nun sah ihn Hylmerisna voll an.

»Die Stärke, die ich meine, ist von der Art, dass sie nicht jeder besitzt, Magnus. Erleben wir nicht immer wieder Fälle, in denen der amtierende Gerichtsherr gerade dann versagt, wenn er stark sein muss? So wie hier? So wie du jetzt?«

Magnus machte eine Bewegung, als wollte er eine Fliege verscheuchen. »Was willst du, Keno Hylmerisna?«

Der Brokmanne ging nicht auf die Frage ein. »Es ist gut, dass du hier für Recht und Ordnung sorgst«, antwortete er fast fröhlich.

»Ich bin der gewählte Redjeve und setze lediglich das Gesetz durch, so, wie es geschrieben steht«, sagte Magnus steif.

»Ja, ja, das geschriebene Gesetz …« Keno Hylmerisnas Blick wanderte über die Richtstätte. Von den Zuschauern waren nur noch ein paar Dutzend da, sie trieben sich herum oder standen in kleinen Gruppen beim Gespräch zusammen. Das Bündel mit den Zweigen über der Sinkstelle hatte sich aufgelöst und damit endgültig vollzogen, was Sitte und Gesetz der Friesen verlangte.

»Das Gesetz ist im Grunde gut und richtig. Seine Wirkung hängt jedoch von denen ab, in deren Hände es gelegt ist.« Der Brokmanne zog ein seidenes Tuch aus dem Hosensack und wischte sich geziert über Nase und Mund. »In Wangia25 wird von einem Fall berichtet, Anno 1339, in dem ein Richter einen Totschläger nur mit der Hälfte des üblichen Friedensgeldes bestrafte. Jeder wusste, dass die beiden verschwägert waren.«

»Das Urteil wurde aufgehoben«, sagte Magnus schnell.

»Ja, von den Leuten selbst, indem sie den Richter absetzten, bestraften und einen neuen wählten, der für Ordnung sorgte«, konterte der Brokmanne bissig. »In einer Landgemeinde in Westergew26 hat sich folgendes zugetragen: Der Redjeve maßte sich an, in einem Friedensbruch zu urteilen, den er selbst begangen hatte. Er konnte die Tat so darstellen, dass ein Unschuldiger in Verdacht geriet und verurteilte den Mann zum Tode. Es ging meines Wissens um Nachtbrand27

»Er hat nicht als Redjeve gefehlt, sondern als Mensch. Und mit dem Leben bezahlt«, sagte Magnus kühl.

Der Brokmanne nickte. »Aber er hat nicht nur als Mensch gefehlt, sondern vor allem als Richter! Ein Gerechter an seinem Platz hätte einen Unschuldigen geschützt, statt ihn zu verurteilen.«

Der Schindkarren mit den beiden Fronboten und Bruder Ludgerus rumpelte vorbei und entfernte sich auf dem Weg nach Dunumi. Hinter der Richteiche löste sich eine größere Gruppe Schaulustiger auf und nun sah Magnus die Begleiter des Brokmannen. Einer der bewaffneten Fremden und sein Sohn Ocko standen mit den Pferden abseits auf einer kleinen Anhöhe und sahen herüber.

»Heute Morgen auf dem Deich hast du noch gesagt, Küren und Landrechte seien Fesseln für alles, was Friesland nach außen stark und mächtig macht. Jetzt bezeichnest du sie als gut, wenn sie in die richtigen Hände gelegt sind.«

Der Brokmanne wandte sich ihm mit einem milden Lächeln zu. »Heute! Ich sagte, sie sind heute eine Fessel. Ihr mangelnder Wert fußt nicht auf ihren Worten, sondern auf ihrer ständig wechselnden Ausübung durch Richter, die sie entweder nicht verstehen oder nach ihrer Auffassung auslegen. Nicht zu reden von denen, die der Versuchung des Missbrauchs gegenüber nicht ausreichend standhaft sind.«

Magnus nickte. Jetzt lächelte er auch. »Es geht dir also um Recht und Gesetz und um starke Hände. Deine Hände, zum Beispiel, nicht wahr, Keno?« Bevor der Brokmanne etwas erwidern konnte, fuhr er fort: »Was sind das eigentlich für Leute, diese Bewaffneten, die du immer wieder auf deinem Anwesen beherbergst? Niemand kennt sie. Friesen sind es also nicht. Und was tun sie bei dir? Welche Arbeit verrichten sie?«

Das Lächeln des Brokmannen wurde eisig. »Ich bin dir keine Rechenschaft schuldig, Magnus tom Diek. Aber ich habe auch nichts zu verbergen.« Er hob den Arm und winkte Ocko und dem Bewaffneten zu. Die beiden saßen auf und trabten heran.

»Ich habe gerne Gäste«, sagte Hylmerisna, »Gäste, die auch meine Freunde sind.« Er wandte sich dem Redjeven zu und funkelte ihn an. »Es ist kein Schaden für mich, wenn diese Freunde Respekt verbreiten.«

Der lange Adriaan hinter ihm ließ einen Grunzlaut hören und spuckte auf den Boden. Der Brokmanne fuhr herum. In seinen Augen glitzerte es, aber der Holländer blieb völlig ruhig. Er richtete sich ein Stückchen auf und verschränkte seine Arme vor der Brust. Es waren beeindruckende Arme.

»Du meinst einschüchtern, Keno. Das sollen sie doch«, antwortete Magnus kalt.

Hylmerisna schwieg, sein Lächeln kehrte zurück. Die Pferde verhielten wenige Schritte vor ihnen, aber die Reiter blieben in den Sätteln. Ocko Hylmerisna, Kenos Sohn, war inzwischen ein deutlich übergewichtiger Halbwüchsiger mit unfreundlichem Gesicht. Er schwitzte. Seine Augen standen zu eng beieinander und vermittelten den Eindruck, er sei ständig mürrisch. Ocko war wie sein Vater in teure friesische Wolle gekleidet.

Der Bewaffnete neben ihm war groß und kräftig. Sein Schwertgehenk hatte er lässig über den Sattel geschlungen. Der Fremde trug eine Eisenweste, die in einen gepanzerten Halsschutz überging. Darüber stand ein grobes, vierschrötiges Gesicht mit kalten, wasserhellen Augen, die Magnus und den langen Holländer neugierig musterten. Er öffnete den Mund, zeigte schlechte Zähne und sagte etwas in einer rauen Sprache, die der Redjeve nicht verstand. Sie erinnerte ihn an die Flüche seines alten Knechtes Tryggve. Keno lachte und schüttelte den Kopf. Auf den Zügen des Jungen stand plötzlich Verachtung. Der lange Adriaan schob sich wie zufällig einen Schritt vor und stellte sich zwischen seinen Schollenherrn und den Fremden auf dem Pferd. Magnus behielt den Bewaffneten im Auge.

»Du weißt, dass wir fremde Gerüstete hier nicht haben wollen, egal ob Sachse oder Däne«, sagte er und sah, wie das Grinsen aus dem Gesicht des Brokmannen verschwand.

Hylmerisna machte eine wegwerfende Handbewegung. »Hierzu ist alles gesagt. Der Mann und seine Freunde sind meine Gäste. Und dabei bleibt es.« Er machte dem Fremden ein Zeichen und sagte etwas und der Mann wendete sofort und ritt zurück auf die Anhöhe.

Magnus und Adriaan wechselten einen langen, vielsagenden Blick. Gästen befahl man nicht.

Inzwischen waren die letzten Schaulustigen abgezogen. Nur noch Magnus mit dem langen Holländer, der Brokmanne und sein mürrischer Sohn blieben auf dem Platz. Der Bewaffnete auf dem Hügel war abgesessen und hockte neben seinem Pferd im Gras. Magnus sah keinen Grund mehr zu bleiben und wollte sich abwenden, aber Hylmerisna hielt ihn zurück. Er warf dem langen Holländer einen kalten, abschätzigen Blick zu, doch seine Worte galten dem Redjeven. »Ich muss mit dir reden. Allein. Schick deinen Tagelöhner weg!«

Adriaan grinste ihn frech an und schüttelte den Kopf. Magnus warf seine rote Amtsrobe ab und legte sie sorgfältig zu einem Bündel zusammen. »Er ist kein Tagelöhner, sondern mein Handmann28. Und er bleibt, wie dein Sohn bleibt. Was willst du?«

»Mein Sohn ist mein Erbe. Er wird eine bedeutende Familie führen. Die Hylmerisna werden in Friesland noch Geschichte machen!«, sagte der Brokmanne heiser vor Zorn. Ocko hockte schwitzend auf seinem Gaul und glotzte. Sein gerötetes Gesicht, die schielenden Augen und die unförmige Figur waren kaum Attribute eines künftigen Sippenherrn. Er selbst schien es zu spüren, denn sein Ausdruck schwankte zwischen Arroganz und Unsicherheit. Man sah ihm an, dass er sich unwohl fühlte.

»Ocko ist noch sehr jung«, sagte Magnus. »Zwar etwas älter als mein Sohn Enno, ein Jahr, wenn ich mich nicht irre, also vierzehn. Aber beide sind noch halbe Kinder. Lassen wir sie in Ruhe erwachsen werden.« Er reichte Adriaan das Bündel mit dem Mantel und dem Hut und der lange Holländer packte es zu dem Leinenbeutel in die Satteltasche seines Pferdes. »Du solltest ihm keine Stiefel hinstellen, die für einen reifen Mann gemacht sind.«

Keno Hylmerisna richtete sich auf. Er hob das Kinn und streckte seine Schultern. »Sorge dich nicht um meinen Sohn, sorge dich eher um deinen. Ocko wird nicht nur reifen. Er wird ein großer Mann werden. Und er wird lernen zu herrschen!«

Magnus fuhr herum. »Zu herrschen? Über wen?«

Der Brokmanne warf seinem Sohn einen raschen Blick zu. Mit gezierten Bewegungen zupfte er sich die Handschuhe von den Fingern, betrachtete sie angelegentlich. An der rechten Hand trug er einen goldenen Siegelring. »Zunächst einmal über seine Familie. Sodann über Brokmannia, und, mit Gottes Hilfe, auch darüber hinaus«, sagte er lächelnd und Magnus begann so unvermittelt zu schreien, dass sogar der lange Holländer zusammenfuhr. Ockos Gaul machte einen Satz zur Seite und nur mit größter Mühe hielt sich der Junge im Sattel.

»Lass Gott aus dem Spiel, Keno. Er hat mit deinen Plänen nichts zu tun. Was du willst, kann nicht gottgefällig sein. Der Herr will seine Kinder nicht als Sklaven, sondern aufrecht und frei!«

Der Brokmanne lächelte noch immer und schüttelte langsam den Kopf. »Du irrst dich, Magnus. Und wer spricht von Sklaven? Aber Gott will Ordnung, auch in seiner Herde. Vor allem dort! Und Ordnung bedeutet auch Unterordnung. Sieh dir seine Kirche an!«

Er hob den Arm und winkte dem Fremden. Magnus sah, dass der Bewaffnete auf den Füßen war, wahrscheinlich hatte ihn sein Schreien alarmiert, und sofort stieg der Mann auf und gab seinem Pferd die Sporen.

»Das Wesen der Ordnung beruht also auf Überordnung und Unterordnung, Magnus tom Diek«, fuhr der Brokmanne gestelzt fort. »Oben und Unten. Herrschen und Dienen. Befehlen und Gehorchen. Führen und Folgen. Es erschreckt mich, dass du das nicht weißt, und es tut not, sich darüber klar zu sein, denn anders geht unser Friesland vor die Hunde.«

»Unser Friesland oder deins?«, fauchte der Redjeve zurück.

Hylmerisna blieb beherrscht. Sein Lächeln vertiefte sich und seine Stimme hatte nun einen werbenden, versöhnlichen Tonfall. »Du und ich, Magnus, wir sind geboren, um zu führen. Begreife es doch endlich: Wir können unsere Heimat auf Dauer nur schützen, wenn wir stark sind. Stärke gewinnt man durch die Vereinigung von Kräften, durch ihre Bündelung in einer … in wenigen Händen, nicht jedoch durch ihre Verteilung auf viele!«

Der Bewaffnete war inzwischen heran. Er parierte sein Pferd durch, blieb aber im Sattel. Seine harten Augen huschten hin und her, er versuchte, die Situation zu erfassen. Der lange Adriaan schob sich demonstrativ nach vorn und trat neben seinen Schollenherrn. Ocko hockte auf seinem unruhig tänzelnden Pferd, noch immer wie vom Donner gerührt, den Blick erschreckt auf seinen Vater gerichtet. Aber da war noch etwas anderes. Seine Haltung, die hochgezogenen Schultern über dem massigen, gedrungenen Rumpf drückten Widerstand und Aggression aus.

Magnus schüttelte den Kopf. Er schrie nicht mehr, sondern sprach ruhig und beherrscht. »Du sagst Kräfte, aber du meinst Macht. Du sprichst von wenigen Händen und meinst doch am Ende nur deine. Du herrschst in Noerderlant, und ich, solange es dir gefällt, im Hairlingerlant, so ist es doch, wenn ich dich richtig verstehe? Keine Redjeven, kein Umgang. Ich kann deinen Weg nicht mitgehen, Keno Hylmerisna. Auf diese Weise verlieren die Friesen ihre Freiheit!«

Der Brokmanne saß auf. Er nahm seine pelzverbrämte Mütze vom Kopf und wischte sich mit dem Seidentuch über die Stirn. Sein Blick wanderte über den Richtplatz, strich gleichgültig und ausdruckslos über das Moor und blieb schließlich an der Stelle hängen, wo die Leiche des Gehenkten versunken war. Als er sprach, kam seine Stimme kühl und unbeteiligt.

»Dein Schluss ist falsch. Und selbst, wenn es denn so sein sollte: Es ist besser, die Friesen verlieren ihre Freiheit oder das, was du dafür hältst, an friesische Herren als an fremde.«

Magnus machte einige rasche Schritte auf den Brokmannen zu und der Fremde griff nach seiner Langklinge. Plötzlich lag kalte, lauernde Spannung über dem Platz. Der Bewaffnete hatte sein Schwert am Griff gepackt, Magnus stand breitbeinig und mit kantigem Kinn vor Keno Hylmerisna, die Arme vor der Brust verschränkt. Der lange Adriaan deckte ihn mit geballten Fäusten gegen den Fremden ab. Er war ebenso unbewaffnet wie sein Schollenherr, aber es war klar, er würde kämpfen, wenn es notwendig werden sollte. Für eine Weile blieb es ruhig, sie maßen sich mit Blicken, niemand rührte sich. Die Beklemmung löste sich ganz allmählich, als Pferd des Brokmannen schnaubte, mit dem Schweif schlug und zu grasen begann. Der Fremde löste seine Hand vom Schwert und irgendwer, es war wohl Ocko, ließ mit einem langen Seufzer in der Lunge gestaute Luft entweichen.

»In dieser Sache werden wir Gegner bleiben«, sagte Magnus fast heiter, aber mit fester Stimme. Er winkte den langen Holländer zu sich und sie entfernten sich ein paar Schritte, dann wandte der Redjeve sich um: »Und ich bin nicht allein. Es gibt noch andere, die so denken wie ich.«

Der Brokmanne starrte ihn finster an. »Ich weiß, wen du meinst. Stidolf Noerlant und seine Kumpane, zum Beispiel. Waschweiber, die sich im Suff übers Ohr hauen und in den Kerker werfen lassen!«

»Sie sind Richter in Noerderlant und Stidolf ist dein gewählter Redjeve, da du dort Besitzungen hast«, gab Magnus scharf zurück. »Ich werde, gemeinsam mit ihnen, zu einer Tagung am Upstallesbame29 rufen. Bei diesem Thing30 …«

»Ihr habt kein Mandat!«, unterbrach ihn Hylmerisna schroff, »Thingstätte der Friesen ist Gruningenn31. Dort wird Recht gesprochen und dort werden Fragen des Gemeinwesens geklärt, nirgendwo sonst!«

Magnus lächelte. »Der Upstallesbame ist eine alte Richtstätte. Es gibt keinen Grund, die Friesen der sieben Seelande32 nicht an diesem Platz zu versammeln. Die Friesen ostwärts der Lauwers laden dazu ein.«

Hylmerisna richtete sich im Sattel auf. »Es wird niemand kommen!«

»Das bleibt abzuwarten!«

»Die Zeit wird knapp«, sagte der Brokmanne.

Magnus lächelte noch immer. »Es sind bereits Boten unterwegs.«

Hylmerisna fuhr hoch und stellte sich in die Steigbügel. »Du hast Boten ausgesandt? Hinter meinem Rücken?«, schrie er.

»Nicht hinter deinem Rücken. Auch zu dir habe ich einen Boten geschickt. Er hat dich nicht angetroffen. Deine ›Gäste‹ haben ihn abgewiesen«, erwiderte Magnus kühl und warf einen langen Blick auf den bewaffneten Fremden, der dem Wortwechsel mit kalten Augen folgte. Es war nicht erkennbar, ob er ihn verstand.

Der Brokmanne beruhigte sich und sank in seinen Sattel zurück, aber an seiner Stirn pochte zornig eine Ader. Er warf dem Kerl in Waffen einen wütenden Blick zu und wischte sich über die Stirn. »Ihr habt kein Mandat!«, wiederholte er eigensinnig. »Was immer ihr dort tut oder entscheidet, es wird keinen Bestand haben. Die Gruningenner werden es nicht hinnehmen.«

Magnus schüttelte den Kopf. »Wir sind in unseren Landgemeinden immer noch Gerichtsherren. Und es gibt Recht zu sprechen. Wer will uns daran hindern, es am Upstallesbame zu tun? Die Westfriesen sind eingeladen und sie werden kommen.«

Er nickte dem langen Adriaan zu und der Holländer stiefelte los, um ihre Pferde zu holen.

»Im Übrigen werde ich die Tagung dazu zu nutzen, den Friesen ihre Lage klarzumachen. Es gibt Anlass, über gewisse Dinge gemeinsam nachzudenken. Wo wäre das besser möglich als an unserem ältesten Thingplatz?« Magnus tom Diek sah den Brokmannen freundlich an. »Auch du solltest kommen, Keno Hylmerisna, denn du bist betroffen, Du besonders!«

Hylmerisna musterte ihn stumm und feindselig. Adriaan kam mit ihren Pferden und sie saßen auf. Ihren Abschiedsgruß erwiderte niemand.

14) Westbense, untergegangener Ort im Harlingerland.

15) Schwerer Silbergroschen, erstmals 1266 durch den französischen König Louis IX als »Gros tournois« im französischen Tours geschlagen. Später auch in Westeuropa als »Turnosegroschen« verbreitetes Zahlungsmittel. Vorbild für die Groschenprägung insgesamt.

16) Norden

17) Mittelalterliches Flächenmaß für Äcker und Weiden. Ein Gras entsprach etwa einer Fläche von 0,5 Hektar.

18) Tagelöhner eines Bauern, der hauptsächlich mit Brot und Bier entlohnt wurde.

19) Uttum und Visquard, Dörfer in der Krummhörn.

20) Durch Wahl oder festgesetzte Reihenfolge wechselnde, zumeist auf ein Jahr befristete Befugnis als Gerichtsherr und Führer des Wehraufgebots der Landgemeinde.

21) Aurich

22) Alte Königssteuer, in der karolingischen Zeit wohl erstmals erhoben.

23) Hier: Vollstreckungsgehilfen. Freiwilliger Dienst von Männern zur Unterstützung des Redjeven bei exekutiven Amtshandlungen.

24) Dunum

25) Wangerland

26) Westergo, heutiges Westfriesland westlich von Groningen

27) Nächtlich verübte Brandstiftung, eine Tat, die nach der 16. Volksküre mit dem Tode bestraft wurde. Ein Freikauf war nicht möglich.

28) Wichtigster Helfer auf dem Hof eines Bauern, vergleichbar einem Vormann oder Vorarbeiter.

29) Upstalsboom, alte Gerichts- und Versammlungsstätte der Friesen nahe Aurich.

30) germanische Bezeichnung für Versammlung.

31) Groningen, in den heutigen Niederlanden

32) Vereinigung der friesischen Landesgemeinden etwa ab dem 12. Jahrhundert.

Friesische Herrlichkeit

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