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Wenn ein Mann derart angegriffen wird, dass er die Flucht ergreift, und er dann in ein Haus oder einen Hof flieht, und von dorther dem draußen Stehenden anbietet, alles zu büßen, was er verbrochen hat, so sind alle Wunden, die man ihm danach im Hause schlägt, zweifach zu büßen und friedensgeldfällig, und alles, was er auswärts kämpfend anrichtet, ist einfach zu büßen und friedensgeldfrei.

14. Rüstringer Landrecht

Upstallesbame, Auwreke,

den vierten Tag nach St. Johannis, Anno Domini

1345 (Dienstag, 10. Mai)

Die Dämmerung war bereits weit fortgeschritten, als sie eintrafen. Sie hatten das Läuten zur Vesper schon vor Stunden gehört, als sie das Kirchspiel von Aaresdorppe62 durchritten, und wie Magnus befürchtet hatte, waren die beiden Äbte schon beim Angelusgebet. Der einfache Holztisch war mit einer kostbaren Altardecke belegt, so reich verziert, dass sie aus dem Kloster Marienkamp stammen musste und tatsächlich hatte Abt Hilderaad sie anlässlich seiner Investitur als Geschenk des Erzbischofs von Brema erhalten.

Sie übergaben ihre Pferde einem Knecht an der Koppel und mischten sich unter die Leute. Erleichtert stellte Magnus tom Diek fest, dass die Versammlung noch nicht vollständig sein konnte. Zu wenige Köpfe hoben sich in zunehmender Dunkelheit gegen das spärliche Licht der Fackeln ab. Aber dann schlug seine Stimmung in Besorgnis um. Gut möglich, dass gar nicht alle kommen würden. Immerhin lag die letzte Tagung am Upstallesbame mehr als achtzehn Jahre zurück, heute war Gruningenn Thingplatz der Friesen und er, Magnus tom Diek, war auch als gegenwärtig amtierender Redjeve des Hairlingerlantes nicht befugt gewesen, zu dieser Versammlung einzuladen. Er hatte es trotzdem getan und es waren bereits eine ansehnliche Zahl Richter zur Stelle. Das machte ihn zuversichtlich. Als er dann einige Schritte entfernt Keno Hylmerisna stehen sah, umringt von seiner Delegation, die Augen kalt und bohrend auf ihn gerichtet, fuhr eine heiße Welle durch seinen Körper und sein Herzschlag beschleunigte sich. Also war auch der Brokmanne gekommen, wie Magnus ihm geraten hatte. Ob aus Einsicht, aus Berechnung oder aus Machtkalkül, würde sich zeigen.

Er war zufrieden und der Zorn über ihre Verspätung begann sich zu legen. Ärgerlich war die Sache auf jeden Fall. Kurz vor Tagesanbruch war ein fremder Trupp Berittener gemeldet worden, angeblich alle in Eisen. Einem Bauern an der Küste hatte man offensichtlich einige Schafe von der Weide geholt, dabei die Umzäunung eingerissen und es ging das Gerücht, im benachbarten Astringe63 sei eine junge Frau mitsamt ihrer Schar Gänse spurlos verschwunden. Magnus tom Diek hatte das Tor zu seinem Anwesen schließen und die angrenzenden Kirchspiele alarmieren lassen. Dann hatten sie gewartet. Er war ungehalten über diese Vorfälle, wenn sie denn stimmten, die seinen Aufbruch zur Tagung zunächst verhinderten. Sein Sohn Enno und der lange Adriaan, die ihn begleiten sollten, waren bereits festlich gekleidet gewesen, die Pferde hatten gesattelt vor dem Stall gestanden, Proviant und Decken für die Nacht waren gepackt und aufgelegt. Aber sie mussten abwarten, bis sich die Meldung bestätigte oder als falsch erwies.

Als sich bis gegen Mittag nichts rührte und sie die ganze Sache für erledigt hielten, waren sie aufgesessen und losgeritten. Erst sehr viel später, nach ihrer Rückkehr, wurde ihm berichtet, wie alles vermutlich zusammenhing. Da nahm der lange Holländer den alten Tjarko ins Gebet, stellte ihn zur Rede und erfuhr trotzdem nichts Genaues. Aber der Pferdeknecht war es gewesen, der die Meldung über den Reitertrupp gemacht und damit den ganzen Hof in Aufruhr gebracht hatte. Der lange Holländer hatte ihn sich auf dem Turm vorgenommen, es war Tjarkos Lieblingsplatz. Er hielt sich oft dort oben auf, auch wenn es eigentlich nicht notwendig war, über Tag oder weil ein anderer Mann bereits Wachdienst am Ausguck tat. Der Pferdeknecht hatte an einer Zwiebel gegessen, und an einem Kanten Brot, als der Lange auf den Turm gestiegen kam.

»Was war los? Warum hast du geschrien und das Alarmholz geschlagen? Warum machst du den ganzen Hof verrückt?«, hatte Adriaan den Alten scharf gefragt, und Tjarko hatte ihn aus wässerigen Augen angestarrt.

Seine Stimme war vorwurfsvoll gewesen, er hatte sich geärgert über die Zweifel an der Stichhaltigkeit seiner Meldung. »Na Mann, ich hab’s doch schon gesagt. Da war dieser Kerl auf dem Pferd!«

»Dann sagst du es eben noch mal. Was für ein Kerl? Was für ein Pferd?« Der lange Holländer hatte den Pferde­knecht hart am Kittel gepackt und so heftig geschüttelt, dass dem Alten die Zwiebel aus der Hand geflogen war. Der Kopf des Knechts war bedenklich hin und her geschlagen, sein dürrer Hals hatte ihn kaum halten können. »Los, spuck’s aus! Die Sache hat uns fast einen Tag gekostet, verdammt, wir waren um ein Haar zu spät am Thing!«

»Ein Reiter. Kannte ihn nicht. Sagte, er käme von Westen, weiß nicht genau, Brokmannia oder Noerderlant, da waren die Fremden auch!«, hatte der alte Pferdeknecht geschrien und da hatte der Handmann ihn losgelassen. Brokmannia! Für ihn stand nun fest, dass Keno Hylmerisna hinter der Geschichte steckte. Eine Finte. Eine Lüge, geschickt platziert, um den Redjeven von Hairlingerlant und wer wusste wen sonst noch daran zu hindern, an den Tagungsort zu kommen. Oder ihn zumindest aufzuhalten.

»Wohin ist der Kerl abgeritten?«, hatte Adriaan, nun versöhnlicher, gefragt.

Aber dem alten Tjarko hatte die Sache immer noch gewaltig gestunken. Er hatte seine Kittelbluse geordnet, sich nach seiner Zwiebel gebückt und eine unbestimmte Bewegung gemacht, nach Südwesten zu. »Da hin. Weiß nicht genau. War ja noch dunkel«, hatte er mürrisch gesagt und sich abgewendet, seine Brust immer noch reibend.

So war das gewesen. Als der lange Holländer dann seinem Schollenherrn berichtete hatte, hatte Magnus tom Diek mit verschlossenem Gesicht genickt, sich aber jedes Kommentars enthalten. Er hatte wohl auch einen Verdacht gehegt und ihn nun bestätigt gefunden.

*

Die Äbte standen hinter dem Altartisch und beteten sich durch die Angelusliturgie. Sie waren auf Weisung ihrer Erzbischöfe hier. Otto I. von Brema und Ludwig der Hesse, Erzbischof von Monasterium, hatten einen langen Arm, er reichte bis hierher, zum Upstallesbame, bis zum Thing der Friesen. Magnus tom Diek war hinterbracht worden, dass Keno Hylmerisna die Diözesanherren über seinen Tagungsplan informiert hatte, natürlich mit dem Ziel, dass Treffen zu hintertreiben. Die Oberhirten hatten sich, offenbar einvernehmlich, anders entschieden und ihre Äbte geschickt. Ihnen war die Kontrolle der Kirche durch die Anwesenheit von Prälaten wohl wichtiger als der vielleicht misslingende Versuch, die Tagung zu verhindern.

Die Entscheidung war trotzdem nicht ohne eine gewisse Würze, denn jeder wusste, dass Eghardus und Hilde­raad sich von Herzen hassten. Als Benediktiner wurde Hilderaads natürliche Arroganz durch das Bewusstsein genährt, dem ältesten Orden der Kirche anzugehören, ja, Abt dieses Ordens zu sein. Daraus schöpfte er nicht nur ein besonderes Wertgefühl für sich und seine Brüder, er machte dem Zisterzienser Eghardus die Abspaltung dieser Ordensrichtung von seiner eigenen Bruderschaft leichten Herzens zum persönlichen Vorwurf. Im Übrigen konnte er den Abt von Ihlo einfach nicht riechen. Seine Einfachheit, seine Askese und die puristische Bescheidung seines Ordens waren ihm verdächtig, zuwider, sie rochen ihm zu sehr nach Selbstgerechtigkeit. Mit verächtlichem Blick streifte er den hageren Mann neben ihm, gekleidet in einer einfachen Wollkutte mit einem Überwurf aus hellem Leinen, gegen den er sich in seinem wohlgefüllten schwarzen Habit mit dem seidenen Cingulum64 auch äußerlich deutlich abhob.

Die unterschiedlichen Auffassungen zur Liturgie traten ebenfalls klar zutage. Hilderaad betete mit wohltönender Stimme die Einleitungsverse, während Eghardus flach, nahezu tonlos die ersten Sätze des Ave Maria hinzufügte, bevor die Versammelten einfielen.

»Ecce ancilla Domini. Fiat mihi secundum verbum Tuum; siehe, ich bin die Magd des Herrn, mir geschehe nach deinem Wort«, sang Hilderaad klangvoll und Eghardus begann spröde ein »Ave Maria, gratia plena; gegrüßet seist du, Maria, voll der Gnade …«, das dann von der Gemeinde aufgenommen wurde und sich im allgemeinen Gemurmel verlor. Dabei hielt der Zisterzienser die Augen fest geschlossen. Er öffnete sie nur gelegentlich, schielte dann glitzernd und kalt über den gefalteten Händen und ohne den Kopf zu drehen auf seinen Amtsbruder und sein Gesichtsausdruck sprach Bände.

Der Teufel mochte wissen, ob diese persönliche Gegnerschaft nicht doch weitere Ursachen hatte. Man konnte zweifellos annehmen, dass es auch in den Beziehungen beider Klöster Spannungen gab. Da war der Kampf um Patronatsrechte, Einfluss auf die umliegenden Kirchspiele, Ländereien und Wirtschaftsgüter. Alles dies mündete letzten Endes in Fragen der religiösen Rangordnung und damit in die Machtstellung der Klosterführung selbst. Keine gute Grundlage für freundschaftliche Kooperation, besonders dann nicht, wenn sich die Äbte gegenseitig nicht ausstehen konnten.

Die Prälaten wurden aufmerksam beobachtet. Kaum jemand glaubte daran, dass es ihnen gelingen würde, das Thing gemeinsam harmonisch zu moderieren und erfolgreich zu beenden. Es lag jetzt schon Streit in der Luft, sogar zwischen den beiden Klosterführern. Und in diesem Augenblick schoss Magnus tom Diek durch den Kopf, dass die Erzbischöfe ihre Wahl mit genau diesem Ziel getroffen haben könnten. Anwesenheit der Kirche durch hochrangige Vertreter, jawohl. Aber auch Verhinderung von Beschlüssen durch Einfluss auf die Tagungsführung. Mit der Macht der Kirche im Rücken. Durch Moderation in Streitfällen, die einfach keine Einigung zuließen. Moderation im Sinne des Klerus, wohlverstanden! Und vielleicht sogar durch das genaue Gegenteil: das Schüren von Streit, das Betonen von Gegensätzen, das Schaffen von Unfrieden, Eingriffe, die im Eklat endeten und schließlich den Abbruch des Thing erzwangen. Vielleicht hatte sogar Keno Hylmerisna diesen Rat gegeben. Weil er seinen, Magnus tom Dieks Erfolg nicht wollte. Und weil er die Versammlung der Redjeven als Einrichtung ablehnte.

Magnus sah zu dem Brokmannen hinüber und glaubte nun seinen Augen nicht zu trauen, als er im dämmrigen Schein der Fackeln Bruder Ludgerus neben Hylmerisna stehen sah, der eifrig auf ihn einredete. Dieser verdammte Hund! Er hatte sich über ihn geärgert, seit sie aufgebrochen waren. Über ihn, sein Verhalten während des Tages und in den vergangenen Wochen. Es schien Magnus tom Diek so, als fügten sich ganz allmählich Teile eines Mosaiks zu einem Bild zusammen und die Ereignisse gingen ihm erneut durch den Kopf.

Auf dem Weg nach Süden, Richtung Auwreke, waren nach und nach die übrigen Richter der Landgemeinde zu ihnen gestoßen und der Trupp aus Hairlingerlant hatte sich auf fünfzehn Mann vergrößert. Verschiedene Richter waren von Priestern aus ihren Kirchspielen begleitet worden, und auch Bruder Ludgerus hatte zum Gefolge des amtierenden Redjeven gehört. Der Mönch hatte, verdrießlich wie üblich, auf seinem Maultier gehockt und sich missmutig mit dem inzwischen wieder genesenen Pfarrer aus Dunumi unterhalten, der südlich von Stedes­torppe65 gemeinsam mit dem Aufgebot der dortigen Richter zu ihnen gestoßen war. Ludgerus hatte schon auf dem Ritt eine Stimmung ständiger Unzufriedenheit verbreitet, war einfach schlechter Laune gewesen, der Himmel mochte wissen warum, er hatte seinen Amtsbrüdern mit finsterer Miene zugehört und gelegentlich eine sauertöpfische Bemerkung in das Gespräch geworfen. Dabei hätte er doch allen Grund zur Freude gehabt, denn seine Kirche erhielt ein festes Dach.

Es war der lange Holländer gewesen, der nach einem Ausritt seinen Schollenherrn angesprochen hatte, mit einem ganz merkwürdigen Ausdruck in den Augen. »An deiner Kirche wird gebaut, Herr? Und wozu so plötzlich?«

Magnus war hochgefahren und hatte Adriaan angestarrt. Dann war er mit einem Ruck auf den Füßen gewesen. »Komm mit!«

Sie waren im gestreckten Galopp geritten und der Lange hatte seinen Schollenherrn unter dem Donner der Hufe schon einmal grob ins Bild gesetzt. »… Dach bereits abgedeckt … Ziegel schon da … viele fremde Arbeiter … Ludgerus dazwischen, ein Springteufel …!«, hatte er stoßweise gerufen und gesehen, wie sich das Gesicht seines Herrn vor Zorn verhärtete. Selbstverständlich hatte er, Adriaan, versucht, den Priester zur Rede zu stellen, hatte ihn gefragt: »Was tust du hier, Mönch?« Aber der hatte ihn in seiner Hoffart, in seiner verdammten arroganten Art, nicht einmal zur Kenntnis genommen. Dieser verdammte, kuttentragende Pfaffe!

Schon von weitem hatte man das von Stroh befreite Dachgerüst der Kirche erkennen können. Arbeiter waren offenbar dabei gewesen, zusätzliche Balken einzuziehen, die das größere Gewicht des neuen Daches aufnehmen sollten. Hinter der letzten Wegbiegung hatte sich der Bauplatz vor ihnen geöffnet. Zimmerleute hatten Gebälk geglättet und auf Länge gesägt. Von einem Ochsenkarren waren soeben Körbe mit frisch gebrannten Ziegeln abgeladen worden. Es musste mindestens die zweite Fuhre gewesen sein, denn einige Dutzend weiterer Körbe hatten bereits auf dem Platz gestanden. Etwas abseits waren Arbeiter dabei gewesen, die alte Strohbedeckung zu bündeln und ihren Abtransport vorzubereiten. Dazwischen waren Kinder gewieselt und Lehrbuben und hatten mit Rechen Halme zusammengeholt oder das alte Moos der Abdichtung zu Haufen gefegt. Ludgerus war um die Arbeiter herumgehüpft, als wollte er überall zugleich sein. Seine Kutte hatte um seinen mageren Körper geflattert wie schlagendes Segeltuch um einen Schiffsmast. Magnus hatte noch im Sattel nach dem Mönch gerufen, und er war auch nicht abgestiegen, als sich der Benediktiner nun mit aufsässiger Miene vor ihn stellte.

»Was tust du hier?«

»Ich decke meine Kirche«, hatte der Priester frech geantwortet und dem Blick des Redjeven standgehalten.

»Es ist nicht deine Kirche!«, hatte Magnus laut erwidert und sich im Sattel vorgebeugt. »Wie kommst du dazu, ohne mein Wissen und meine Genehmigung an der Kirche zu bauen?«

»Es geschieht nicht zu deinem Nachteil, Herr, sondern zur Ehre Gottes. Warum soll ich dich da um Erlaubnis fragen?«, hatte der Priester keck gekontert und Magnus hatte den langen Adriaan hinter sich zornig knurren und ungeduldig mit der Kandare seines Pferdes klingeln gehört.

»Über dein Verhalten reden wir noch«, hatte Magnus tom Diek gesagt, war abgestiegen und hatte mit dem Kopf auf die Kirche gewiesen. »Da hinein. Und lass das Dach räumen. Adriaan, du kommst mit!« Sie hatten die Kirchentüre noch nicht geschlossen, da war der Redjeve so hart herumgefahren, dass Bruder Ludgerus vor Schreck zurückgeprallt war. »Von wem ist das Material? Und wer bezahlt die Arbeiter?«

Ludgerus war bleich geworden. »Es ist eine Schenkung, Herr. Eine Schenkung an die heilige Mutter Kirche. Eine gottgefällige …«, hatte der Mönch gestammelt, aber Magnus hatte ihm mit einer heftigen Handbewegung das Wort abgeschnitten.

»Von wem?!«

Ludgerus hatte sich gewunden wie ein Aal. Diese Fragen waren ihm zu früh gekommen. Er hatte vor dieser Auseinandersetzung, die wohl unvermeidlich gewesen war, alles fertig haben wollen. Oder doch zumindest sehr weit sein. Tatsachen schaffen. Fakten, die nicht mehr rückgängig zu machen waren. Aber dann musste dieser verfluchte Holländer auftauchen und natürlich gleich zu seinem Schollenherrn kriechen.

»Warum bist du nicht zufrieden damit, dass deine Kirche ein festes Dach bekommt? Ohne deine Pfennige?«, hatte Ludgerus störrisch gesagt und Magnus, der registriert hatte, dass es nun plötzlich wieder seine Kirche war, hatte die Stimme zu aller Lautstärke gehoben, deren er fähig war.

»Zum letzten Mal, Mönch: Von wem kommt das Geld?!«

Ludgerus war zusammengezuckt, hatte den Kopf gesenkt und auf seine rissigen Hände gestarrt. »Von Keno to Brokmannia«, hatte er dumpf gemurmelt und war mit einer leichten Bewegung in die Knie gegangen, hatte sich weggeduckt, als erwarte er, geschlagen zu werden.

Magnus hatte gestanden wie vom Donner gerührt, hatte den Priester angestarrt, dann den langen Holländer, hatte in dessen Blick ein kaltes Glitzern und ihn schließlich langsam nicken gesehen und noch immer geglaubt, nicht richtig gehört zu haben. »Von wem?«

»Keno to Brokmannia!«, hatte der Mönch wiederholt und Magnus tom Diek hatte diesen Worten nachgelauscht und sie nicht begriffen und allmählich, ganz langsam, war ihm klar geworden, was Ludgerus da gesagt hatte. »Du meinst Keno Hylmerisna?«

Der Priester hatte genickt und den Blick gehoben. In seinen Augen hatte nun eine Mischung aus Furcht und Trotz gestanden. Magnus hatte das Herz gespürt, es hatte hart gegen seine Rippen schlagen. Wie kam der Brokmanne zu solchen Machenschaften, hinter seinem Rücken in seiner Landgemeinde, dazu noch in seinem eigenen Kirchspiel? Woher nahm der Mann die Stirn? Und was bezweckte er damit? Denn eine Absicht stand gewiss dahinter. Ein Keno Hylmerisna tat nichts ohne guten Grund.

»Wie nennst du ihn?«, hatte er scharf gefragt. »Keno to Brokmannia?« Ludgerus hatte erneut genickt und von Adriaan war ein verächtliches Grunzen gekommen. Magnus hatte einen Blick mit dem langen Holländer gewechselt und sie hatten sich ohne Worte verstanden. Dynastischer Anspruch, hatte der Redjeve gedacht, da haben wir es wieder. Dahin wird es gehen. Er hatte sich aufgerichtet und den Benediktiner in offenem Zorn fixiert. »Das erlaube ich nicht. Nicht auf meinem Grund. Ich verlange die sofortige Einstellung aller Arbeiten. Das Baumaterial geht zurück, die Arbeiter schickst du weg. Das alte Dach wird wieder gedeckt!«

Der Mönch war mit einem gurgelnden Aufschrei weinend in die Knie gebrochen. In diesem Augenblick hatte Adriaan ihn für verrückt gehalten und tatsächlich hatte man um die geistige Gesundheit des Benediktiners fürchten müssen. Die Augen waren hervorgetreten, er hatte vor Aufregung geschielt und das ganze Gesicht war zu einer grotesken Fratze verzerrt gewesen. Er hatte sich sein hölzernes Brustkreuz so heftig vom Hals gerissen, dass der Lederriemen dabei in Stücke gegangen war, und hatte das Kruzifix seinem Schollenherrn drohend entgegengestreckt. Aus seiner Nase war der Rotz gelaufen und in den Mundwinkeln hatten Blasen von Speichel gehangen.

»Im Namen Gottes, des Allmächtigen. Amen. Wenn du das tust, gehst du deines Seelenheils verlustig. Du stirbst und fällst ewiger Verdammnis anheim! Amen! Amen! Amen!«, hatte er wie von Sinnen geheult, und wieder das Kreuz gehoben und geschrien und geschrien. Dann war er völlig zusammengebrochen, wie ein Käfer zu einer Betnische in der Seitenwand gekrabbelt und hatte sich dort in die Ecke gekauert, den gekrümmten Rücken nach draußen gewandt. »Du behinderst das Werk Gottes!«, hatte er geweint. »Gottgefälliges Werk ist es, das du hintertreibst. Das ist des Teufels, du wirst dafür büßen!«

Sie hatten ihn weinen lassen, und nach einer Weile hatte sich Ludgerus erstaunlich schnell erholt. Man hätte nicht sagen können, ob sein Gefühlsausbruch echt gewesen war oder er einfach nur großartig Theater gespielt hatte.

Magnus war inzwischen klar geworden, dass er keine Handhabe gegen den Bau besaß. Die ganze Geschichte war von dem Brokmannen äußerst raffiniert eingefädelt. Wenn Magnus den Neubau des Daches verbot, setzte er sich öffentlich ins Unrecht. Und in den Gegensatz zur Kirche. Das wollte er nicht. Die Worte des Benediktiners hatten ihn nicht nachhaltig beeindruckt, aber das Argument war nicht ganz von der Hand zu weisen. Die Verschönerung einer Kirche war gottgefällig und diese Kirche brauchte ein neues Dach, darauf hatte auch seine Frau Almeth vorsichtig hingewiesen. Magnus tom Diek hatte sich nun zu einer Entscheidung gedrängt gesehen, die er aus Kostengründen gern aufgeschoben hätte. Er hatte den Priester zu sich gerufen. Ludgerus hatte noch immer Speichelfäden an den Lippen gehabt und ein rotzverschmiertes Gesicht, aber seine Augen waren klar gewesen.

»Es bleibt dabei: Du schickst das Material und die Arbeiter zurück. Auf der Stelle! Dein neues Dach bekommst du trotzdem. Es wird vom Geld der tom Diek bezahlt.«

Der Benediktiner hatte genickte wie zur Bestätigung einer längst erwarteten Botschaft. Er hatte sich mit dem Kuttenärmel über die Nase gewischt und sehr zufrieden ausgesehen. Da war der Oberkörper des Redjeven nach vorn geschossen.

»Was hast du dem Brokmannen dafür versprochen, Mönch?«

Ludgerus war beherrscht geblieben. Er war jetzt wieder der blasierte Kirchenmann gewesen, mit sich und seinem Tun im Reinen. »Für ihn zu beten, Herr. Für ihn, seine Sippe und die Zukunft seines Hauses.«

»Ich hoffe, du betest jetzt für mich«, hatte Magnus spitz gesagt und Bruder Ludgerus hatte den Kopf geneigt.

»Das tue ich immer Herr, denn du hast es nötig.« Es hatte demütig geklungen und war doch eine glatte Unverschämtheit gewesen. Und dann hatte er kryptisch hinzugefügt: »Aber das ist nicht dasselbe.«

An diesem Punkt hatte sich Magnus wortlos abgewandt und den Mönch einfach stehen lassen.

Und nun stand dieser Kerl, Mitglied seines Gefolges und der Delegation von Hairlingerlant, wenige Schritte entfernt und flüsterte mit dem Brokmannen. Der stieß ihn an und Ludgerus hob den Kopf und sah zu ihm her­über. In seinen Augen stand herablassender Hochmut. Dieser Mann war fähig zur Sünde, um seinen Willen und seine Interessen durchzusetzen. Er würde auch seine Glocke bekommen, früher oder später, bezahlt vom Silber des Brokmannen oder von seinem. Magnus fürchtete, er werde gezwungen sein, einige Grase Land zu verkaufen, wie er es schon getan hatte, um Geld für den Bau des neuen Kirchendaches zu erlösen. Es blieb ihm wahrscheinlich nichts anderes übrig, wenn er Keno Hylmerisna aus seinem Kirchspiel heraushalten wollte.

»… und das Wort ist Fleisch geworden und hat unter uns gewohnt«, sang Hilderaad mit Inbrunst und die Menge begleitete Eghardus bei seinem Ave Maria.

Plötzlich war im Westen Unruhe, Hufgetrappel und das Schnauben von Pferden so laut zu hören, dass sogar der Zisterzienser die Augen öffnete und Magnus wusste, dass die Abordnung aus den unteren Seelanden eingetroffen war. Er warf dem Brokmannen einen triumphierenden Blick zu. Die Brüder aus den westlichen Provinzen waren da. Dem Lärm nach eine ansehnliche Delegation mit Vertretern aus allen Landgemeinden jenseits von Ems und Lauwers. Damit war die Tagung keine lokale Angelegenheit mehr, sondern umfasste die friesischen Lande als Ganzes, und Magnus begriff, dass die Erzbischöfe mit einer solchen Entwicklung gerechnet haben mussten. Die Anwesenheit der Prälaten bewies es.

Hilderaad hob den Kopf und blickte unwillig zur Pferde­koppel, von wo aus sich die Neuankömmlinge nun näherten. Es war nicht erkennbar, ob er sich über die Störung ärgerte oder darüber, dass mit der Anwesenheit der westlauwerschen Friesen die Tagung weiteres Gewicht gewann. Mochte sein, dass beides zutraf. Die Westfriesen, es waren wohl mehr als fünfzig Mann, nickten, bekreuzigten sich und stellten sich in die Menge. Es war zu dunkel, um Einzelheiten zu erkennen, aber Magnus nahm an, dass alle Richter gekommen waren, wie üblich durch Geistlichkeit aus den Kirchspielen begleitet. Dann erkannte er zu seiner Freude im Schein einer Fackel die massige Gestalt von Ayderd Zeerijp, dem Redjeven der Landgemeinde Oosterambt66. Neben ihm stand, knochig und hochaufgeschossen, Prior Allardus von Appingadamme67. Magnus stieß den langen Adriaan neben sich an. Der grinste und nickte. Er hatte seine Landsleute auch schon entdeckt. Während Hilderaad sich wohltönend durch die Schlussformel betete, sah Magnus tom Diek zu den Westfriesen hinüber. Er kannte und schätzte Ayderd Zeerijp als charakterfesten Richter, der in seiner Landgemeinde nach Recht und Gesetz für Ordnung sorgte. Dabei schreckte er auch vor reichen Familien nicht zurück und verfuhr gerade dann streng nach den Küren, wenn wohlhabende Sippen Sonderrechte für sich forderten.

Magnus dachte an einen Fall, der sich erst unlängst zugetragen hatte. Zwei Söhne reicher Bauern hatten in einer Schenke Streit mit dem Handmann eines Nachbargehöftes angefangen. Anscheinend war noch eine alte Rechung zwischen den Männern offen, irgendein Vorfall, fast schon vergessen, der nun wieder ins Bewusstsein gekommen war. Oder über die Jahre sorgsam gehütet, schlummernd auf eine Gelegenheit zur Abrechnung gewartet hatte, die jetzt gekommen schien. Jedenfalls saß der Handmann ruhig an seinem Tisch und löffelte seine Grützesuppe, als einer der beiden von draußen, wo er sein Wasser abgeschlagen hatte, mit steifen Beinen hereinkam.

Und blieb plötzlich vor dem Tisch stehen, an dem der Handmann saß, und fegte ihm ohne Vorwarnung mit einem blitzschnellen Schlag die Mütze von den Haaren. »Was will der Tagelöhner hier? Raus! Verschwinde!« Holte aus und trat gegen den Schemel und stieß den Kerl mitsamt dem Tisch um, die Suppe flog durch den Raum und der Holzlöffel schmetterte so hart gegen die Wand, dass er in Stücke ging.

Der andere war inzwischen aufgestanden und herangekommen und hatte mit einem Mal ein vierkantig geschliffenes Eisen in der Faust. Der Schankwirt fing an zu schreien und wollte dazwischenfahren, aber der Kerl mit dem Eisen wischte ihm mit der offenen, freien Hand derart eine an den Hals, dass der Wirt gurgelnd zu Boden ging. Die übrigen Gäste spritzten von ihren Bänken auf und rückten an die Wände, die beiden waren als Raufbrüder gefürchtet und keiner hatte Lust, sich mit ihnen anzulegen.

Der Handmann war kein Schwächling. Aber er sah ein, dass er hoffnungslos unterlegen war, und stürzte durch die Tür ins Freie, ehe ihm der Schläger den Weg verstellen konnte. Bis dahin war der Vorfall nichts weiter als einer der üblichen Raufhändel gewesen, eine alltägliche Angelegenheit, nicht der Rede wert und kaum ein Fall für den Richter. Doch die beiden Bauernsöhne hetzten dem Mann hinterher, verfolgten ihn durch die Dunkelheit, trieben ihn über knietiefe Äcker und stellten ihn schließlich in einem Sielgraben. Der Handmann hatte vergeblich versucht, über den schlammigen Abhang nach oben zu entkommen. Der Kerl mit dem Vierkant erwischte ihn, bekam seine Wade zu fassen und zerrte ihn gegen die verzweifelten Tritte des freien Fußes nach unten auf den morastigen Grund, wo der andere schon wartete. Was dann geschah, blieb ohne Zeugen.

Der Schankwirt schickte nach Ayderd Zeerijp, der holte seine Leute zusammen und noch in der Nacht fand man die Leiche, der Brustkorb war von Messerstichen zerfetzt. In der anschließenden Verhandlung sprachen die beiden Väter von Totschlag. Ihre Söhne wären beleidigt worden, der Handmann hätte sie gereizt und die tödlichen Stiche wären aus der Erregung des Augenblicks erfolgt. Der Grundherr des Toten führte dagegen den Nachweis, dass von einer Provokation nicht die Rede sein konnte, es gab genug Zeugen dafür. Die Bauern wollten unbedingt das Leben ihrer Söhne retten, beide waren Hoferben. Sie boten ein auffallend hohes Friedensgeld an, viel mehr, als nach den Küren gefordert war und verdoppelten es sogar noch im Laufe der Verhandlung. Aber der Redjeve verwarf das Angebot und erkannte nach der 16. Volksküre auf Tod durch das Rad wegen Mordes.

Die Leibstrafe wurde trotz des zunächst wütenden, später auf Mitleid setzenden Protestes der Familien vollstreckt. Ayderd Zeerijp war ein Mann, auf den man sich auch dann verlassen konnte, wenn die Dinge unfreundlich wurden. Magnus tom Diek war froh darüber, dass der Redjeve gekommen war.

Hilderaad war inzwischen beim Schlussgebet. Er kniete nieder, schoss einen scharfen Blick auf die Umstehenden ab und die Versammlung folgte ihm. Eghardus kauerte sich in einigem Abstand neben seinen Amtsbruder und legte die Stirn auf das kostbare Altartuch, was der Benediktiner mit Zorn in den Augen registrierte.

»Lasset uns beten. Allmächtiger Gott, gieße deine Gnade in unsere Herzen ein. Durch die Botschaft des Engels …!« Abt Hilderaad sprach die Worte mit Bedacht, langsam und mit theatralischer Betonung, so, als wollte er den Abschluss der Zeremonie hinauszögern. Als er schließlich zu Ende war, segneten die beiden Prälaten die Versammelten und zogen sich zunächst in ein von Stangen gehaltenes Haus aus gesteiftem Leinen zurück, das ihnen der Erzbischof von Brema zur Verfügung gestellt hatte. Sie wohnten während der Tagung beide darin, jeder in einer Kammer, nur durch ein Leinentuch getrennt und der Himmel mochte wissen, ob das gut ging.

Mönche beider Klöster hasteten herbei und räumten den Altar ab. Zisterzienser fischten die noch glimmenden Kerzen aus den Haltern, die Benediktiner griffen hastig nach Bronzeständern und Altarkreuz und rafften das kostbare Tuch zusammen, mit dem der Tisch bedeckt war. Anscheinend war bis auf die Lichter alles Eigentum des Klosters Marienkamp. Die Klosterbrüder rempelten sich an, warfen sich giftige Blick zu und achteten eifersüchtig darauf, dass niemand etwas nahm, das in die andere Abtei gehörte. Der Tisch wurde beiseite geschafft und Knechte brannten ein Feuer an, das den Platz erhellte. Frische Fackeln wurden aufgesteckt. Magnus ging mit Enno und dem langen Holländer durch die Menge, begrüßte andere Abordnungen, umarmte alte Freunde.

Bruder Ludgerus war wieder zu ihnen gestoßen und hatte sich von Adriaan einen scharfen Rüffel eingefangen. »Was hattest du mit dem Brokmannen zu flüstern, Mönch?«

Der Benediktiner richtete sich auf, würdigte den Handmann keines Blickes, sondern sah nur seinen Schollenherrn an. »Meine Gespräche mit Keno to Brokmannia dienen dem Wohl unseres Herrn und meiner Pfarrkirche«, erwiderte er hochnäsig und Adriaan grunzte verächtlich und spuckte auf den Boden.

Magnus tom Diek sah den Priester prüfend an, aber er sagte nichts. Dann nahm der Mönch den langen Holländer frontal an, seine Augen sprühten Feuer und die Stimme war ein einziges Fauchen. »Du verdammter Heide! Du schuldest mir Respekt. Wirst in der Hölle schmoren. Der Herrgott wird am jüngsten Tag Gericht über dich halten!«

»Mit der Macht deines Gottes kann es nicht weit her sein, wenn er einen wie dich zum Priester hat«, konterte Adriaan trocken. Es wäre gewiss zu einem scharfen Wortwechsel gekommen, hätte nicht plötzlich die Abordnung aus dem westlichen Oosterambt nur wenige Schritte vor ihnen gestanden.

Ayderd Zeerijp riss freudestrahlend die Arme auseinander. »Magnus, mein Freund und Bruder!«

Sie umarmten sich herzlich. Dann schob Magnus den Prior von Appingadamme nach vorn. »Du kennst Allardus. Er ist der Kirchenfürst in meinem Kirchspiel, vergibt mir meine Sünden und achtet auch sonst auf mein Seelenheil!«, sagte er und brach in ein dröhnendes Gelächter aus.

Der Augustinerprior verzog die Lippen zu einem kleinen Lächeln und neigte seinen hageren Oberkörper zu einer steifen Verbeugung. In dem asketischen, fast ausgemergelten Gesicht standen die Augen wie zwei glühende Kohlen. »Die Vergebung der Sünden ist Sache des Herrn. Ich grüße dich, Magnus tom Diek«, sagte er sanft und warf einen kurzen Blick auf das Runenholz im Gürtel des Redjeven. Magnus nannte ihn »Vater« und ergriff die überraschend warmen Hände.

Die weiteren Mitglieder der Abordnungen wurden vorgestellt und der lange Adriaan wechselte ein paar Sätze mit Ayderd in einem rasend schnellen westlichen Dialekt, der die Augen des Richters zum Strahlen brachten. Der Westfriese wurde von seiner Tochter Wiska begleitet, einem fröhlichen blonden Mädchen in Ennos Alter, das den Jungen freundlich und unbefangen begrüßte, während er mit feuerrotem Gesicht kaum wagte, seine Augen zu heben. Die beiden Väter standen schmunzelnd daneben. Allardus und Ludgerus begrüßten sich ohne jede Berührung, der Mönch mit einer tiefen, nahezu unterwürfigen Verneigung, aus der er mit gesenktem Kopf zurücktrat, der Prior hoch aufgerichtet, mit einem kurzen Nicken, das Gesicht distanziert und kühl.

»Gebt mir Euren Segen, Vater«, sagte Ludgerus flach und schlug hastig das Kreuz über der Brust, als der Augustiner ihn im Namen der Dreifaltigkeit segnete. Auch die Umstehenden bekreuzigten sich, aber es flogen fragende Blick hin und her.

Erst sehr viel später am Abend, als sie schon in den Decken lagen, stellte Ayderd den Prior wegen des Vorfalls zur Rede. »Was hattest du mit dem Mönch? Kanntest du ihn?«

Der Augustiner schüttelte den Kopf. »Nein. Aber er gehört zu den Hirten, die unserer Kirche nicht guttun. Man sieht so etwas, nach vielen Jahren. Gott schütze seine Schafe vor ihm!«

Ayderd Zeerijp starrte ihn an, aber er wusste nichts darauf zu sagen.

Ayderd legte den Arm um Magnus’ Schultern und führte ihn ein paar Schritte abseits. »Höre, Bruder. Es sind alle gekommen. Einige mit Widerwillen, aber es sind alle gekommen. Das hast du deinem guten Ruf zu verdanken. Verspiele ihn nicht!« Er unterbrach sich mit einem kurzen Räuspern und sah sich nach allen Seiten vorsichtig um. »Deine Botschaft hat westlich von Ems und Lauwers für ziemliche Unruhe gesorgt. Die Richter befürchten, dass du Gruningenn als Thingplatz der Friesen wieder in Frage stellen willst. Die schwerwiegenden Gründe, die du andeutest, halten sie für einen Vorwand.«

Magnus schüttelte den Kopf. Er wusste, dass es für Gruningenn als Tagungsort gute Gründe gab. Nach dem letzten Thing am Upstallesbame anno 1327 hatte man sich einvernehmlich darauf verständigt, die Friesen dort künftig zu versammeln. Der Ort lag nahezu mitten in Friesland und damit hatten alle Delegationen eine gleich beschwerliche Anreise. Schon in den Jahren vor dem Wechsel hatten die Abordnungen aus dem Westen beständig Klage über die gefährliche Reise geführt, die in unsicheren Zeiten oft nur in größeren Verbänden möglich war.

Zudem waren die Friesen in Gruningenn tüchtige Kaufleute. Das Thing zog allerlei Handel und Gewerbe an. Sogar in der Vorstadt gab es Gaukler und Märkte, an den Wirtshäusern standen plötzlich Dirnen, die Hüften umschlungen mit bunten Schärpen, Bratküchen und Schankbuden machten gute Geschäfte. Die Tagung der Friesen brachte Geld in die Kasse des Magistrats der Stadt, der Kaufleute und der Gewerbetreibenden und darauf wollte niemand verzichten.

Magnus tom Diek lächelte. »Sorge dich nicht. Grunin­genn bleibt.«

Dann legte er dem Oosterambter auseinander, welche Gründe er hatte, sie dennoch nach Upstallesbame zu rufen. Während er sprach, verdüsterte sich das Gesicht von Ayderd Zeerijp zusehends. Seine Augen wanderten durch die Menge und blieben schließlich an der Stelle hängen, wo Keno Hylmerisna in einer Gruppe von Richtern aus Brokmannia und dem Noerderlant stand. Magnus sah Stidolf Noerlant, Edo Onnisna und Willo ten Huus, offensichtlich in einer erregten Diskussion mit dem Brokmannen verwickelt. Edo Onnisna hatte, soweit im Dämmerlicht erkennbar, seinen üblichen hochroten Kopf und sprach jetzt sehr heftig. Der Brokmanne hörte mit mokantem Lächeln zu, die Augenbrauen höhnisch in die Stirn gezogen.

Hylmerisna schien den Blick des Westfriesen zu spüren, denn er löste sich von Edo und sah herüber. Starrte Ayderd eine Weile an, es war ein Duell mit den Augen und das Lächeln in seinem Gesicht gefror. Dann wandte er sich ab.

Ayderd Zeerijp blieb weiterhin auf die Gruppe fixiert. »Auch bei uns gibt es Richter aus reichen Familien, die den Umgang ablehnen und Theater machen, wenn sie das Amt abgeben sollen.« Er nahm seine Wollmütze ab, seufzte und wischte sich über den glänzenden Schädel. Außer einem tonsurartigen Kranz blonder Haare war er kahl. »Einige sind auch hier. Sie werden so sprechen, wie Keno Hylmerisna spricht. Gut möglich, dass er schon mit ihnen geredet hat!« Sein Blick wanderte über den Platz.

Beide Delegationen standen Schritte entfernt noch im Gespräch beisammen. Die Äbte, Hilderaad und Eghardus, hatten ihr Zelt verlassen und waren hinzugetreten. Sie trugen nun einfache Kutten. Hilderaad redete eifrig auf Prior Allardus ein. Der Augustiner lauschte hoch aufgerichtet und mit unbewegtem Gesicht. Bruder Ludgerus stand einen Schritt abseits, den Oberkörper leicht vorgebeugt, den Kopf demütig gesenkt und von der Kapuze gänzlich überschattet.

Ayderds Augen blieben auf dem Benediktiner hängen. Als er nun sprach, war seine Stimme voller Bitterkeit. »Verdammt, Magnus! Wir müssen uns diese Leute vom Halse halten. Gemeinsam. Unsere Väter haben das schon anno dreiundzwanzig versucht. In einer Friedensordnung, die für alle sieben Seelande gilt. Zur Abwehr von Ansprüchen, die sich gegen die Freiheit richten. Und sind gescheitert. Ich habe das Pergament68 bei mir.« Er klopfte auf eine Ledertasche an seinem Gürtel. »Wenn du deine Brüder ostwärts der Ems dazu bringst, uns zu unterstützen, dann bin ich bereit, dem Thing den Entwurf nochmals vorzulegen!«

Magnus schüttelte lächelnd den Kopf. »Mein lieber Freund. Dein Vater war dabei und meiner. Sie sind gescheitert, weil ihr Pergament eigentlich ein Schutzbündnis gegen den Grafen von Holland begründen sollte. Du weißt es. Was die Friesen aber damals wie heute brauchen, ist eine Kardinalregel zum Schutz der Freiheit gegen innere Bedrohung!«

In Ayderds Stirn gruben sich steile Falten.

Die Mönche hatten den Messtisch abgeräumt und die Tafel von den Böcken gehoben. Zwei Novizen stellten die Teile zusammen und deckten sie mit Tierhäuten ab. Knechte schafften geviertelte Baumstämme heran und bereiteten ein großes Feuer vor. Hinten bei den Abordnungen aus Brokmannia und Noerderlant drehten sich bereits die Spieße. Von einem Ochsenkarren mit mehreren Fudern Bier wurden erste Fässer entladen und angeschlagen. Unter einem Wetterdach sammelten sich Musikanten und stimmten ihre Instrumente. Enno stand jetzt mit Wiska in angeregtem Gespräch. Das Mädchen lachte und Ennos Schüchternheit schien mittlerweile verflogen zu sein.

Magnus’ Augen kamen zurück, seine Hand ruhte auf dem Runenholz. »Wir haben die siebzehn Küren und die vierundzwanzig Landrechte. Für alle Friesen gültig. Zumindest grundsätzlich. Gut und schön. Regeln für das tägliche Leben. Du weißt, dass hier die Landgemeinden zum Teil auch ihre eigenen Wege gehen. Wie zum Beispiel die Friesen in Rustringe69. Aber auch die Brokmannen haben ihre Küren, so wie das Emesingerlant, Fiwelgonia und die Landgemeinde Hunsego70. Das ist wohlgetan, solange wir nicht hinter die Grundregeln zurückfallen und Friedensbrüche bestraft werden. Aber es geht um mehr!«

Der Westfriese nickte. »Ich weiß, und du hast recht mit dem, was du sagst. Aber wie willst du deine Regel denn formulieren? Und wie willst du ihr Geltung verschaffen?«

Magnus hatte Ayderd Zeerijp den Arm um die Schulter gelegt und ihn zurück zu den beiden Delegationen geführt, wo man ihnen erwartungsvoll entgegensah. Auch die drei Prälaten verstummten. Ludgerus schob die Kapuze seines Habits zurück, in seinen Augen stand Ablehnung.

»Wir brauchen eine Primküre. Einen Satz, der unveränderbar gelten muss wie das erste der Zehn Gebote unseres Herrn. Ich habe ihn aufgeschrieben und werde ihn morgen dem Thing vorlegen«, sagte Magnus so laut, dass ihn alle Umstehenden hören konnten.

Und sofort erkannte er, dass er einen schweren Fehler gemacht hatte. Er durfte vor allem vor den Prälaten nicht den Eindruck erwecken, als maße er sich religiöse Rechte an. Aber genau das hatte er mit der Erwähnung der Zehn Gebote getan und das musste unweigerlich schärfsten Widerspruch verursachen. Ohne jede Not, nur aus einer Laune des Augenblicks heraus, hatte er seinem berechtigten Anliegen einen schlechten Dienst erwiesen. Ein Hitzeschwall durchfuhr seinen Körper und mit einem Mal war sein Gesicht schweißnass. Er sah den dolchartigen Blick seines Kirchspielpfarrers Ludgerus und um sie herum wurde es schlagartig still. Köpfe hoben sich und auch von den Delegationen aus Brokmannia und Noerderlant sahen Richter neugierig zu ihnen herüber.

Abt Hilderaad beugte sich unvermittelt vor. In seiner Stimme regten sich Argwohn und Misstrauen. »Und was wird denn drinstehen in deiner Primküre, Magnus tom Diek?«

Magnus vermied es, sich über das Gesicht zu wischen und sah ihn fest an. Zu seiner Erleichterung hatte der Prälat die christlichen Gebote nicht erwähnt. Ihm ging es offenbar vor allem um die Machtfrage. Aber hatte der Benediktiner seinen Lapsus nicht bemerkt? »Den genauen Text trage ich morgen vor, Vater. Er ist auf die Unterbindung von Missbrauch gerichtet.«

Prior Allardus nickte langsam. Der Abt drehte sein Ohr nach vorn, als habe er nicht richtig gehört. In seinen Augen stand plötzlich ein kaltes Lauern. »Missbrauch?«, fragte er scharf. »Von welchem Missbrauch redest du, mein Sohn?«

Einige der Umstehenden rückten näher und von hinten kam Keno Hylmerisna mit kleinen Schritten heran, gefolgt von seinem Sohn und einigen Richtern der Landgemeinde.

»Ich meine den Missbrauch der Macht!«, gab Magnus ebenso scharf zurück. »Missbrauch von Macht durch Aufhebung der Prinzipien, auf denen unsere Freiheit beruht. Missbrauch von Macht durch Ablehnung des Umgangs.«

»Ich kann nicht erkennen, inwiefern die Ablehnung des Umgangs bereits einen Missbrauch von Macht birgt«, sagte Hilderaad mit belehrendem Ton und hob den Zeigefinger. Seine Augenbrauen waren hoch in die Stirn gezogen. »Ich warne davor, in unsere bewährten Rechtsstrukturen einzugreifen. Die siebzehn Küren und die vierundzwanzig Landrechte bilden die Grundlage der friesischen Ordnung. So, wie sie ist, ist sie gottgefällig. Rechtssicherheit besteht vor allem darin, dass gesetztes Recht verlässlich gilt!«

Keno Hylmerisna und sein Gefolge waren nun heran. Die Augen des Brokmannen huschten rattenhaft hin und her, in seinem Gesicht stand gespannte Aufmerksamkeit. Auch die Delegationen aus dem Oosterambt und dem Hairlingerlant traten jetzt hinzu. Um die drei Prälaten und die beiden Redjeven schloss sich ein Kreis.

»Ich glaube nicht an die Gottgefälligkeit einer Rechtsordnung, die das wichtigste Gut der Friesen nicht schützen kann: die Freiheit«, sagte Magnus klar in die Stille hinein. Er erwiderte gelassen den Blick des Abtes, der ihn böse anfunkelte und den Mund öffnete. Doch bevor er sprechen konnte, fuhr Magnus fort: »Unsere Küren und Landrechte sagt uns, wie Totschlag zu sühnen ist. Sie legt auch fest, wie wir Diebstahl und Brandstiftung zu bestrafen haben. Aber was geschieht, wenn ein Großbauer glaubt, ihm stünde, weil er reich ist, mehr Einfluss und Macht zu als seinem kleinen Nachbarn? Wenn eine Sippe, die viele Köpfe zählt, aus dieser Tatsache Privilegien ableitet? Was tun wir, wenn ein Richter sich weigert, nach einem Jahr die Macht aus den Händen zu geben?«

Aus den Umstehenden erhob sich zustimmendes Gemurmel, jemand rief: »Wohl wahr!«, aber der Brokmanne sagte laut »Unsinn« und »Verrat« und es wurde auch ihm beigepflichtet. Darauf steigerte sich die Erregung zu erregten Wortwechseln und lautem Stimmengewirr, bis schließlich Abt Hilderaad mit hoch erhobenem Brustkreuz und einem scharfen Befehl in Latein die Menge zum Schweigen brachte.

»De hoc satis!«71Der Benediktiner warf einen eisigen Blick um sich, der schließlich an Magnus tom Diek hängen blieb. »Wir werden sehen, was du vorzuschlagen hast. Bruder Allardus hat sich einverstanden erklärt, gemeinsam mit Eghardus und mir den Thing zu einem glücklichen Ende zu führen.« Er nickte dem Augustiner zu. »Mit Gottes Hilfe wird es uns gelingen.« Dann hob er erneut mahnend den Zeigefinger und seine Augen wurden stechend. »Dir rate ich zur Mäßigung, Magnus tom Diek. Ich hoffe, du kennst die Folgen der Hoffart und der Unbotmäßigkeit. Tue nichts, was du hinterher zu bereuen hättest!«

Magnus verneigte sich. »Ich danke für den Rat. Die Tagung wird von den gewählten Jurati72 der Landgemeinden geführt, so will es der Brauch. Der Beistand der Kirche ist stets willkommen«, sagte er höflich, aber bestimmt und sah, wie sich die Züge des Abtes verdüsterten. Abrupt wandte Hilderaad sich ab. Die Menge öffnete sich und die drei Prälaten verließen den Kreis.

Niemand von ihnen hatte seinen Fehler mit den Zehn Geboten auch nur erwähnt, aber Magnus sah den nachdenklichen Blick von Bruder Ludgerus auf sich ruhen und wusste, dass diese Sache noch nicht vom Tisch war. Ludgerus würde sich an diesen Satz erinnern, so viel war klar. Schwer vorstellbar, dass er ihn nicht gegen seinen Schollenherrn zu verwenden wissen würde.

Keno Hylmerisna blieb mit seinem Gefolge stehen. Er hatte den Arm um seinen Sohn Ocko gelegt, der die Umstehenden mit ausdruckslosem Gesicht musterte. Auf den Zügen des Brokmannen lag ein unehrliches Lächeln. »Ich wünsche dir Glück, Magnus tom Diek. Du wirst es brauchen.« Dann sah er sich um und hob die Stimme. »Brüder! Fleisch und Bier warten auf uns. Die ersten Fässer sind angeschlagen. Ihr seid dazu eingeladen!«

Er nickte Magnus nochmals zu, lächelte immer noch, aber seine Augen straften ihn Lügen.

62) Ardorf, zwischen Aurich und Wittmund gelegen.

63) Östringen, ostfriesische Landgemeinde

64) Gürtelschnur einer Mönchskutte

65) Stedesdorf

66) Osteramt, Landgemeinde in den heutigen Niederlanden, Provinz Groningen.

67) Appingedamm, in der heutigen Provinz Groningen/NL.

68) Gemeint ist die Leges Upstalsbomicae, die im Jahre 1323 durch Vertreter der westfriesischen Gemeinden als Entwurf für eine gesamtfriesische Landordnung vorgelegt wurde.

69) Rüstringen, Landgemeinde zwischen Jade und Weser

70) Emsigerland, Fivelgoerland und Hunsingoerland, friesische Landgemeinden, letztere in der heutigen Provinz Groningen/NL.

71) Genug davon!

72) Geschworene, die auf die Einhaltung der Bestimmungen während des Things achteten. Sie bildeten zugleich ein Beschlussgremium für Streitfälle (»Gericht«), dessen Entscheidungen durch einen gewählten Sprecher, den »Enunciator« verkündet wurden.

Friesische Herrlichkeit

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