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Kleines Zwischenspiel (Rückschau)
1.

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Der Redjeve darf sein Urteil nicht abändern und nur einmal soll er den Tatbestand bestätigen und nur einmal soll er das Urteil verkünden; und wer ein unrichtiges Urteil findet, der zahlt dem Volke acht Mark, und sein Haus brenne man nieder, und er werde sofort seines Amtes enthoben.

Brokmer Recht, 24. Küre; Vom Fehlurteil der Redjeven.

Wenegher 89, Reyderlant 90, am Tage des heiligen St. Georgius Anno Domini 1345 (Samstag, 23. April)

Sie waren vor zwei Tagen aufgebrochen und Enno wusste, er würde diese Reise nie vergessen. Niemals in seinem Leben. Sie hatten nach langem Ritt in der Kirche von Straicholt91 übernachtet, weil Adriaan sich aus irgend­einem Grunde geweigert hatte, im Kloster Ihlo Station zu machen, hatten dann bei Lhare92 über die Ems gesetzt und die zweite Nacht bei einem Bauern in Bynningum93 verbracht, den der lange Holländer kannte. Am nächsten Morgen waren sie nach einem reichhaltigen Frühstück die Ems entlang nach Süden geritten, auf Wenegher zu. Der Streit mit dem Fährmann steckte Enno noch in den Knochen. Es war klar, sie waren auf ihn angewiesen, weiter südlich war die Ems von dichten Wäldern bewachsen, die bis an das Ufer gingen, und es gab dort keine Furt. Aber der Mann stellte unverschämte Forderungen, wollte zwei Stücke gehacktes Silber für die Überfahrt, und als Adriaan dies zurückwies, schaltete der Kerl auf stur.

»Dann seht zu, wir ihr auf die andere Seite kommt. Ich lasse mir von euren Gäulen nicht für ein Almosen meinen Kahn vollscheißen!«

An der Anlegestelle herrschte dichtes Treiben, viele Bauern und Kaufleute waren unterwegs und sie konnten den Fährmann kaum zwingen, sie für einen geringeren Preis überzusetzen, es gab zu viele Zeugen. Enno sah, wie der lange Holländer kochte. Die Fähre war voll bis auf den Platz, den sie für sich und ihre Pferde gebraucht hätten und der Fährmann wollte eigentlich schon ablegen, die Ruderer hockten bereits an den Riemen. Aber das Geschäft noch mitnehmen wollte er auch.

Er glaubte sich in der stärkeren Position. Sein Helfer stand ein paar Schritte hinter ihm auf dem Dollbord94, mit einem wuchtigen Bootshaken in den Händen und kalten, aufmerksamen Augen. Der Lange sah viele ärgerliche Blicke auf sich gerichtet und der Unwillen an Bord wegen der Verzögerung war deutlich zu spüren.

»Du hast dich schon mit viel weniger zufriedengegeben«, sagte Adriaan und schob sich an den Mann heran, es war jetzt nur noch die Spanne von vielleicht zwei Schritten zwischen ihnen.

Der Fährmann hob die Schultern. In seinen Augen stand unverhohlener Spott. »Es ist Markttag. Da nehme ich immer mehr. Und von Fremden schon gleich gar.«

»Heißt das, dass du deine Preise davon abhängig machst, ob einer zu deinem stinkenden Dunstkreis gehört oder nicht?«, fragte der Lange scharf.

Der Fährmann blieb gelassen. »Nenne es, wie du willst. Zwei Stücke gehacktes Silber und keinen Splitter weniger!«

Sie hatten sich vorher bei anderen Reisenden erkundigt, das Fährgeld lag bei einem knappen Viertel des geforderten Preises und der lange Holländer war jetzt in Rage. Der Fährmann hielt seine Arme vor der Brust verschränkt und auch das höhnische Grinsen war noch auf seinen Lippen, da hatte ihn Adriaan schon am Gemächt gepackt und drückte zu. Der Kerl verlor augenblicklich alle Fassung, klappte ruckartig nach vorn und schrie auf vor Schmerz. Er heulte wie ein getretener Hund und der lange Holländer hatte gleichzeitig sein Messer gezogen und setzte es dem Fährmann an die Kehle.

Der Helfer glotzte mit vorgestrecktem Bootshaken, an der Spitze saß eine bösartig geschliffene, scharf gebogene Klinge, eine fürchterliche Waffe, aber er konnte nichts tun. Adriaan lockerte seinen Griff, drückte wieder zu und der Mann jaulte erneut auf und willigte schnell in den Preis ein, den der Holländer nun nannte. Der Lange ließ ihn erst los, als Enno mit den Pferden an Bord war.

Während der Überfahrt behielten sie den Kerl mit dem Bootshaken im Auge. Er stand hinten an der Ruder­pinne und warf ihnen finstere Blicke zu, verhielt sich aber ruhig. Der Fährmann betastete sich immer wieder mit verzerrtem Gesicht zwischen den Beinen und hatte offenbar genug mit sich selbst zu tun. Die Ruderer waren beschäftigt. Es schien auch niemand Lust zu verspüren, sich mit dem Langen anzulegen. Seine breite Brust und die mächtigen Arme luden nicht dazu ein. Am anderen Ufer verließen sie trotzdem die Fähre als erste und sahen zu, dass sie davonkamen. Die gellenden Schmährufe, Verwünschungen und Flüche des Fährmanns beantwortete Adriaan mit einer obszönen Geste.

Enno lernte den Langen von einer ganz neuen Seite kennen. Nördlich von Wenegher passierten sie einen Weiler95, in dem Adriaan einen alten Bauern um Wasser bat. Der Alte antwortete nicht, sondern starrte sie aus gelben Augen feindselig an und der lange Holländer wiederholte seine Bitte vielleicht etwas lauter, als notwendig gewesen wäre. Von allen Seiten näherten sich jetzt Männer des Dorfes, schlenderten heran, alle mit dicken Armen, einige hielten Hacken und Spaten in den Händen. Enno sah ihre drohenden Blicke und auch die Art, in der sie ihre Pferde musterten, gefiel ihm überhaupt nicht. Einer tastete sogar prüfend über die Hinterhand von Ennos Braunen. Der Lange hatte ebenfalls gesehen, was sich da anbahnte. Er schnalzte mit der Zunge, gab seinem Zossen die Sporen und sie sprengten den fast geschlossenen Ring und machten sich aus dem Staub.

Sie erreichten den Marktflecken gegen Mittag dieses Tages. Sie suchten sich einen Mietstall für die Pferde und fanden eine billige Unterkunft gleich nebenan, in der oberen Etage einer Schenke. Über dem Viertel lag ein süßlicher Geruch, den Enno nicht einordnen konnte und der Lange sagte ihm, der käme von den Gerbereien am Fluss.

Der Wirt verlangte den marktüblichen Preis und Adriaan bezahlte ohne zu murren für zwei Übernachtungen. Der Lange ließ seine Satteltaschen nicht aus den Augen und Enno wusste, dass der Handmann darin das Silber aufbewahrte, das sein Vater ihm mitgegeben hatte. Er hatte den Auftrag, einen Zuchthengst zu kaufen.

Der Ertrag seiner Felder war Magnus tom Diek in Jahren schlechter Witterung zu unsicher und ins Gewicht fallende weitere Einkünfte hatte er nicht. Schon seit längerem trug er sich deshalb mit dem Gedanken, Pferde zu züchten und zu verkaufen. Er hatte mit dem alten Tryggve oft darüber gesprochen, der hatte ihm zugeraten und seine Hilfe angeboten, er verstand eine Menge von Pferden. Er hatte ihm auch erzählt, dass sich hin und wieder sarazenische Händler zu den Märkten an der Ems verliefen, Händler mit edlen Tieren, der Himmel mochte wissen, woher der Alte diese Information hatte. Ein solches Pferd sollte der lange Holländer, wenn möglich, kaufen. Zu einem Preis, der angemessen war, so hatte der Schollenherr ihn ermahnt. Es würde einiges an Silber kosten, so viel war klar.

Adriaan hatte den Wirt gleich nach den Sarazenen gefragt und zu seiner Freude hatte der hatte genickt. »Sind da. Ein paar.«

»Auch Pferdehändler?«, hatte der Lange hoffnungsvoll nachgehakt.

Das wusste der Wirt nicht. Aber er hatte noch eine Warnung hinterhergeschoben. »Seht euch vor, es sind sächsische Ritter96 in der Stadt. Fremde Kerle in Eisen, die viel Zeit und Geld zum Saufen haben. Sie machen ständig Scherereien. Prügeleien und Raufhändel. Es ist schon Blut geflossen!«

Sie warfen also ihre Packtaschen auf die Strohsäcke und machten sich auf den Weg. Den Lederbeutel mir dem Silber hatte Adriaan in die Hemdbluse geschoben, er saß unter dem linken Oberarm, er konnte ihn spüren. Enno trug das Zaumzeug für das Pferd in einem Leinenbeutel über der Schulter. Auf den Straßen war lebhafter Betrieb. Mit der Nähe zum Markt wuchs der Lärm. Sie blieben dicht beisammen und der Handmann hatte seinen riesigen Hirschfänger vor den Bauch geschoben. In der Gasse der Lohgerber, die sie nicht umgehen konnten, stank es bestialisch und sie beschleunigten ihre Schritte. Zwischen zwei Gerberbottichen verdrosch ein Meister seinen Lehrburschen unter wüsten Beschimpfungen, nannte ihn einen verdammten Bastard und nichtsnutzigen Schundfeger97. Der Lehrbursche wand und duckte sich und versuchte den Schlägen auszuweichen, doch der Mann hielt ihn an den Haaren gepackt und schlug mit einem Stecken auf ihn ein. Der Junge blutete aus Mund und Nase und Enno wollte schon stehen bleiben, aber der Lange zog ihn weiter.

»Los doch! Will hier keinen Ärger!«

Die Straße stieg an und das Gedränge nahm zu. Vom Fluss her war jetzt das Geklingel von Schmiedehämmern zu hören. Ein beißender Geruch nach verbranntem Horn und Dung sättigte die Luft. An einer Ecke verhandelte eine Dirne mit einem angetrunkenen Mann. Die Frau hatte ihr Haar hochgesteckt und trug als Erkennungszeichen ihres Gewerbes dem Brauch entsprechend ein buntes Tuch über der Brust. Gesicht und Arme waren mit einer billigen Mehlpaste geweißt, Lippen und Handflächen leuchteten in kräftigem Rot. Sie hatte den Mann am Arm gefasst, die andere Hand steckte bereits in der offenen Hemdbluse des Freiers. Der Mann lachte plötzlich auf, und dann lachte auch die Frau und zeigte eine lückenhafte Reihe abgenutzter schwarzer Zähne, die kaum noch über das gelbe Zahnfleisch hinausragten. Sie konnte nicht mehr jung sein. Enno war fasziniert stehen geblieben, um die Szene in sich aufzunehmen, aber dann tauchte plötzlich der Lange auf und fauchte ihn an.

»Enno, verdammt! Wo bleibst du denn?« Er folgte dem Blick des Jungen und sah die Dirne mit dem Freier, dessen Hände nun an dem Brusttuch der Frau herumspielten. Und dann wurde der Handmann richtig zornig. »Was glotzt du da, Mensch? Ist wohl kaum was für dich. Los doch, wir haben zu tun!«

Sie brachten den Rest des Weges rasch hinter sich, vorbei an eine Gruppe Straßenmusikanten, von denen einer keine Beine mehr hatte. Er hockte auf einem niedrigen, mit kleinen Rädern versehenen Holzbrett, sein Rücken war durch eine Lehne abgestützt. Mit zurückgelegtem Kopf und geschlossenen Augen schlug er sanft die Trommel. Unter seinen Beinstümpfen lugten die angespitzten Stöcke hervor, mit denen er sich auf seinem Rollbrett fortbewegte.

Seine beiden Gefährten spielten Leier und Flöte. Der mit der Leier war ein bunter Vogel, sein vielfarbiger Umhang war mit allerlei exotischen Federn besetzt. Er trug sein langes, schwarzes Haar im Nacken zu einem merkwürdigen Kranz gebunden und sang mit tiefer, volltönender Stimme. Die Instrumente verflochten sich harmonisch zu der einfachen Melodie eines Minneliedes. Zu Ennos Verwunderung warf der lange Holländer im Vorbeigehen ein kleines, ungeprägtes Bronzestück in den Lederhut, es ging so schnell, er musste sich darauf vorbereitet haben. Der Flötenspieler dankte mit einem Kopfnicken.

Dann waren sie auf dem Markt. Ostwärts wurde der Platz durch die Ems abgeschlossen, nach Westen zu stand die Kirche, eingerahmt von den Steinhäusern der vornehmen Bürger. Im Gewirr der Stände und Bretterbuden verloren sich die übrigen Grenzen des Marktplatzes, er schien Enno endlos zu sein. Bauern und Mönche boten Feldfrüchte an, dazwischen arbeiteten Handwerker unter freiem Himmel, während ihre Frauen die Ware verkauften. Lederzeug und Tuche, Körbe und Kessel waren darunter, aber Enno sah auch Messer, Beilklingen und Küchengerät. Ein Händler aus dem Sagelterlant pries Feuerzeuge in kleinen Lederbeuteln an, die er auch vorführte. Das Spiel mit den Funken zog Enno in seinen Bann und diesmal blieb auch der Lange stehen.

»Heran, heran, ihr Herren!« Der Händler winkte ihnen zu. Neugierig traten sie näher und der Krämer sorgte dafür, dass Enno einen Platz ganz vorne am Warentisch bekam. »Macht mal Platz für den jungen Herrn hier!«

Mit großen Augen bestaunte Enno die Auslagen. Dort lag allerlei Krimskrams, Nützliches und Wertloses, bronzene Spangen und Fibeln, Schnitzereien aus Horn, hölzerne Spaten und Ketten aus roten, unregelmäßig geformten Perlen.

»Das ist Bernstein, man findet ihn am Mare Orientalis98, aber das wisst Ihr sicher«, sagte der Krämer freundlich und griff nach einem der Beutel. »Euch interessieren gewiss meine Feuerzeuge viel mehr, nicht wahr?«, fuhr er lächelnd fort und schüttete den Inhalt des Beutels auf den Tisch. Dann hielt er die einzelnen Teile hoch und erklärte sie.

»Seht her, das ist der Feuerstein. Der ist besonders hart, versteht Ihr? Damit schlägt man auf den Schwefelstein, so lange, bis sich von dem ein Funken löst!« Er stieß ein gackerndes Lachen aus. »Also, wenn Ihr Glück habt, schon nach wenigen Tagen: Aber im Ernst, das geht schnell, seht her.« Er schlug mit dem Feuerstein auf die Maskaritknolle99 und nach wenigen Schlägen löste sich ein glimmendes Funkenkorn.

»Ihr müsst es so einrichten, dass der Funke in die Zunderbüchse fällt.« Er wies auf die Hälfte einer Flussmuschel, in der weißliche Flocken lagen. »Das ist Zunderschwamm. Ihr kennt ihn gewiss, er stammt von einem Pilz, der an Buchen wächst. Der Funken entzündet den Zunderschwamm und dann hat man Feuer.«

Enno zeigte auf einen etwa fingerlanges Stück Bein. »Was macht man damit?«

Der Mann lachte. »Oh, das ist der Knochenpfriem. Seht, es kommt vor, dass man viele Male schlagen muss, bis ein Funkenkorn fällt. Dabei kann es geschehen, dass der Zunderschwamm staubig wird. Dann entzündet er sich nicht mehr so gut und muss gewendet werden. Dazu benutzt man den Pfriem, seht her, so!«

Er wendete den Zunderschwamm und schlug erneut einen Funken ab. Der Zunder begann zu glimmen, dann stieg eine winzige Rauchsäule auf. Der Händler hielt trockene Grashalme an den Schwamm und blies vorsichtig in die entstehende Glut, bis sich eine kleine Flamme löste. Strahlend richtete er sich auf.

»Seht Ihr wohl, und schon habt Ihr Feuer. Großartige Ware, nützlich verpackt in einem schmucken Lederbeutel, den man an den Gürtel hängen kann. Jeder Mann, jeder richtige Mann sollte ein solches Feuerzeug besitzen. Und auch ein vornehmer junger Herr wie Ihr!«

Enno hatte natürlich auf dem elterlichen Hof gesehen, wie man Feuer machte, er selbst hatte es unzählige Male getan, aber die Werkzeuge zu Hause waren plump und grob, kein Vergleich mit diesem kleinen Wunderwerk, das man zudem in die Tasche stecken konnte. Auch der Zündschwamm war anders. Auf dem Hof benutzten sie die zerstoßenen Grannen von Emmer100 und Spelzgerste und es war viel schwieriger, damit ein Feuer zu entzünden. Seine Mutter und die Mägde achteten eben darauf, dass das Feuer gepflegt wurde und nicht erlosch.

»Was soll das Feuerzeug kosten?«, fragte Adriaan von hinten und über das Gesicht des Händlers glitt ein Lächeln.

»Aah, das ist eine gute Frage. Eine sehr gute Frage. Ich liebe diese Frage. Sie klingt nach einem Geschäft!« Er griff sich einen der Beutel und hob ihn dem Langen entgegen. »Beste Ware, mein Freund, allerbeste Ware. Hier, fühlt doch! Wunderbares Leder, weich gegerbt, zweifach vernäht, geschmeidig und dennoch fest. Kalb. Hält ein Leben lang. Und dann erst das Feuerzeug!«

Der Lange ließ sich nicht beeindrucken. »Wie viel?«, fragte er stur.

Der Händler lächelte noch immer. »Ich lasse es Euch für einen wirklich guten Preis« Er hob theatralisch die Stimme und warf sich in die Brust. »Nämlich für einen halben Pfennig das Stück.«

Adriaan schüttelte entschieden den Kopf. »Einen halben Pfennig Silber? Ich glaube, Ihr seid wirklich von Sinnen«, sagte er trocken und wandte sich ab, den Jungen hinter sich herziehend.

»Dann macht doch Ihr ein Angebot!«, schrie der Händler hinter ihnen her, aber sie kümmerten sich nicht darum und gingen weiter. Am Ende des Tages würde Adriaan heimlich eines der Feuerzeuge kaufen, zu einem deutlich niedrigeren Preis, und es sorgfältig bis zum Christtag verwahren, um es dann Enno zu schenken.

Sie näherten sich einem Stand, an dem Mönche Gemüse und im Kloster gebackenes Brot feilboten. Nach dem Habit waren es Benediktiner und der Lange setzte sofort eine feindselige Miene auf. Im Vorbeigehen wurden sie Zeugen eines hitzigen Wortgefechtes zwischen einem der Mönche und einem Kunden, der ebenfalls eine Kutte trug.

»Es ist mir gleich, Bruder, ob du für den Erzbischof von Monasterium einkaufst. Deshalb werde ich dir keinen Nachlass geben. Meine Brüder und ich haben hart gearbeitet, bis dieses Brot gebacken werden konnte. Es kostet, was es kostet!«, bellte der Mönch in sichtlicher Erregung. Sein Habit war an Brust und Bauch mit Erde beschmutzt.

»Einen halben rheinischen Gulden für den Korb? Ihr seid verrückt!«, schrie der andere. Und während der Lange noch überlegte, ob sie sich amüsieren oder weiter­gehen sollten, hörten man von weiter hinten plötzlich Rufen und Schreien und dazwischen das Donnern von Pferdehufen. Und dann fegte in einem irrwitzigen Tempo und mit waghalsiger Schräglage ein Reiter um die Ecke und bog in die Budengasse ein.

Der Platz war gepflastert und das Pferd hatte mit seinen Hufeisen größte Mühe, auf den Beinen zu bleiben. Der Reiter hockte weit vornübergebeugt im Sattel. Es war einer von den sächsischen Rittern, vor denen sie der Wirt gewarnt hatte, und man sah sofort, dass er schwer bezecht war. Das Pferd meisterte die Kurve irgendwie, aber es kam der nächsten Bude gefährlich nahe und alles schrie entsetzt auf und spritzte auseinander. Der Reiter zerrte nun wie irre an der Kandare und versuchte, dem Stand auszuweichen, aber er streifte einen der Haltepfosten mit dem linken Steigbügel. Der Pfosten gab nach, knickte ein und der ganze Stand mitsamt Überdachung und Warentisch brach krachend zusammen. Der Lärm brachte den Gaul vollends in Panik, er ging durch und zog eine Spur der Verwüstung über den Marktplatz. Buden stürzten ein, Holz splitterte, Töpfe und Krüge gingen zu Bruch, Ware rollte oder ergoss sich über das Pflaster. Und dazwischen das Rennen und Schreien von Menschen.

Der Lange packte Enno und riss ihn in eine Ecke, weg von der Budengasse. Dann sahen sie auch schon den Zossen an sich vorbeifliegen, der Reiter wie auf einem tollwütigen Esel obendrauf. Ihm folgten fluchende, empörte Händler, Geschädigte, die des Kerls auf dem Pferd habhaft werden wollten.

Es würde schwer werden, ihn zu packen und zur Rechenschaft zu ziehen. Der Kaufmann an der ersten Bude stand wie gelähmt vor den Trümmern seiner Auslage. Er handelte mit irdenen Gefäßen und hölzernem Hausrat. Davon war buchstäblich nichts mehr heil. Das Dach war auf den Warentisch gestürzt und hatte alles kurz und klein geschlagen. Den Rest besorgte das Pflaster. Der Händler hob beide Arme in hilfloser Verzweiflung. Seine Frau weinte. Am Ende der Gasse tauchte jetzt eine weitere Gruppe der sächsischen Ritter auf. Sie saßen auf ihren Pferden und ritten gemächlich über den Marktplatz. Amüsiert wiesen sie sich gegenseitig auf die Verwüstungen hin, die ihr Kumpan angerichtet hatte. Sie lachten und hieben sich auf die Schenkel. Keiner war nüchtern. Aus der Händlerschaft kamen Rufe und Flüche, Fäuste wurden geschüttelt, aber niemand wagte es, ernsthaft gegen diese Männer vorzugehen. Sie waren bewaffnet und würden von ihren Schwertern auch Gebrauch machen, so viel war gewiss.

Das zeigte sich, als plötzlich von irgendwoher ein Apfel flog und einen der Ritter nur um Haaresbreite am Kopf verfehlte. Und dann kam noch einer, der traf einen der Bewaffneten an der Brust und sofort schlug ihre Stimmung um. Es erhob sich zorniges Gebrüll und alle zogen drohend blank, schlossen eng zusammen und setzten in scharfen Trab ihren Weg durch die Budengasse fort, die Klingen griffbereit über die Schenkel gelegt. Bei den Krämern wurde weitergeflucht, man hörte das Jammern von Frauen, aber sonst rührte sich nichts mehr. Als die Gruppe hinter der nächsten Kurve verschwunden war, löste sich die Spannung allmählich und das Aufräumen begann.

»Sachsen, verdammte!«, stieß der lange Holländer zwischen den Zähnen hervor. Er zog Enno auf die Gasse zurück. Es war, als hätte eine heftige Windhose eine Schneise über den Platz geschlagen. Der Gemüsestand der Mönche war zur Hälfte eingestürzt. Auf dem Boden lagen Brotlaibe verstreut, die nun aufgesammelt wurden. Einer der Mönche verjagte eine Horde Gassenjungen, die sich an den Broten vergreifen wollten. Er hatte sein Cingulum gelöst und schlug damit wild um sich.

»Verdammte Sauzucht!«, fluchte Adriaan und Enno wusste nicht, ob er die sächsischen Ritter oder diesmal die Gassenjungen meinte. An der nächsten Bude fragte der lange Holländer nach den Sarazenen und der Händler starrte ihn wütend an. Dann spuckte er aus und wies mit dem Kopf in Richtung auf die Kirche zu.

Sie passierten den Stand eines Baders, der auf einem Podest arbeitete, vor dem sich bereits einige Kranke versammelt hatten. Enno sah ihn vornübergebeugt mit einer Zange einen Zahn reißen. Sein Helfer hatte einen Lederriemen um die Stirn des Patienten gelegt und hielt ihn von hinten fest. Die Kiefer des Mannes waren mit einem Holzpflock weit geöffnet. Er jammerte und stöhnte und schlug mit den Händen, aber der Bader stemmte sein Knie gegen die Brust des Patienten und zerrte unbeirrt an dem Zahn. Als der Mann laut zu schreien begann, unterbrach der Bader seine Behandlung und schloss einen Vorhang vor dem Behandlungsstuhl. Er wollte wohl die Wartenden, unter denen es sehr still geworden war, nicht unnötig ängstigen. Im Weitergehen hörten sie hinter dem Vorhang einen gurgelnden Aufschrei, der dann abrupt verstummte. Enno war froh, dass seine Zähne keiner Behandlung bedurften.

Sie fanden die sarazenischen Händler weit hinter der Kirche auf einem abgetrennten, morastigen Platz. Sie hatten ihn notdürftig mit Strohmatten ausgelegt, aber der Modder quoll zwischen den Binsen hervor und vor allem bei den Tieren war der Boden tief und schwer. Die Sarazenen hockten unter einem steilen Zelt mit hochgerollten Seitenwänden auf dicken, samtenen Tüchern, die Adriaan als Teppiche bezeichnete. In der Mitte brannte ein Feuer, an mehreren Stellen unter dem Zeltdach stieg bläulicher, süßer Rauch aus kunstvoll verzierten Gefäßen. Enno hatte Derartiges noch nie gesehen. Auch die Männer faszinierten ihn. Sie waren allesamt von dunkler Hautfarbe, trugen dicke, braune Wollmäntel und froren trotzdem. Um die Köpfe hatten sie bunte Stoffstreifen gewickelt und alle trugen seltsam geformte Schwerter.

»Das sind Scimitare101«, erklärte der Lange und die Kopfbedeckungen nannte er ›Turban‹. Und noch bevor Enno den Holländer fragen konnte, woher er das alles wusste, sahen sie Ocko Hylmerisna bei den Tieren stehen. Uffo Remetsna, sein Oheim und zugleich Handmann seines Vaters, war bei ihm. Sie wussten, dass der Brokmanne und seine Leute die Märkte an der Ems immer wieder aufsuchten, aber die beiden jetzt zu treffen, behagte dem Langen überhaupt nicht. »Was wollen die denn hier? Nun wird’s aber Zeit, Menschenskind. Nicht auszudenken, wenn uns gerade die das beste Tier vor der Nase wegschnappen!«

Sie staksten hinüber zu dem Pferch, umkurvten die größten Schlammlöcher und Enno konnte sich nicht satt sehen. Seltsame Tiere mit langen Hälsen, dürren, knochigen Beinen, die in plumpen Hufen endeten, und die einen oder zwei merkwürdige Buckel auf ihren Rücken trugen, erregten sein besonderes Augenmerk. Adriaan nannte sie Dromedare und Kamele.

»Und auf denen kann man reiten?«

Der lange Holländer lächelte. »Und ob! Die halten länger durch als Pferde. Und sind fast ebenso schnell.«

Bei den Tieren stand ein schlanker, hochgewachsener Sarazene mittleren Alters. Die beiden Brokmannen betrachteten einige Schritte entfernt unter Gelächter ein Trampeltier. Der lange Holländer und Enno traten an den Pferch und grüßten. Remetsna nickte zurück, Ocko sah gleichgültig herüber und wandte sich wieder dem Dromedar zu.

Der Sarazene kreuzte die Arme vor der Brust und verneigte sich höflich. Sein Gesicht, das über Stirn, Wangen und Kinn mit einem Tuch bedeckt war, wurde von scharfen, braunen Augen beherrscht. Adriaan sagte, was er suchte, und der Mann nickte. Dann führte er seine Hengste vor, prächtige Tiere, edel gewachsen, eines schöner als das andere, im Ganzen zeigte er mehr als ein Dutzend.

Und dann nannte er dem Langen seine Preise. Der Sarazene sprach ein raues, schwerzüngiges Latein. Die Summen überstiegen die Möglichkeiten des Holländers bei weitem. So viel Silber gab es auf dem ganzen Hof der tom Dieks nicht. Adriaan war enttäuscht. Es sah verdammt danach aus, als müsse er unverrichteter Dinge nach Eesensem zurückkehren, und er hasste es, seinem Schollenherrn mit diesem Ergebnis unter die Augen zu treten.

Während er noch überlegte, was nun zu tun sei, fiel Enno ein zierlicher Falbe102 auf, der unter den übrigen Pferden stand. Es war ein noch junger Hengst, so viel war klar, aber er stand abseits bei den Stuten und wurde nicht vorgeführt. Enno stieß den Langen an und der fragte den Sarazenen.

Der Händler gab in seinem rauen Idiom eine wortreiche Erklärung, von der Adriaan nur die Hälfte verstand. Das Pferd sei noch jung, man wisse nicht, wie es sich entwickele. Zudem sei in der Zucht ein Fehler unterlaufen, welcher sagte er nicht, der die »unwürdige« Farbe verursacht habe. Dann ließ er den Hengst holen. Ein Knecht führte das Pferd auf und ab. Es war ein edles Tier, feingliedrig und elegant gebaut, mit großen, feurigen Augen. Die beiden Brokmannen waren aufmerksam geworden und stiefelten hinzu. In Adriaan war die Hoffnung auf einen Kauf wieder gestiegen, aber er hütete sich, zu interessiert zu erscheinen. Zuchtfehler und Farbe hin oder her, das Tier war ein Hengst und ganz ohne Zweifel ein Araber. Der Lange begutachtete das Pferd mit größter Sorgfalt, sah ins Maul und betastete Beine, Gelenke und Fesseln. Dann hob er die Hufe an und besah sie sich von unten. Er konnte kein Fehl entdecken.

»Ist er zugeritten?«

Der Sarazene nickte lächelnd. »Er hat die Trense gekostet«, sagte er förmlich. Ocko und sein Oheim waren nun heran, aber niemand beachtete sie.

»Was soll er bringen?«, fragte Adriaan, vielleicht eine Spur zu früh, und über das Gesicht des Sarazenen glitt ein Schatten. Aber der Mann war erfahren genug um zu wissen, dass die Fremdlinge aus dem kalten Norden von arabischer Verhandlungskultur keine Ahnung hatten. Dass dieser baumlange Klotz mit dem Haar von der Farbe sonnengetrockneter Hirse nichts wusste von einem eleganten Gespräch, in dem der Händler die Vorzüge seines Angebots in höchsten Tönen pries, und der Käufer begeistert zustimmte, nicht ohne jedoch, fein dosiert und in tiefstem Bedauern, hier und dort seine kleinen Mängel lebhaft zu beklagen. Er nannte einen Preis von zwei rheinischen Goldgulden und Adriaan rechnete blitzschnell in Silber um und schüttelte den Kopf.

»Passt auf, der Maurenarsch will Euch bescheißen«, sagte da Uffo Remetsna geringschätzig und Enno sah in den Augen des Sarazenen ein zorniges Blitzen, gerade noch, bevor der Mann rasch den Blick senkte.

»Und wenn schon; was kümmert’s Euch?«, gab der Lange scharf zurück und Uffo schwieg beleidigt.

Der Sarazene hatte seinen Kopf wieder gehoben, sein Gesicht war nun völlig ausdruckslos. Dann begann er mit dem Langen zu feilschen. Und er genoss es, das konnte man sehen. Adriaan war taktvoll genug, das Spiel nach den Regeln des anderen mitzuspielen. Sie einigten sich schließlich auf sieben Mark Bremisches Silber, und damit war der Lange deutlich unter der Grenze geblieben, die ihm sein Schollenherr gesetzt hatte. Als sie einschlugen, strahlte er mit dem Sarazenen um die Wette. Enno holte das Zaumzeug aus dem Beutel und der Hengst ließ es sich problemlos anlegen.

»Auf welchen Namen hört er?«, fragte Enno begeistert. Adriaan übersetzte die Frage. Der Sarazene lächelte und stieß ein Wort aus, das Enno nicht verstand, und dann noch weitere Worte zur Erklärung.

»Er heißt ›Asil‹. Das bedeutet in der Sprache der Sarazenen so viel wie ›edel‹«, sagte der Lange, dachte an die Sache mit dem Zuchtfehler und hob die Schultern.

Die beiden Brokmannen dachten wohl dasselbe, denn sie lachten und Ocko schob sich nun heran. In seinen auseinanderstehenden Augen stand blasierter Hochmut. »Nun, Todie, du glaubst wohl, mit diesem Klepper habt ihr auch endlich einen anständigen Gaul im Stall, wie?«

Enno funkelte ihn zornig an. »Ich habe einen Erst­namen!«, sagte er scharf.

Das Grinsen im Gesicht des Brokmannen wurde breiter. »Enno, Enno. So heißen bei uns die Hunde«, gackerte er und es kostete Enno alle Überwindung, nicht nach ihm zu schlagen. Seine Rechte war schon vorgezuckt, aber er beherrschte sich und in diesem Augenblick war der lange Holländer stolz auf ihn. Er wusste, dass der Sohn seines Schollenherrn von seinen engen Gefährten »Todie« gerufen wurde, es war sein Spitzname, die Abkürzung seines Hausnamens tom Diek. Aber dieser arrogante Pinsel von einem Brokmannen zählte gewiss nicht zu jenem Kreis.

Und dann hörte er Enno wie zur Bestätigung sagen: »Todie nennen mich nur meine Freunde. Und du bist keiner davon!«

Sie verabschiedeten sich von dem Sarazenen, der den Wortwechsel mit ausdruckloser Miene verfolgt hatte, ließen die Brokmannen stehen und machten sich mit Asil davon.

»Woher nimmst du eigentlich deine Arroganz, tom Diek?«, schrie Ocko hinter ihnen her. »Du wirst immer ein Bauer bleiben, wie dein Vater einer ist. Ich dagegen werde ein Edelmann!«

Sie drehten sich nicht einmal um. Der Hengst folgte ihnen wie ein Lamm über den Marktplatz, auf dem inzwischen der Bruch des betrunkenen Sachsen beseitigt war. Enno wunderte sich, dass der Lange ihn plötzlich an einen Stand mit Ackergeräten schickte. Es war nicht weit von der Bude des Händlers mit den Feuerzeugen. »Sieh dich da mal um. Wir treffen uns dann bei den Musikanten!«

Als sie an dem Platz zusammenkamen, den die Musiker übrigens bereits geräumt hatten, wirkte der Handmann seltsam aufgeräumt, aber Enno schob das auf den glücklichen Kauf. Später, beim Nachtmahl, Asil stand schon bei den anderen Pferden im Stall, sprachen sie nochmals über den Erwerb des Hengstes.

Irgendwann hob Enno den Kopf. »Woher kannst du so gut Latein?«

Der lange Holländer grinste verlegen. Und gestand nach einigem hin und her, Klosterschüler in der Abtei von Smalle Ee103 gewesen zu sein.

Enno fuhr überrascht auf. »Du warst Novize?«

»In meiner Jugend. Ich denke nicht gern daran«, sagte der Lange mit abwehrenden Händen.

»Warum?«, wollte Enno wissen, aber Adriaan war plötzlich verschlossen wie eine Auster.

»Ich rede nicht gerne darüber.«

Enno nickte. »Welcher Orden?«

»Benediktiner!«, sagte Adriaan, es kam wie ausgespuckt.

Enno nickte erneut. »Dachte ich mir«, sagte er knapp und der Lange grinste. Dabei beließen sie es. In dieser Nacht schliefen sie im Stall, weil der Holländer wegen des Hengstes kein Risiko eingehen wollte.

Am nächsten Morgen versuchte er noch, einen Teil des Übernachtungsgeldes zurückzubekommen, aber der Wirt stellte sich stur. Sagte, er hätte die Kammer für sie bereitgestellt und es wäre ihre Sache, ob sie sie dann auch nutzten oder nicht. Es war nichts zu machen gewesen und der Lange sah das schließlich auch ein. Nach dem Frühstück machten sie sich auf einen ereignislosen Heimweg. Der Fährmann in Lahre setzte sie anstandslos zum üblichen Preis über den Fluss, zuzüglich der Kosten für den Hengst. Er sagte nichts, aber seine Augen glitzerten.

89) Weener, Kreis Leer/ Reiderland

90) Reiderland

91) Strackholt, Kreis Aurich

92) Leer

93) Bingum

94) Verstärkter oberer Rand eines Ruderbootes

95) Kleine Siedlung

96) Die Friesen bezeichneten damals alle Landesfremden des Ostens und Südostens als »Sachsen«. Dazu zählten, wie im vorliegenden Fall, auch die Oldenburger.

97) Latrinenreiniger

98) Ostsee

99) Pyritgestein, stark schwefelhaltig

100) alte Weizenart

101) maurische Krummsäbel

102) Pferd von gelbgrauer Farbe

103) Smelna, Kloster bei Drachten in Westfriesland, damals zur Diözese Utrecht gehörend.

Friesische Herrlichkeit

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