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Sind einer Frau ihre drei Kleider durchschnitten, so dass ihr nackter Körper sichtbar wird, so ist die Buße für das oberste Kleid einundzwanzig Pfennige, für das untere dreißig Unzen, für das Hemd zuunterst sieben Schillinge.

Emsiger Recht, 141. Küre

Upstallesbame, Auwreke,

den fünften Tag nach St. Johannis, Anno Domini 1345 (Mittwoch, 11. Mai), nach dem Angelusgebet am Mittag

Der Regen hatte noch zugenommen, ebenso wie der Wind, der immer wieder böig aufbriste, und es war ganz plötzlich kalt geworden. Der Himmel war konturlos grau, er sah aus wie ein schmutziges Wolltuch, das man über den Platz gespannt hatte. Noch brannte das Feuer und der Holzvorrat war mit Strohbündeln abgedeckt, aber es war nur eine Frage der Zeit, dass die Nässe die Flammen erstickte.

Hilderaad und Eghardus waren unter den eisigen Blicken des Augustinerpriors Allardus mit flachen Stimmen und hastigen Bewegungen durch die Zeremonie des Angelusgebets gehetzt, als wollten sie sich einer lästigen Pflicht entledigen. Dieser Vorgang war nicht geeignet gewesen, der Gemeinde ihre Ruhe und Besonnenheit zurückzugeben. Das Mittagessen aus Grütze von Steckrüben und Buchweizen, hier oder dort auch ein Stück kalten Braten, hatten sie rasch im Stehen eingenommen, notdürftig unter ihren Decken gegen den Regen geschützt, und mit den Resten der Bierspende des Brokmannen hinuntergespült. Niemand saß mehr auf Tüchern oder Umhängen, jedes Stückchen Stoff wurde genutzt, um den Niederschlag abzuwehren.

Später waren die Regentropfen einem sprühenden Wassernebel gewichen, der auch jetzt noch alles in eine schmierige Nässe tauchte. Leder weichte auf, Tuch wurde klamm und schwer und selbst eingefettetes Eisen lief an, wurde blind und zeigte erste Roststellen. Plötzliche Wetterwechsel während des Things galten allgemein als übles Vorzeichen und nicht wenigen in der Versammlung stand Sorge, ja Angst in den Augen. Aber es war nicht nur dieses Wetter, das alle Abläufe unter den Eindruck von ungebührlicher Hast setzte und das auf die Stimmung drückte. Es war vor allem dieser grauenhafte Zwischenfall, der sich am Ende des Vespermahls ereignet hatte. So schrecklich und schockierend, dass er die Herzen bis in ihr Innerstes erschütterte und sich wie Feldsteine auf die Brust legte.

Erst beim Essen war es Enno gelungen, seinem Vater und dem langen Adriaan über das nächtliche Ereignis im Zelt der beiden Äbte zu berichten. Es hatte nicht eben zur Verbesserung der Laune beigetragen. Magnus tom Diek hatte mit finsterer Miene zugehört und schließlich ein zorniges »Sei’s drum!« hervorgestoßen, aber der lange Holländer hatte bedenklich mit dem Kopf gewackelt und dann sahen die beiden Männer sich unverwandt an. Schließlich sprach der Handmann aus, welcher Gedanke ihnen offenbar gleichzeitig gekommen war.

»Wo sie denn aufhängen? Eine Glocke braucht einen Turm. Oder zumindest einen verstärkten Dachstuhl, entweder am Chor104 oder über dem Eingang. Die Kirche hat bis jetzt weder das eine noch das andere«, sagte Adriaan trocken und das Gesicht seines Schollenherrn wurde noch kantiger. Seine Wangenmuskeln waren wie fest wie Eisenstücke.

»Wurde darüber auch gesprochen?«, fragte er seinen Sohn, aber der schüttelte den Kopf. An Magnus’ Gesicht konnte man ablesen, dass diese Angelegenheit für ihn noch nicht beendet war.

Vom Lagerplatz der Rustringer, drüben zwischen den Hügeln am Ende des Flurstücks, kam plötzlich ein wüstes Gebrüll, das die Köpfe herumriss und wie ein eiskalter Guss aus heiterem Himmel durch die Glieder fuhr. Erst sehr viel später erfuhr man durch den Kirchspielpfarrer des Rustringers und den Hauskaplan des Großbauern, was sich dort abgespielt hatte. Der Schollenherr, in hilfloser Wut und Verbitterung über die Vollstreckung der Leibstrafe an seinem Handmann, hatte nach der Exekution in seinem Lager eine Kanne Bier in sich hin­eingesoffen, und gleich danach noch eine. Und darauf gewartet, dass der Mann aus der Ohnmacht erwachte und wieder zu sich kam. Der Handmann kam aber nicht mehr zu Bewusstsein, sondern starb, vielleicht an Wundschock, ohne die Augen auch nur noch einmal geöffnet zu haben. Das Herz blieb stehen, er hörte einfach auf zu atmen. Aus.

Was dann geschah, bezeugten der Pfarrer und der Kaplan bei einer späteren Ermittlung gegen den Schollen­herrn. Mit einem wüsten, markerschütternden Schrei war der Großbauer aufgesprungen, hatte unter fortwährendem Brüllen den Sax gezogen und hatte dann vor den Augen der völlig fassungslosen Mönche und des Baders seinem am Boden liegenden, toten Handmann mit einem wie in Raserei geführten Hieb den Kopf vom Rumpf getrennt.

Auf das Gebrüll trat lastende Stille ein und dann, hinten, beim Lagerplatz der Rustringer, war plötzlich Bewegung und Schreckensrufe wurden laut. Menschen hasteten auseinander, drängten in Panik zur Seite und eine Gasse öffnete sich, in die nun der Großbauer trat, hinter ihm sein Gemeindepfarrer und der Kaplan, beide mit fliegenden Kutten, die Hände ringend in die Luft gestreckt. Und in starrem Entsetzen sahen die Leute den Schollenherrn durch die Gasse wanken, den blutigen Sax seines Handmanns in der rechten Faust, und den abgeschlagenen Kopf des Mannes an den Haaren gefasst in der linken. Trat auf den Platz in die Mitte zwischen die wie versteinert sitzenden Jurati und den Prälaten, blieb schwankend stehen, mit stierendem Blick aus rotunterlaufenen Augen, der Kopf in seiner Faust pendelte hin und her, drehte und kreiselte in schauderhaften Bewegungen. Und dann warf er ihnen den blutigen Schädel vor die Füße.

»Ihr wolltet doch seine Hand haben. Da habt ihr ihn ganz!«, schrie er, hob wie von Sinnen den Sax hoch über den Kopf, sodass die Waffenknechte nach vorn stürzten, trat dann in entfesselter Wut gegen den am Boden liegenden Schädel und beförderte ihn in das schwelende Feuer, noch bevor ihn die Knechte überwältigen konnten.

Das war nun schon eine Weile her, aber der Schreck steckte allen noch in den Knochen und jetzt liefen die Verhandlungen so, als ob kaum jemand noch auf Sorgfalt und abwägende Ruhe setzen wollte. Es wurden noch drei weitere Streitfälle aufgerufen, die denen des Vormittags in der Art des Gegenstandes ihrer Klagen glichen. Der Verhandlungsführer wechselte mit den Fällen, es wurde entschieden und Hilderaad zog zweimal die Wachsdecke vom Reliquienschrein, um schwören zu lassen.

Wegen der Nässe konnte nicht mehr geschrieben werden und der Benediktinerabt hatte zehn Mönche seines Klosters unter der Leitung eines alten Confratres105 als Memoratori106 bestimmt. Ihre Aufgabe war es, die Geschehnisse besonders aufmerksam zu verfolgen und nach dem Thing das Dokument über den Ablauf durch gemeinsame Erinnerung zu vervollständigen. Es ging auf die Nona107, der Bruder Librarius hatte die Hand schon am Stundenglas, als Keno Hylmerisna sich erhob und verkündete, es lägen weitere Meldungen zu Streitfällen nicht vor, und man könne den Thing im Hinblick auf Rechtsfragen auch wegen des unwirtlichen Wetters nun abschließen. Der Brokmanne vermied jeden Augen­kontakt mit Magnus tom Diek, sah vielmehr stur in Richtung auf den Prälatentisch, wo Abt Hilderaad den Reliquienschrein zum Schutz gegen die Nässe unter sein Skapulier108 geschoben hatte.

Von den Rängen kam Zustimmung, in einigen Abordnungen war schon Bewegung zum Aufbruch und Enno sah die beiden Äbte nicken, während Allardus, der Augustinerprior, leise den Kopf schüttelte. Dann stand Magnus tom Diek auf und trat zu dem Brokmannen in die Mitte.

»Noch nicht, Keno.« Er sagte es nicht sehr laut, aber seine Stimme kam so klar und deutlich über den Platz, dass die Unruhe rasch erstarb, dazwischen waren vereinzelte Rufe, die bereits abrückende Gruppen zurückholten.

Unter den kalten Blicken des Brokmannen und des Benediktinerabtes entwickelte Magnus in knappen Sätzen seine Gedanken. Ihm war bewusst, dass er nicht sofort mit seiner Küre kommen konnte. Dieser Vorschlag musste vorbereitet werden. Es kam zunächst darauf an, seinen Zuhörern die Bedrohung der Freiheit der Friesen bewusst zu machen. Magnus tom Diek formulierte einfach und verständlich. Sehr bald wurde klar, wer seine Gegner waren. Magnus sah es am Gesicht des Brokmannen, des Abtes Hilderaad und einiger Richter, die mit finsteren Mienen hockten und lauschten, und er erkannte, dass sein Vorhaben zumindest heute keine Mehrheit finden konnte. Und dass er auf sehr dünnem Eis stand.

Die Zuhörer umgaben den Thingplatz wie eine schweigende Wand. Der Wind briste auf, der Regen nahm wieder zu und die Delegationen der Landgemeinden suchten Schutz unter ihren Umhängen. Köpfe verschwanden unter Kapuzen, und auf den Hügeln herrschte vollkommene Ruhe. Magnus tom Diek verfluchte das Wetter und er verfluchte die offene Ablehnung unter den Juroren. Aber vielleicht konnte er die versammelten Friesen mehrheitlich hinter sich bringen. Jedenfalls war er fest entschlossen, diese Gelegenheit zu nutzen.

Die Friesen hatten seit Menschengedenken gute Gründe, ihre Freiheit gegen fremde Bedrohung zu verteidigen. Erst gegen die Raublust der Normannen. Dann gegen die Machtgier der Aldenborcher Grafen. Dann in Abwehr der politischen Ziele der Fürstbischöfe aus Brema und Monasterium, Kirchenherren, denen die Befriedigung ihrer weltlichen Gelüste wichtiger war als das Seelenheil ihrer Schafe. Schließlich aber auch gegen die Ansprüche des Adels und des Klerus westlich der Ems, dessen Gewinnstreben man bereits anno 1323 durch die Leges Upstalsbomicae abzuwehren versucht hatte. Man hatte sich behauptet, teilweise in blutigen Schlachten, aber es waren auch Ziele verfehlt worden, wie eben das einer gesamtfriesischen Landordnung durch die Leges Upstals­bomicae. Sie hatte damals keine Mehrheit gefunden, weil vor allem die Friesen der östlichen Landgemeinden in ihrer verfluchten, bornierten Engstirnigkeit das Dokument als zu einseitig gegen die Grafen von Holland gerichtet ablehnten. Und nicht erkennen wollten, welch einigende Kraft für ganz Friesland von ihm ausgegangen wäre. Auch mit Wirkung für die Abwehr von Forderungen ostwärts der Ems.

Immerhin: Die Friesen waren frei. Bis jetzt. Dabei war nicht zu leugnen, dass äußere Gefahren zum Teil heute noch bestanden. Es gab sie ja noch, die Fürstbischöfe, sie waren immer noch da, und der Adel auch. Aber die Gewichte hatten sich verschoben. Ein Graf von Aldenborch oder welcher Fremde auch immer würde sich bei einem Übergriff gegen friesischen Besitz und damit letztlich gegen friesischen Anspruch auf Selbstbestimmung eine blutige Nase holen, wie schon seit ehedem, es wäre nicht das erste Mal.

Derartige Versuche vereinten die Friesen, ließen sie zusammenrücken und Schulter an Schulter kämpfen. Ein Keno Hylmerisna ging geschickter vor, subtiler. Er äußerte seinen Machtanspruch auch, das ja, Beispiele gab es genug aus den letzten Wochen und Monden. Aber er verstand es offensichtlich, unter den Richtern für seine Sache zu werben, Gleichgesinnte hinter sich zu bringen. Große und reiche Bauern, die viel von seiner Sicht der Dinge hielten. Er war auch geschickt darin, andere von sich abhängig zu machen. Kleine Leute, und ihre Zahl wuchs, die in seiner Schuld standen und für die Selbstbehauptung gegen den Brokmannen gleichbedeutend war mit dem Verlust ihrer Existenz.

Wer von diesen gegen Hylmerisna aufmuckte, verlor seinen Hof und damit sein Brot. War er bereits Brotesser, verlor er seine Arbeit und kein Bauer in Brokmannia würde ihn je wieder in Lohn nehmen. Keno Hylmerisna sprach die vielen Friesen Brokmannias an, denen ihre bequeme Sicherheit wichtiger war als ihre Freiheit. Er machte ihnen am Ende klar, dass er schon für sie sorgen werde, wenn sie seine Angelegenheiten nur ihm überließen. Und er sprach als Friese zu Friesen! Es war wie bei einer schleichenden Vergiftung, einem vorsichtig gekosteten Rauschmittel, dessen süße, betörende Wirkung das Bewusstsein für die mit dem Genuss verbundenen Gefahren ausschaltete. Ein Spiel mit dem Feuer in einem Heuschober im Hochsommer. Ein Versuch, der Wasser in Wein wandeln sollte und schließlich doch beim Sauer­essig endete. Und der, einmal vollzogen, nicht mehr umzukehren war.

Und während er noch redete, dachte Magnus tom Diek an eine Weisheit, die ihm sein Vater einst vermittelt hatte: Auf eine Meile sieht der Vogel den Köder, aber das darüber gespannte Netz sieht er nicht. Er konnte nicht darauf hoffen, dass ihm Zeit blieb, all diese Besorgnisse vorzutragen. Aber er musste versuchen, den Blick der Friesen zu schärfen. Diesen verdammten Schleier aus schicksalsergebener Gleichgültigkeit, fehlgeleiteter, für gottgefällig gehaltene Unterwerfung und hinter dem Anspruch nützlicher Vernunft verborgenen, eiskalten Machtkalküls wegzureißen. Die Schlafenden aufzurütteln. Das Ende sichtbar zu machen. Und damit den notwendigen Widerstand zu wecken. Es galt, das Saatkorn in die Erde zu legen.

Als Magnus geendet hatte, sagte Keno Hylmerisna kein Wort. Er stand nur dort, wo er während der ganzen Zeit gestanden hatte, und lächelte. Sah sich um, tastete die schweigenden Reihen der Versammlung ab, ließ seinen Blick über den Tisch mit den Prälaten wandern, strich über die Bank der Jurati und lächelte. Es schien, als spräche das, was Magnus tom Diek gesagt hatte, für sich selbst. Als wäre kein Ergänzung, schon gar kein Widerspruch nötig. Die Äbte hockten unter ihren Habits und regten sich nicht, Prior Allardus saß hellwach und mit zurückgeschlagener Kutte, der Regen schien ihn nicht zu stören. Auf der Bank der Richter entstand jetzt Bewegung, Köpfe wurden zusammengesteckt und man besprach sich murmelnd. Einer der Westfriesen, Nonneko Hyddismahues aus Fiwelgonia, stand auf und lüftete die Kapuze seines Umhanges.

»Schöne Schilderung, Magnus. Etwas für den warmen Feuerplatz an langen Winterabenden. Aber was willst du uns hier und heute damit sagen?«, fragte er knurrend und das Lächeln im Gesicht des Brokmannen vertiefte sich.

Auch bei den Ostfriesen wurde erregt getuschelt, und dann sagte einer barsch: »Wir sind alle Bauern, zu Hause wartet die Feldarbeit, wir sollten unsere Zeit nicht mit unwichtigen Dingen vertun.«

Magnus hob beide Arme. »Wartet, Brüder! So weit zur Einleitung. Was ich euch sagen will, möchte ich mit einem Gleichnis erklären!« Unwilliges Murren antwortete ihm, während der Brokmanne grinsend den Kopf schüttelte. Wie werdet ihr erst jaulen, wenn ihr den Rest gehört habt, dachte Magnus und blickte forschend auf die Abordnung aus dem Emesingerlant. Er fand Eme Emesna ziemlich vorne, er hockte zwischen den Bauern seines Kirchspiels.

»Nun, Eme, wie ist es mit deiner Sache? Bist du mit der Entscheidung des Thing zufrieden?«, rief er dem Bauern zu und plötzlich lag eine gespannte Aufmerksamkeit über dem Platz. Die beiden Äbte blickten auf und Prior Allardus nickte Ayderd Zeerijp mit heiterer Miene zu. Beide schienen zu wissen, was jetzt kam. Eme setzte ein breites Grinsen auf. Sein rechtes Auge stierte in den grauen Regen­himmel, aber das linke blitzte pfiffig.

»Nun ja, wie man’s nimmt. Die Kuh hat mehr davon als ich«, sagte er. »Ich kriege zwar einen halben Pfennig Silber zurück, den ich aber wieder abgeben muss. Und die Kuh wird so oft besprungen, bis es geschnackelt hat. Also hat das Vieh mehr Spaß.« Um ihn herum erhob sich brüllendes Gelächter, das sich durch die ganze Versammlung fortsetzte, immer heftiger, bis außer den Prälaten alles schrie vor Lachen. Edo Onnisna, der Noerderlanter, lachte so sehr, dass ihm seine geweißten Holzzähne in den Dreck flogen. Es dauerte eine ganze Weile, bis sich Magnus wieder Gehör verschaffen konnte.

»Das verstehe ich, Eme. Aber fühlst du dich gerecht behandelt durch den Beschluss der Richter?«

Der Bauer grinste unsicher und um ihn herum regte sich ärgerliches Gemurmel. »Es haben ja kluge Herren beraten. Wird schon richtig sein«, sagte Eme und fuhr sich mit dem Ärmel über seine feuchte Nase. »Am Ende bekomme ich, was ich wollte, und das ist eine trächtige Kuh.«

Magnus lächelte freundlich. »Was bedeutet es dir, dass sechzehn Jurati über deine Sache beraten haben, und dass diese Richter in jedem Thing wechseln?«

Das Gemurmel steigerte sich zu wüstem Protest. Einzelne Richter waren aufgesprungen, Keno Hylmerisna schrie mit hochrotem Kopf irgendetwas von Unsinn und dummem Geschwätz, bis schließlich Abt Hilderaad mit erhobenem Brustkreuz für Ruhe sorgte.

Magnus wiederholte seine Frage. Eme Emesna nestelte unruhig an seinem Kittelumhang und warf einen vorsichtigen Blick auf den Brokmannen. Er hatte wohl erkannt, wie die gegnerischen Fronten verliefen und wollte nicht zwischen sie geraten. »Schon besser, wenn mehrere dran sind, die sich beraten. Einer kann falsch liegen«, sagte Eme tapfer, aber mit Angst in den Augen. Er traf damit nur einen Teil der Frage, aber es war der wichtige Teil und Magnus nickte ihm aufmunternd zu.

»Wohl gesprochen, Eme. Diese Meinung teilst du mit mir und vielen anderen Friesen auf dem Thing, auch mit Richtern.«

Der Bauer lehnte sich locker zurück, aber die vielen scheelen Gesichter machten ihm zu schaffen. Magnus behielt den Mann im Auge. Er ging sogar ein paar Schritte auf ihn zu und wartete, bis ihn jeder gespannt ansah. »Weißt du, Eme, es geht ja nicht immer nur um eine Kuh, verstehst du? Beim nächsten Mal entscheidet dieser eine, den du nicht mehr loswirst, was du auf deinen Feldern anbaust. Oder dass du dich für ihn zu schlagen hast«, sagte er lächelnd und sah den Bauern langsam nicken.

Nun regte sich die Gegenpartei, und Hylmerisna verlor erneut die Beherrschung. Sein Hals war zornrot und die Augen traten aus den Höhlen. »Was soll das? Was soll dieser Unsinn? Zur Sache! Zur Sache!«

Ayderd Zeerijp stellte unter beifälligem Nicken mehrerer Jurati fest, der Upstallesbame sei kein Ort für Rüpeleien. »Schreien kannst du zu Hause mit deinem Gesinde«, sagte er trocken und fing sich dafür einen vernichtenden Blick ein.

Magnus wartete darauf, dass das Rumoren sich legte. Dann sagte er: »Was uns der Bauer Eme Emesna hier mit seinen Worten sagt, ist doch dieses: Es frommt den Friesen und ihrer Auskömmlichkeit, wenn die Rechtsherrschaft stets in vielen Händen liegt. In Händen, die wechseln!«

Die beiden Äbte starrten ihn unverwandt an und jetzt war sichtbar zwischen ihnen und dem Augustinerprior Allardus eine Lücke, als wollte man durch Abstand zueinander deutlich machen, dass man unterschiedlicher Meinung war. Und dann war mit einem Mal bei den Priestern Bewegung, Bruder Ludgerus stand auf und näherte sich Abt Hilderaad, blieb in demütiger Haltung neben ihm stehen und flüsterte auf ihn ein. Der Abt schob die Kapuze seines Habits vom Ohr und lauschte mit geneigtem Kopf. Dann verdüsterte sich seine Miene, er machte eine schroffe Armbewegung und der Mönch wich zurück, aber er entfernte sich nicht. Er stand zwei Schritte hinter dem Prälaten und sah Magnus herausfordernd an. Der Himmel mochte wissen, was der Kirchspielpfarrer im Schilde führte.

Keno Hylmerisna hatte sich wieder gefangen. In seinen Augen stand unverhohlener Spott. »Und weiter?«

»Wir sollten dafür sorgen, dass das so bleibt«, sagte Magnus nüchtern und der Brokmanne schob seinen Oberkörper nach vorn. Die Hände hatte er in die Hüften gestemmt.

»Und wie, deiner Meinung nach?«, fragte er spöttisch.

»Indem wir unsere siebzehn Küren durch eine weitere ergänzen, die das so festlegt«, sagte Magnus ruhig und der Brokmanne richtete sich auf.

Mit gespreizten Schritten stolzierte er einmal durch das Rund, die Augen strichen über die schweigende Versammlung. In seiner Stimme war Vorwurf und Anklage. »Was uns Magnus tom Diek hier weismachen will, ist dieses, Brüder: Die Küren der Friesen sind schlecht. Er will sie nicht länger. Er will etwas, das sich seit Generationen bewährt hat, ersetzen durch etwas, das wir nicht erprobt haben. Wir wissen nicht, wohin das führt. Ich sage: Lasst das Recht so, wie es ist. So wie es ist, ist es gut. Wir brauchen kein neues.«

Pfiffe kamen von den Hügeln, Zustimmung und Ablehnung hielten sich die Waage, auf der Bank der Jurati waren einzelne Richter aufgesprungen, aber Magnus schüttelte lächelnd den Kopf.

»Ich glaube, jeder hier hat erkannt, wie du den Sinn meiner Worte verdrehst, aber sei’s drum. Mich wundert mehr, dass du das bestehende Recht so verteidigst, Keno. Mir scheint, du willst uns glauben machen, dass es dir viel bedeutet«, sagte er gelassen und der Brokmanne fuhr herum.

»So ist es! Willst du etwa behaupten, ich sei nicht rechts­treu?«, fragte er scharf.

Magnus schmunzelte, aber seine Augen blieben kühl. »Wenn es so ist, dann liegt dir gewiss vor allem dein eigenes Landrecht am Herzen. Die Küren der Brokmannen, ist es nicht so?«

Keno Hylmerisna zögerte. Es schien, als nähme das Gespräch eine Wendung, die ihm ungelegen kam. Die Frage war gefährlich, das dämmerte ihm, aber sofort war ihm auch klar, dass er sich nicht leisten konnte, sie unbeantwortet stehen zu lassen. Und in einer heißen Wutwelle erkannte er, dass er sie nur auf eine Art beantworten konnte, die seine Position in Frage stellte. Sie zumindest unglaubwürdig machte. Magnus tom Diek, dieser verdammte Hund, hatte ihn zum dritten Mal in der Falle.

Fieberhaft überlegte er, wie er nun formulieren konnte, ohne sich zu sehr zu schaden, aber es gab keinen Ausweg. Verfluchte Tat! Er schüttelte den Kopf und wischte sich mit der Pelzstulpe seines Ärmels über das nasse Gesicht. Die Abordnung seiner Landgemeinde hockte rechts vom Prälatentisch zwischen den Bäumen und schwieg. Unter Kitteljacken und Umhängen waren Gesichter kaum zu erkennen. Keno warf einen Blick hinüber und breitete selbstgerecht die Arme aus.

»Was für eine Frage! Ich wäre ein schlechter Brokmanne, wenn es anders wäre«, sagte er und vereinzelt hörte man zustimmendes Gemurmel.

»Und dein Steinhaus? Deine Burg in Buta Ee?«, fragte Magnus sofort und auf dem Platz wurde es still.

Hylmerisna stellte sich dumm aber er wusste, dass es aussichtslos war. »Was ist damit?«

»Das weißt du doch ganz genau, Keno. Oder du solltest es wissen. Wenn nicht, dann sieh nach: Es widerspricht der einhundertfünfzigsten Küre deines eigenen Landrechts«, sagte Magnus tom Diek und der Brokmanne öffnete den Mund, und in diesem Augenblick stieß Ludgerus, der immer noch hinter den Prälaten stand, ein Wort zwischen den Lippen hervor, es klang fast wie ein Fluch. Eghardus fuhr mit einer heftigen Bewegung herum, es war, als hätte jemand mit einem Strick an seinem Kopf gerissen. Der Zisterzienserabt starrte den Mönch aus schreckgeweiteten Augen an. Hilderaad zog in einer abwehrenden Bewegung den Kopf zwischen die Schultern und stand auf.

»Friesische Brüder!«, sagte er mit erhobenen Armen. »Es gebricht unserem Landrecht nicht etwa an der Kraft des Wortes. Sondern an der Macht zu seiner Durchsetzung!« Er kam rasch hinter dem Tisch hervor, ganz so, als könne er die Nähe zu Ludgerus nicht ertragen, und stellte sich neben den Brokmannen. »Aber bevor wir darüber reden, sollte Magnus tom Diek fortfahren, damit die Sache zu ihrem Ende kommt.« Er musterte den Hairlinger wie ein Raubvogel eine Maus. »Nun, Magnus, was ist es, das du uns zu sagen hast?«

Magnus sammelte seine Gedanken. Er hatte am Abend zuvor mit einigen der Richtern aus seiner Landgemeinde und dem Oosterambt zusammengesessen, am Feuer, Leuten, auf die er sich verlassen konnte, und sie auf seinen Vorstoß vorbereitet. Er hatte seine Küre im Wortlaut vorgetragen und die anderen hatten ihn danach schweigend angestarrt, man konnte ihnen ihre Vorbehalte von der Nasenspitze ablesen. Es war Ayderd Zeerijp gewesen, der schließlich gesprochen hatte.

»Die Sache mit den Rechten als Gerichtsherr schmeckt mir nicht, Magnus.«

»Warum?«, hatte Magnus gefragt, aber er kannte die Antwort. Das Amt des Gerichtsherrn war ein kritischer Punkt. Es brachte Vorteile in Geld und Gütern, und niemand verzichtete ohne weiteres auf Privilegien. Wer ließ sich schon gerne in die Tasche greifen?

Der Oosterämbter hatte sich zurechtgesetzt und war sich mit dem Handrücken über den Mund gefahren. »Deine Gegner sind auch so schon zahlreich, Magnus. Oder sollte ich sagen: deine Feinde? Wenn du ihnen auch noch an die Geldkatze gehst, vermehrst du sie unnötig!«

Magnus hatte den Kopf geschüttelt und gelächelt. »Es muss sein, Ayderd.«

»Warum?«, hatte diesmal der Westfriese gefragt und Magnus hatte sich vorgebeugt.

»Eine Strafandrohung muss erschrecken, sonst wirkt sie nicht, Ayderd. Wenn du ihnen ihre Einkünfte lässt, änderst du nichts.«

Zeerijp hatte darauf geschwiegen, aber in seinen Augen waren die Zweifel geblieben. Nach einer Weile hatte er dann geantwortet: »Es reicht ja nicht, dass es auf Pergament steht, Magnus, irgendwo in den Küren. Es muss auch durchgesetzt werden!«

»Sehr wohl. Wie in allen anderen Fällen auch, Ayderd. Keine Ausnahmen! Wir vollstrecken die Leibstrafe auch an Söhnen reicher Bauern, wie es geschrieben steht. Du selbst hast es getan«, hatte Magnus darauf entgegnet, aber vor sich selbst hatte er einräumen müssen, dass der Westfriese damit einen wunde Stelle berührte.

Und nun war der Zeitpunkt gekommen, sich zu behaupten. Er wusste, dass Abt Hilderaad zu seinen Gegnern zählte, es war fast symbolhaft gewesen, wie er sich neben den Brokmannen gestellt hatte. Und welche Rolle sein Kirchspielpfarrer spielte, begann Magnus auch klarer zu werden. Aber wie war er, ein einfacher Priester, im Machtspiel der Kräfte einzuordnen? Welchen Einfluss nahm er? Warum hatte ihn Abt Hilderaad damals auf den Posten des Gemeindepfarrers in Eesensem gezwungen? War der Wunsch, einen Störenfried aus dem Kloster zu entfernen, vielleicht nur vorgeschoben? Gab es andere, gewichtigere Gründe, den Mann loszuwerden? Und falls ja, mit welchem Zweck und Ziel?

Erst das Kirchendach. Dann die Sache mit der Glocke. Das Flüstern mit Abt Hilderaad, der ihn nicht wegscheuchte, sondern zuhörte. Das wie ausgespuckte, einzelne Wort im Rücken der Prälaten und der fassungslose Blick des Ihloer Abtes, Eghardus, der herumgefahren war, als hätte ihn eine Hornisse gestochen. Fragen, viele Fragen schossen Magnus tom Diek durch den Kopf. Er fühlte die Augen von Ayderd Zeerijp und den anderen seines Sinnes auf sich gerichtet und dann suchte er seinen Sohn. Enno saß bei den Oosterämbtern, der lange Adriaan und er hatten Wiska in die Mitte genommen und alle drei sahen ihn erwartungsvoll an.

Magnus holte tief Luft und begann zu reden. Er sprach zunächst vom sittlichen Fundament der friesischen Rechtsordnung und verknüpfte sie, während ihn Hilderaad scheel beäugte, mit den Kardinaltugenden Platons109. Daraus leitete er die auf freie Selbstbestimmung begründete Ausrichtung des Menschen als gottgewolltes Ziel des Schöpfungsplanes ab. Er unterstrich den Primat des Glaubens und der Kirche und betonte die sittliche Verpflichtung des Christenmenschen zur Freiheit. Das alles vollzog sich unter den ungeduldigen, ja wütenden Blicken der Äbte, die sichtlich verärgert darüber waren, dass ihnen hier einer in ihr Handwerk pfuschte.

Schließlich kam Magnus zu den Rechten der Friesen zurück und stellte dar, dass sie ohne eine gesicherte persönliche Freiheit wertlos wären. Es müsse also eine Rechtsnorm her, die innerhalb des Landrechtes die Freiheit des Einzelnen auf Dauer sicherstelle. An diesem Punkt hatte das Murmeln und Tuscheln auf den Hügeln so zugenommen, dass Magnus sich unterbrach. Auch am Tisch der Prälaten und auf der Bank der Jurati wurde inzwischen lebhaft diskutiert. Magnus wartete und schwieg, bis wieder Ruhe eingekehrt war. Dann lupfte er die Kapuze seines Umhangs und wischte sich die Nässe aus dem Gesicht.

»Noch einmal: Es geht darum, dass wir Friesen uns auch gegen Machtansprüche von unseresgleichen schützen müssen. Machtansprüche, die durch Küren und Landrechte nicht gedeckt sind. Ich schlage deshalb vor, unsere Küren durch folgende Primküre zu ergänzen:

›Wer durch Machtgier oder Eigensucht den Umgang unterbricht und damit die Freiheit der Friesen bedroht, geht aller seiner Ämter verlustig, namentlich derer als Richter oder Gerichtsherr. Verstöße gegen die Friedenspflicht hieraus mit Folgen für Haut, Haar oder Blut ziehen die Leibstrafe nach sich und können mit Wergeld nicht gesühnt werden.‹«

Auf Bitte des Abtes von Marienkamp wiederholte Magnus seine Küre und dann verlangte Keno Hylmerisna eine zweite Wiederholung. »Hört genau hin, Brüder, damit jeder versteht, was hier gefordert wird!«

Magnus wiederholte seine Küre zum dritten Mal, begleitet vom Gemurmel der Memoratori, die den Text mitsprachen, um ihn sich einzuprägen. Der dann eintretende Tumult legte sich auch nicht, als Abt Hilderaad für Ruhe sorgen wollte. Kaum noch jemand saß, Jurati und Versammlung hatten sich erhoben, waren aufgesprungen, Gegner und Befürworter standen sich mit geballten Fäusten und hochroten Köpfen gegenüber und brüllten sich an.

»Widerrede! Widerrede!« und »Recht so! Recht so!« und dazwischen Satzfetzen wie »völliger Unsinn!« und »längst überfällig!« und vereinzelt spitze Schreie »Veto! Veto!«110

Und mitten auf dem Platz Magnus und der Brokmanne, der eine lächelnd, der andere finster und mit vor der Brust verschränkten Armen. Schließlich scheuchte Hilderaad alle Priester und Mönche unter die Menge, um die ärgsten Streithähne zu trennen, aber auch das bewirkte nichts, die Geistlichen wurden einfach zur Seite gestoßen oder man hörte sie nicht an. Es bedurfte einer einfachen aber machtvollen Demonstration der drei Prälaten, die Ordnung in der Versammlung wiederherzustellen. Hilderaad, Eghardus und Allardus traten vor ihren Tisch, knieten nieder und beteten vor dem abgedeckten Reliquienschrein, so lange, bis auch der Letzte gemerkt hatte, was vorging und alle knieten und beteten.

Als sie geendet hatten, stand Abt Hilderaad auf und ließ einen Blick über die Hügel wandern, der Köpfe sinken und Augen niederschlagen ließ. »Verflucht! Verflucht sei, wer der Kirche ungehorsam ist!«, rief er mit grollender Stimme und die Gemeinde duckte sich. Dann wandte sich der Benediktiner an Magnus tom Diek. Sein ganzer Gestus war Missbilligung und Vorwurf.

»Da siehst du, was du angerichtet hast. Wie ich schon sagte; es fehlt nicht an Gesetzen, sondern an der Kraft ihrer Wirksamkeit. Was willst du mit deiner Primküre daran ändern?«, fragte er scharf und Keno Hylmerisna trat mit kleinen Schritten an den Abt heran, wie um klarzumachen, dass der Prälat auch für ihn spräche.

»Bevor Recht gebrochen werden kann, muss es gesetzt sein«, sagte Magnus trocken und warf die Haube seines Umhangs zurück, damit er gut zu sehen und zu hören war. »Oder, um es anders auszudrücken: Bis heute, da es eine solche Küre nicht gibt, ist die Unterbrechung des Umgangs kein Verstoß gegen die friesische Rechtsordnung. Diesen Zustand müssen wir ändern!«

Hilderaad verstummte mit mürrischem Gesicht und jetzt trat der Brokmanne vor.

»Wir haben siebzehn Küren und vierundzwanzig Landrechte«, sagte er und sein Blick strich über die Menge. »Sie sind uns von unseren Vätern überliefert, also schon sehr alt. Die Landgemeinden haben sich inzwischen eigene Rechtsordnungen geschaffen, die Küren und Landrechte, ohne ihren Geist zu verändern, dem heutigen Leben angepasst und weitgehend überflüssig gemacht haben.«

Er trat an den Prälatentisch und streckte die Hand nach dem Reliquienschrein aus. Und dann, unter dem irritierten Blick der beiden Äbte und dem völligen Schweigen der Versammlung, legte er dreist die Rechte auf das verzierte Kästchen. Legte sie tatsächlich auf den Reliquienschrein und hielt sie dort, für ein paar Atemzüge, während Hilderaad und Eghardus auf die Hand glotzen und vor Verblüffung kein Wort hervorbrachten. Es schien, als wollte der Brokmanne den Geist des heiligen Bonifatius beschwören zur Bestätigung dessen, was er sagte. Weiter entfernte Friesen erhoben sich, um alles zu sehen und Allardus, der Augustinerprior, zog mit einem scharfen Geräusch die Luft zwischen die Zähne ein.

»All dieses Recht hat es nicht verhindert, dass sich die Friesen bekämpft haben«, fuhr der Brokmanne ungerührt fort. »Zum rechten Gegenteil, sie haben blutige und verlustreiche Kriege geführt. Wohlgemerkt, untereinander! Gegen die eigenen Landsleute!«

Seine Stimme stieg und sah auf die westlichen Hügel, wo die Abordnung aus Ostringia111 hockte. »So war es bei der Fehde der Landgemeinde Ostringia gegen die Brüder aus Wangia, die letztere durch einen Totschlag bei einem Begräbnis ausgelöst hatten!«

Er wurde noch lauter und hob die Arme, da sich bei den erwähnten Gemeinden Widerspruch regte. »Das alles ist lange vorbei, fast zweihundert Jahre, und es wurde gesühnt und Schaden wiedergutgemacht, ich weiß. Entscheidend ist aber etwas anderes.«

Er fuhr herum und warf Magnus tom Diek, der immer noch ruhig auf dem Platz stand, einen höhnischen Blick zu.

»Diesen Krieg haben unsere Küren und Landrechte nicht verhindert, aber es kommt noch schlimmer«, fuhr er hastig fort, da Magnus den Mund öffnete. »Man hielt es sogar nötig, zu seiner Beendigung die Sachsen ins Land zu holen, den Grafen von Aldenborch und sogar König Heinrich, den man den Löwen nennt. Es hat nichts genützt, unsere friesischen Brüder aus Ostringia haben sie mit blutigen Nasen dorthin geschickt, woher sie gekommen waren!«

Auf den westlichen Hügeln erhob sich Jubelgeschrei und Fäuste streckten sich in den grauen Himmel. Der Brokmanne winkte hinüber. »Wohl getan! Wir brauchen keine Fremden, um unsere Streitigkeiten zu schlichten. Das schaffen wir immer noch allein!« Sein Arm fuhr aus und wies auf den Tisch der Klosterführer. »Wenn es sein muss, mit Hilfe der heiligen Mutter Kirche112

Die beiden Äbte nickten, während Allardus wie versteinert dasaß. Magnus tom Diek stand ruhig und hörte zu. Er hatte erwartet, wie der Brokmanne argumentieren würde, und seine Sichtweise lag ja auf der Hand. Es war selbstverständlich, dass es nicht genügte, der bestehenden Rechtsordnung eine weitere Vorschrift hinzuzufügen. Vielmehr kam es darauf an, dem Recht insgesamt Geltung zu verschaffen. Und zwar nicht nur bei alltäglichen Streitigkeiten, sondern vor allem in den umfassenden, grundlegenden Fragen der Freiheit.

»Du hast die Fehde der Menalda mit ihren Nachbarn, den Tadegma, den Aldinga und Rodmar Einauge vergessen, anno eintausendzweihundertundfünfundneunzig«, warf er ein. »Und was willst, was kannst du uns damit beweisen? Doch lediglich, dass der friesische Friede weiter gefestigt werden muss. Und zwar durch die gerechte Verteilung von Macht und, vor allem, durch gesicherte Freiheitsrechte jedes einzelnen.«

Keno Hylmerisna schüttelte den Kopf. »Du redest und redest und redest, Magnus tom Diek. Aber du bringst uns nicht weiter. Was ich sage, beweist Folgendes: Die Friesen brauchen starke Hände, gerechte Hände. Hände zur Lösung innerer Konflikte, zur Sicherung des gerechten Ausgleichs untereinander und zur Abwehr äußerer Gefahren!«

Magnus blieb ruhig. Der Anwurf des Brokmannen berührte ihn nicht. »Du meinst deine Hände, nicht wahr, Keno?«

»Es könnten auch deine sein, Magnus, unter anderen. Entscheidend ist, dass sie stark sind. Gegenwärtig erleben wir viele, zu viele Schwache, Versager, die ihre Ämter überkommenen Regeln verdanken. Also zum Beispiel unserer derzeitigen Richterordnung. Sie hat keine Zukunft.«

Es hatte aufgehört zu regnen, die Knechte hatten schon seit längerem ein neues Feuer entfacht und Fackeln angezündet, denn die Dämmerung schritt voran. Das Angelusgebet wäre längst zu vollziehen gewesen, aber anscheinend hatte Abt Hilderaad vor, es auf den Abschluss der Tagung zu verlegen. Das Rund um die Bank der Jurati und den Tisch der Prälaten war hinreichend ausgeleuchtet, für jeden gut sichtbar, doch die Hügel umher lagen überwiegend in verwaschenem Dunkel. Die wenigen Fackeln bei den Abordnungen reichten nur zu kleinen, verstreuten Lichtinseln.

Magnus sah Ayderd Zeerijp und die anderen Richter, die beiden Äbte mit vor Müdigkeit grauen Gesichtern und daneben Allardus, hoch aufgerichtet und aufmerksam, als sei er soeben von einem geruhsamen Schlaf erwacht. In der Wand aus schweigender Schwärze war niemand sichtbar, aber er fühlte viele Augenpaare auf sich gerichtet. Und er sah Keno Hylmerisna, den Brokmannen, der wenige Schritte vor ihm stand und ihn herausfordernd musterte.

Es war gesagt. Der Brokmanne hatte die Katze aus dem Sack gelassen, aber niemand rührte sich. Stidolf Noerlant und die anderen Richter aus dem Noerderlant, Männer, die ihm ihre Unterstützung zugesagt hatte, hockten mit gesenkten Köpfen. Aber dann, wie in Trance, erhob sich Ayderd Zeerijp, trat an den Tisch der Prälaten und flüsterte mit dem Augustinerprior. Allardus lauschte aufmerksam mit vorgestrecktem Ohr, nickte schließlich entschlossen, nickte noch einmal und hob den Blick, zuerst auf Magnus, dann auf den Brokmannen und der Oosterämbter trat in die Mitte. Er zog die Leges Upstals­bomicae aus der Tasche, öffnete das Dokument und hielt es hoch. Das Pergament war eng beschrieben, an den Siegelriemen der westlichen Seelande hingen die Spiegel der Landgemeinden, die Riemen der östlichen Seelande waren leer.

Zeerijp räusperte sich und drehte sich einmal um sich selbst. »Friesische Brüder, hört mich an!« Weiter kam er nicht, denn der Brokmanne fauchte barsch dazwischen.

»Was willst du, Ayderd? Mit diesem Pergament sind wir fertig, es richtet sich gegen den Grafen von Holland und hat schon anno dreiundzwanzig keine Mehrheit gefunden. Nicht umsonst sind die Siegelriemen der östlichen Landgemeinden leer geblieben. Mit unserem jetzigen Disput hat es nicht zu schaffen. Also pack es weg, und wenn du sonst nichts zu sagen hast, dann schweige und setz dich wieder hin!«

Das kam so grob ungehörig, derartig brüsk und ehrverletzend, dass Ayderd Zeerijp wie vor den Kopf gestoßen verstummte und sich tatsächlich wieder an seinen Platz begab. Magnus traute seinen Augen nicht. Und immer noch gab es keine Gegenwehr, keine Reaktion, weder zu diesem flagranten Angriff Hylmerisnas auf die Redjevenordnung noch auf sein rüpelhaftes Auftreten. Die Jurati schwiegen, der Oosterämbter nun mit gesenktem Kopf, Stidolf Noerlant und die anderen in erkennbarer Resignation. Besonders enttäuscht und verärgert war Magnus über die Richter seiner eigenen Landgemeinde, Leute wie Hayo Ernedigan, die ihm vorher großspurig ihre Unterstützung zugesagt hatten und die nun mit verkniffenem Mund dasaßen. Niemand von ihnen, nicht einer, hatte während des Disputs auch nur ein Wort gesagt. Vom Tisch der Prälaten kam kein Ton, auch von Allardus nicht, der offenbar die Richter der westlichen Abordnungen nicht desavouieren wollte, und auf den Hügeln war Stille. Am Ende werden wir uns nicht an die Worte unserer Feinde erinnern, sondern an das Schweigen unserer Freunde, dachte Magnus tom Diek bitter.

Er überschlug die Aussichten seines Vorstoßes. Sie waren dahin, zerstoben, hinweggeweht von bequemer Igno­ranz, feiger Trägheit und mangelnder Selbstbehauptung vieler seiner Landsleute, die der stürmischen Herrschsucht derer, die nach vorn drängten und Veränderungen wollten, nichts entgegenzusetzen hatten. Es war vorbei. Er fühlte seine Ohnmacht und galliger Zorn stieg ihm in die Kehle. Jede Faser seines Körpers sträubte sich dagegen, diese Niederlage hinzunehmen. Wenigstens wollte er den Brokmannen bloßstellen, ihm die verlogene Maske der Rechtschaffenheit und der Fürsorglichkeit vom Gesicht reißen und ihn den Friesen zeigen, wie er wirklich war: machtgierig, bedenkenlos in der Verfolgung seines Nutzens, eine Gefahr für die Freiheit!

»Ich hoffe, ihr habt alle gut zugehört«, sagte Magnus, drehte sich einmal im Kreis und wiederholte seinen Satz noch zweimal. Er sah Ayderd Zeerijps Blick auf sich gerichtet, aus feuchten Augen, das Gesicht dunkel vor Scham. Der Hairlinger beendete seine Drehung und machte Front gegen den Brokmannen. Seine Stimme war von metallischer Härte. Mit einer kleinen, spöttischen Verneigung sprach er Keno an.

»Ich beglückwünsche Euch, Keno Hylmerisna. Oder sollte ich sagen: Keno to Brokmannia? Oder vielleicht sogar: Eure Gräfliche Herrlichkeit?« Er fing den Blick des Brokmannen noch auf, eine Mischung von bestätigtem Stolz und ärgerlichem Missfallen, bevor er sich abrupt abwendete. Seine Stimme hob sich.

»Ihr werdet noch an meine Worte denken, friesische Brüder! Ihr selbst bereits werdet unfrei, Familien wie die Hylmerisna werden über euch Recht sprechen. Immer! Und nur sie! Ihr werdet ihnen den Zehnten zahlen und für sie arbeiten, vielleicht sogar kämpfen. Und eure Kinder werden schon nicht mehr wissen, wie es war, frei und eigenständig zu sein!«

Er schwieg und wartete, lauschte auf zornigen Widerspruch, Tumult, aber es blieb still. Niemand sprach auch nur ein Wort. Er sah Blicke auf sich gerichtet, Augen, die an seinen Lippen hingen, als erwarteten sie, dass er endlich die erlösenden Worte spräche, kleiner Scherz, Freunde, alles nicht so schlimm, aber das Schweigen hielt an. Das Schweigen unserer Freunde, dachte Magnus tom Diek. Das Schweigen unserer Freunde!

Allardus starrte auf seine Hände, die Benediktineräbte musterten ihn brütend. Auf der Bank der Richter blieb man stumm, er sah in schreckgeweitete und in wütende Augen über Mündern, die tonlos geöffnet oder zornig verkniffen waren und über die Wangen des Oosterämbters liefen dünne Tränenbahnen. Aber nicht eine Stimme erhob sich.

Keno Hylmerisna hatte mit wachsendem Unmut zugehört, mehrmals den Mund zu scharfem Widerspruch geöffnet, dann aber gezögert, abgewartet und begriffen, dass die Situation ihm nützte. Er hatte es nicht nötig zu widersprechen. Täte er es, dann läge darauf das Odium der ohnehin bekannten Gegnerschaft zu dem Hairlinger. So ließ er geschickt das Schweigen für sich wirken. Der Thing, die Friesen selbst, entzogen mit ihrem Verhalten dem Antrag des Magnus tom Diek den Boden. Der Brokmanne hatte gewonnen. Es kam jetzt nur noch darauf an, diesen Sieg förmlich festzustellen.

Mit kleinen, gezierten Schritten trat er vor. »Es scheint, dass du den Friesen keine Angst machen kannst, Magnus«, sagte er mit einem feinen Lächeln. »Sie erkennen, dass deine Menetekel falsch sind. Du willst ihnen das Licht einer guten Zukunft als warnendes Feuerzeichen verkaufen. Das verfängt aber nicht. Wie du siehst.«

»Gute Zukunft? Du redest falsch und du weißt es, Keno! Was unsere Ahnen in blutigem Kampf erstritten haben, als Privileg Karls des Ersten, das fällt nach deinen Plänen deinem Ehrgeiz und deinem Machtwillen zum Opfer!«, gab Magnus scharf zurück.

»Unsinn! Aber da wir schon von Kaiser Karl reden: Er konnte den Friesen nur deshalb das geben, was du Freiheit nennst, weil er die Macht dazu hatte! Und diese Macht hatte er, weil er sein Reich mit eiserner Hand zusammenhielt. Und sich nicht zu schade war, diese Macht etwa auch dadurch zu sichern, dass er in Verden viele tausend sächsische Köpfe nahm113. Die Aller war ein roter Fluss in diesen Tagen.«

Magnus hob die Schultern. »Auch der Große Karl hat schrecklich gesündigt, und er taugt nicht in allen Fällen als gutes Beispiel. Im Übrigen sollte es dir zu denken geben, dass diese 4500 Enthaupteten samt und sonders Adelige waren.« Er zwang sich zu einem ironischen Lächeln, aber der Brokmanne drehte ihm den Rücken zu.

»Es ist genug geredet. Die Zeit drängt«, sagte er und die beiden Äbte nickten. Als amtierender Enunciator ließ Hylmerisna über den Antrag zur Primküre abstimmen. Nur wenige Hände hoben sich, als er nach Zustimmung fragte, und einige davon recht zögerlich. Stidolf Noerlant war darunter, Hayo Ernedigan und ein weiterer Richter aus dem Hairlingerlant und auch Ayderd Zeerijp, der Oosterämbter mit entschlossenem Gesicht, als könnte er sein Versagen während der Verhandlung nun durch eine gestreckte Faust wettmachen. Magnus fing seinen Blick auf, der um Anerkennung bettelte, und er lächelte ihm zu, aber er empfand nur Mitleid und Enttäuschung. Die Gegner waren weit in der Überzahl und der höhnische Triumph auf den Zügen des Brokmannen bedrückte ihn nicht so sehr wie die Genugtuung, die man bei den Äbten ablesen konnte. Prior Allardus saß wie versteinert. Was er dachte, war nicht zu ergründen.

104) Teil einer Kirche, in der sich der Altar befindet.

105) Mitbruder

106) lat.: Erzähler. Hier: Aus dem Gedächtnis Berichtende

107) Die neunte Stunde im Tagesablauf des mönchischen Lebens, hier: der Benediktiner (zwischen 14.00 und 15.00 Uhr).

108) Überwurf über Brust und Schulter, Teil der benediktinischen Ordenstracht.

109) Klugheit (Prudentia), Gerechtigkeit (Justitia),Tapferkeit (Fortitudo) und Maß (Temperantia).

110) lat.:»Ich verbiete!«

111) Östringen, friesische Landgemeinde im heutigen Raum Jever.

112) Die »Östringer Fehde« wurde 1178 nach etwa 30 Jahren Dauer durch Friedensverhandlungen auf Veranlassung des Erzbischofs Balduin von Bremen und des Abtes des Klosters Rastede, Meinrich, beendet.

113) Karl der Große ließ im Rahmen der Sachsenkriege im Jahre 782 bei Verden/Aller 4500 Sachsen enthaupten.

Friesische Herrlichkeit

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