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Neuntes Kapitel

Der Gottgeist treibt Jesus nicht plan- und ziellos, sein Sehnen führt ihn nicht in die Irre. Zur Sammlung und Tiefenschau ruft die Gottheit Jesus auf.

Aus dem lärmenden Getriebe am Jordan flieht er nach Osten, dem Sonnenlauf entgegen. Über zerklüftetes Gestein, dünnen Flugsand, durch öde, baumlose Bezirke der peräischen Wüste wandert sein Fuß, ohne zu ermüden, denn der Geist beherrscht seinen Leib, das Fleisch wird ihm untertan, und sein gottgestärkter Wille wird zur lebendigen Kraft. Tagelang müht er sich durch weglose Strecken vorwärts, sieht Bächlein an sich vorüberziehen, erquickt seine Kehle mit ihrem Nass, schläft unter einer einsamen Palme oder auf hartem Gestein, und wandert, wenn tagsüber die Hitze den Boden durchsengt, in der Nacht dem Mond entgegen, unter dem nahen Geheul der Schakale, die hinter Sand und Steinhügeln schleichen. Zu seinen Füßen leuchten abgeschliffene Feuersteine. Er greift da und dort nach einem und lässt sein Licht im Monde spielen. Wärst du Brot, sinnt er in die unerbittliche Härte hinein, der Weg wäre freundlicher. Wenn die Nacht durchwandert ist und der Morgen kühlhauchend übers Gestein weht, legt er sich zur Ruhe nieder und horcht lange in sich hinein. Kaum dass er ein bisschen schläft. Ununterbrochen fühlt er, wie das neugeborene Leben seiner Seele rauscht und gärt, wie alles in ihm nach einem einzigen Gefühl hinstrebt, mit dem er die Größe der Allheit zu fassen sucht, und dieses Gefühl formt sich zu einem Begriff, dem er den Namen Vater gibt.

Nach tagelanger Wüstenwanderung gönnt er sich anhaltende Rast. Um ihn herum steiniges Ödland und rauer Sand, Gerölle und bröckelnde Felswände. Dünn tropft es aus einem Spalt und zaubert dürftiges Leben in die Wüstenei. Jesus legt sich auf seine Decke und rollt sich das Essäergewand zum Polster zusammen. In sein Gedankenstarren kommt Leben, Bilder durchgaukeln sein Hirn, Erinnerungen halten den Geist wach. Moses’ herbe Patriarchengestalt erhebt sich vor ihm, da der Herrscher der Stämme die steinernen Gesetzestafeln empfing und vierzig Tage und Nächte auf dem Berg in der Geborgenheit Jahves saß.

Was wird mir für ein Gebot werden, sinnt der Nazarener in die hitzeflimmernde Luft über dem Gestein. Soll sich in mir Moses wiederholen? Soll, was Gott wie einen schönen Keim in meine Geburt legte, hier vorbereitet werden im stillen Gang der Wüsteneinsamkeit? Vollendet sich hier eine durch die Taufe angefangene Wesenheit? Werde ich hier Kräftigung meiner Menschlichkeit finden, die bisher von Gottes Hauch nur leise berührt ward?

Die Fragen überstürmen ihn, und er bittet die Allmacht um einen gewissen Geist, auf dass er nicht irregehe.

Wenn ich hier, sinnt er, an dem gewählten Ort der Sammlung an der Gebrechlichkeit des allzu Menschlichen verkomme? Diese Tropfenquelle braucht nur zu versiegen, und der Vorsatz der inneren Reinigung liegt zerbrochen da. Nein, der Herr hat ein ungehorsames Volk mit Manna gespeist in der Wüste Sin, er wird mir, dem gehorsamen, getreuen Sohn den wilden Honig senden und die Quelle nicht versiegen lassen, denn ich stelle mich auf sein Geheiß unter sein Gebot. Niemals war ich von Gott getrennt, und also bin ich die wirkende Kraft seines Willens und mit dieser Kraft ausgerüstet gegen die Feinde des Menschen.

Feinde? Hier in der Wüstenöde? Sind es die armen Tiere, die zwischen den Felsen schleichen und mir ihr fleischlüsternes Gesicht weisen? Heulen mir Schakale und Hyänen Feindschaft zu? Ist der Eule Geschrei ein Zeichen ihres Widergeistes? Ich glaube es nicht, und also ist es nicht. Und welche Geister irren sonst hier herum? Schemen der menschlichen Einbildung sind sie; absonderlich mag ihre Gestalt sein, geborgt von den Schauern der Gehenna (Hölle), erlistet aus der Werkstatt des Satans oder Abrimans, aber im Grunde wesenlos und durch einen Hauch der gerechten Seele in ein Nichts zerstiebend. Wer dem Schrecken bejahend entgegentritt, verfällt ihm ganz, wer ihn verneint, besiegt ihn.

So beginnt Jesu Angewöhnung an die äußere Erscheinung der Wüstenwelt.

Sie wird ihm allmählich zum Sinnbild der seelischen Wüste des Menschen. Wie hier die bizarren, schrecklichen Formen der Steinbildung ihn narren und ängstigen wollen, wie das Getier umherschleicht und seine unheimliche Sprache spricht, wie die Öde ihm ihr blumenloses Antlitz zeigt und die Qual der Hitze und Dürre seine Glieder ausdörren will, so hat auch die Menschenseele ihre schreckhafte Wesenheit, ihre unheimliche Sprache, ihre Lebensarmut und Dürre. Das alles zu überwinden, scheint ihm eines aufrechten Kämpfers wert.

So verlaufen Stunden gespanntester Besinnlichkeit. Es werden Tage daraus. Der Wüste gleichmäßiger Atem geht fast lautlos über das Gestein, das die Glut der Sonne saugt. In gelblichbraunen Tönen, erst durch den Abendpurpur verfärbt, breitet sich streckenweit das Leichentuch des Sandes aus. Manchmal stäubt er auf, von des Meerwindes Armen aus der Starre geweckt. Die Nächte stehen mondhell oder sternenklar über der Sand- und Steinöde. Immer wenn die Tagfrühe heranschleicht, fröstelt den Nazarener, er hüllt sich in den Mantel, geht umher, sammelt den vertrockneten Mist der Wüstentiere, wirft dürres Domgestrüpp dazu und schlägt mit dem Stein Feuer, um sich daran zu erwärmen. Sein Haar ist übertaut vom Segen der Frühe; es wird heiß unter der Glut des Wüstentages, durchkältet vom Nachtfrost.

Manchmal, wenn er von seinem Lagerplatz in die Verlassenheit der Sandzone wandert, begegnet er da und dort einem von der Hitze verdorrten Strauch, von dem die verstaubten, lederartigen Blätter hängen, des inneren Saftstromes beraubt. Hungrig sammelt er die Blätter und kaut sie. Es ist die kümmerliche Nahrung seines Leibes. An solchen Stellen scheuchen auch Heuschrecken von Ast zu Ast. Er fängt und tötet sie, weiß, dass auch Johannes von diesen an der Sonne getrockneten Tieren lebt. Auch den Honig der wilden Hummeln schlürft er mit der Wonne des Hungrigen. Von so kümmerlicher Kost werden seine Wangen hohl, sein Antlitz schmal, seine Augen matt, seine Glieder kraftlos.

Aber sein Geist wächst unter den Entbehrungen und unter der selbst gebotenen Not in feinste Wesenheit hinein. Wie feurige Lohen durchzuckt es manchmal das Weben seiner Gedanken. Johannes hat ihn als den kommenden Retter gepriesen, und die Stimme von oben hat für ein neues Verhältnis zu Gott ihre heiligende Bestätigung gegeben. Als Sohn wurde er bekannt von dem Weltenvater. Darin lag eine grundsätzliche Änderung seines bisherigen Zustandes. Ganz deutlich war dieser weihevolle Ruf an sein inneres Ohr geklungen und hatte ihm eine neue Bewusstseinsprägung gegeben. Er weiß nun, dass er auserwählt ist, das Kind des Vaters unter seinen vielen Kindern zu sein. Zum ersten Mal regelt sich in seinem Bewusstsein blitzartig sein Leben zu Gott. Er nennt ihn nicht mehr Jahve, sondern Vater. Und damit gewinnt er die Kraft der Berührung mit den unsichtbaren, für ihn aber fühlbaren Händen. Das Tauferlebnis ist ihm zum untrüglichen Zeugnis seiner Berufenheit geworden. Eingetaucht in das Wasser, starb sein Vergangenes, herausgestiegen aus dem Reinigungsbad, schritt er in das Neue, Kommende hinein. Er ist ein anderer geworden, und er trägt fortan das Siegel des göttlichen Willens auf der Stirn, das ihn befähigt, der Menschen Erlöser zu werden.

Und nun kommt ein Tag, an dem sich der Sieg des Geistes über die Stofflichkeit bewähren soll. Gnade Gottes will errungen sein. Jesus ist bereit, sie zu erstreiten. Immer mehr und mehr engt des Körpers steigende Not sein Denken ein. Immer kümmerlicher wird die Nahrung, immer spärlicher der Tropfenquell aus der Felsspalte, immer deutlicher zeigen sich die Spuren der Askese an dem Verfall seiner Glieder. Der schön gewachsene Mannesleib wird zum dürren Gerippe, das Augenfeuer erlischt, die Knie beginnen zu schlottern, und welk hängt das Fleisch an den Knochen. Luzifers irdischer Geist versucht an Jesu Menschlichkeit seine Zerstörungsarbeit zu beginnen. Der Nazarener soll aus seinem erträumten Himmel niedersteigen und die Kraft der Erde anerkennen, die, weil von ihm durch sein inneres Leugnen beleidigt, sich an seiner Fleischlichkeit rächen will. Er stirbt äußerlich ab, während sich sein Geist mit jedem Tasten nach himmlischen Höhen neu gebiert.

Und es naht eine Nacht, da Jesus, überwältigt von Hunger, in einer Steinmulde niederfällt. Das geistige Wesen ist noch nicht so stark gekräftigt, dass es das fleischliche in seinen Bann zu ziehen vermag. Gott hält in dieser Sternstunde den Atem an, denn nun muss sich sein auserwählter Sohn in den Dienst seiner Göttlichkeit stellen, und zwar freiwillig und tapfer, oder er muss ihn verleugnen.

An die Füße des erschöpften Nazareners schleicht eine Hyäne heran und äugt mit schimmernden Raubtierleuchten nach ihm. Ein Steinwurf könnte sie töten und dem Ermatteten den kräftigenden Bissen geben. Aber mit der zärtlichen Gebärde des alle Geschöpfe liebenden Gottmenschen scheucht der wunderliche Einsame das Tier von sich, das in seiner heiligenden Nähe den eigenen Hunger vergessen hat.

Zu seinen Häupten kauert sich ein Käuzchen nieder und versucht mit der scheuen Sprache seines Flügelschlages zu ihm zu sprechen. Der Nazarener wendet den Kopf und begegnet den funkelnden Blicken der Eule. Mensch- und Tierseele finden sich in einem Blick, der ihre geschöpfliche Verbundenheit ausdrücken soll. Auch hier könnte ein Steinwurf dem ermatteten Kämpfer Labung bringen. Jesus verzichtet auf die Tötung, denn es widerstrebt ihm, so leichten Kaufes seine innere Haltung zu ändern.

Aber da wächst die leibliche Erschöpfung ins Ungeheure, und die Glieder versagen dem Willen ihren Dienst. Unsäglicher Hunger bis zum Erbrechen krampft in des Nazareners Gedärmen, sein Kopf schmerzt bis zum Toben, und seine Sinne wollen vergehen. Mit geschlossenen Augen liegt er in der Felsmulde und schaut in das fieberhafte Tanzen seiner Gedanken. Mit einem Mal glaubt er, die Lider öffnen zu können ...

Vor seinen Augen leuchtet die schöne Versuchergestalt des entgotteten Verneiners, angetan mit dem Glanz irdischer Wonnen, ausgestattet mit dem Reiz satter Behaglichkeit und der äußerlichen Kraft des Beherrschers der Erde. Schmeichlerisch neigt sich der satte Schöne zu dem Kraftlosen nieder, und sein wonniger Atem streift das Ohr des Galiläers.

„Bist du nicht Gottes Sohn? Was zögerst und säumst du? Du hast Kraft, aus diesen Steinen Brot zu machen. Iss und labe dich!“

Aber das Gift dieser lockenden Stimme träufelt in ein schon an Gott verschenktes Herz, das die Kraft besitzt, dem luziferischen Versucher zu trotzen. Mit neugestärkten Sinnen hält Jesus dem um seine Schwachheit werbenden bösen Geist entgegen: „Der Mensch lebt nicht von Brot allein, sondern von einem jeglichen Wort, das aus Gottes Mund geht.“ Gleich darauf schwinden ihm die Sinne.

Wie eisiger Schauer überläuft es den Versucher. Aber schneller Verzicht auf Schliche und Listen ist nicht seine Art. Sein Geist wühlt sich in die Hinfälligkeit des armen Wüstenkindes hinein und zaubert ihm die Tempelzinne von Jerusalem vor das im Fieber glühende Auge.

Jesus sieht sich turmhoch erhöht über dem Abgrund, der unter der Zinne gähnt. Und des Versuchers leise tönende Stimme knistert zu ihm:

„Bist du Gottes Sohn, so lass dich hier hinab. Gott wird seinen Engeln befehlen, dich auf Händen zu tragen, auf dass dein Fuß nicht an einen Stein stoße. Also steht es geschrieben.“

Da bäumt sich in des Verschmachtenden Herzen die Wehr der Reinheit auf, und mit vertrockneten, brennenden Lippen hält er ihm entgegen: „Es steht auch geschrieben, du sollst Gott nicht versuchen.“

Des Satans Atem schnauft durch die Wüstenstille. Ist er denn wirklich nicht unterzukriegen, der da, dem Weh der Erde preisgegeben, schon halb verkämpft vor ihm liegt? Er berührt sein Gesicht mit dem verführerischen Anhauch seiner schönen Lippen und webt unter seine glühheiße Fieberstirn ein lockendes Bild: Auf einem hohen Berg steht der Nazarener, und sein Auge schweift trunken über die unermesslich hingestreckten Reiche der Erde, glühende Lande tun sich auf, von Strömen durchzogen, Schiffe segeln über Meeresweiten, und sonnenbeschienene Städte, aus denen der Glanz des Reichtums blendet, legen ihren schimmernden Marmor an die Golfküsten, und glückliche Menschen ziehen friedeatmend durch die Gassen und jauchzen der Sonne entgegen.

Der Versucher rückt mit seinem Mund dicht an das Ohr des Staunenden heran und lässt seinen Stachel in das verzückte Herz gleiten.

„Dies alles, höre doch nur, Mensch, dies alles will ich dir geben, so du niederfällst und mich anbetest.“ Und der traurige Schirmherr des irdischen Wahns schlürft sein eigenes Wort wie Honigseim und sein Blick saugt das Licht, das in den Augen des Berückten glänzt. Nun, meint er, sei das letzte Netz um die Seele des Zögernden gelegt.

Aber da wabert heilige Glut in den Leuchten des Erhabenen. Er erkennt in dem Versucher des Menschen Abfall von Gott, von der Kraft seines schöpferischen Werkes. Rührt sich der Satan, erzittern die Guten und freuen sich die Bösen, die Lieblinge seines Herzens. Ihm sagt er nun unerbittlich den Kampf an. Mit dem Ingrimm überlegener Bezwingerkraft schleudert er ihm das wuchtige letzte Wort hin: „Von mir Satan! Denn es steht geschrieben: Du sollst Gott allein anbeten und ihm dienen.“

Unter dem feurigen Anprall der Abwehr duckt sich Satans tückisches Herz zusammen, ein eisiger Schauer fährt durch sein Gebein, und während der Nazarener, gestärkt durch sein aus der eigenen Brust geholtes Wort, sich hehr aufrichtet, fährt der Geist der Versuchung einem Sturmfloß gleich durch die Lüfte.

Der Nazarener fühlt, wie die Dunkelheit, die sich beim Nahen des Satans um seinen Menschen gelegt, sich zu lichten beginnt, wie überirdischer Glanz ihn siebenfarbig umwogt und aus dem Strahlenmeer des Himmels dienende Boten der Allmacht niedersteigen und ihn hilfreich laben. Er öffnet das Auge, und er meint, aus einem unerquicklichen, herzbeengenden Traum erwacht zu sein. Neben ihm fließt reichlicher der Quell, und die Heuschrecken hüpfen in Scharen über die mondbeleuchteten Steine. Er kann den Hunger stillen.

Nun wird es ihm bewusst: Er hat mit dem Fürsten dieser Welt gerungen, und er hat gesiegt. Erhabene, aus dem Himmel strömende Kraft ergießt sich in sein schon halb zerstrittenes Herz. Und die Fülle dieser Kraft, das fühlt er nun, ist ihm nicht als Eigenbesitz geschenkt, sondern zum Wiederschenken an die im Bösen verstrickte Menschheit gegeben. Austeilen muss er den seelischen Besitz im Namen dessen, der ihn ihm verliehen, an alle Bedürftigen, Hungernden und Dürstenden, eine Quelle der Liebe muss er sein, die sich über die Welt verströmt. Die drei einem Traum gleichenden Versuchungen haben ihm den Weg zum Dienst an der Menschheit gewiesen. Den Weg zu gehen konnte nicht allzu schwer sein, denn Johannes hatte ihn durch die Schaufel seines Worts geebnet. Und zu ihm, dem Pfadbereiter, drängt es ihn nun wieder zurück, nachdem er vierzig Tage und Nächte den Leib in dem Bann der Wüste gehalten und seine Seele gestärkt aus dem Feuer der Versuchung gerettet hat.

An einem verglühenden Abend, der seinen violetten Mantel über den Sand der Wüste breitete, zog er dem königlichen Gestirn nach, das hinter den judäischen Bergen versank. Hinter ihm schlich ein Wüstenluchs nach, demütig, ohne Fressgier, als gäbe er dem Erhabenen im Namen der wilden Tiere das letzte Geleit. Über den dürren Gräsern lagerte die gestirnte Dunkelheit, mondlos, erfüllt von lautlosem Schweigen.

Das hohe Leuchten

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