Читать книгу Das hohe Leuchten - Ludwig Huna - Страница 6
ОглавлениеDrittes Kapitel
Von den judäischen Kahlhöhen, über denen die Sonne einsam aufs Gestein brennt, schier unbeweglich, als hätte sie ein neuer Gideon zum Stillstand gebracht, steigen scharenweise müdgewanderte Gestalten, Männer und Frauen, alt und jung zu dem schilfbestandenen Ufer des Jordan hinab, der seine Schlammfluten zwischen Ödland und Wüstensand dahinwälzt. Über Stock und Stein oder auf Karawanenwegen pilgern Judäer mit lebensmüden Herzen ostwärts, hinter sich das Grautier am Zügel nachschleppend, das Decken, Zelt und Mundvorrat trägt. Ihre Augen sind sehnsüchtig gespannt gegen Sonnenaufgang gerichtet, wo sie ihn sehen werden, über den die seltsamsten Gerüchte im Lande umgehen. Seit Wochen pilgern die Ärmsten der Armen in dieser Richtung und quälen sich mit der Frage ab: Wird er uns befreien? Von dem unseligen Druck Roms und des Herodes? Wird er das unruhig schlagende Herz, das über den eigenen Sünden zusammenzubrechen droht, erquicken oder zu Scheolsqualen verdammen? Je näher die Pilger der Niederung kommen, desto größer wird die Erregung. Noch sehen sie den Fluss nicht; aber schon zeigen sich die zarten Morgensonnendünste dort drüben hinter den Höhen, die den Lauf des Wassers anzeigen.
Eine kleine Judenschar steigt eben aus der Tiefe herauf, den Pilgern entgegen.
„Da kommen welche vom Jordan zurück“, sagt ein junger Mann aus Bethlehem. „Wir wollen sie ausfragen.“
Die Wanderer rasten auf sonnenheißem Felsboden und lassen die vom Jordan kommende Schar herankommen.
„Es sind arme Leute, scheint’s“, sagt eine müde Frau mit Triefaugen.
„Sie haben weder Esel noch Traghabe.“
Zehn reife ernste Männer arbeiten sich den Felsensteig herauf. „Ihr wollt an den Jordan?“, fragt einer von ihnen die Rastenden. „Zu dem Mann mit der rauen Haut über dem Leib?“
Ein Jüngling von stattlichem Körperbau tritt den Ankömmlingen entgegen. „Freilich wollen wir das. Kommt ihr von Johannes?“
Ein altersmüder Judäer nickt. „Wir haben ihn – gesehen – gesprochen –.“ Und seine Augen starren ins sonnenheiße Gestein.
„Und?“, fragt der bethlehemitische Jüngling. Die Blicke der Seinen spannen sich neugiertrunken nach den welken Lippen des Alten. Alles drängt heran.
„Es ist nichts“, sagt der Greis, trostlos vor sich hinstarrend. „Wir haben zu viele Sünden, so viele, dass sie der Jordan nicht wegwaschen kann.“
Die andern senken die Köpfe. „Zu viele Sünden?“, flüstern die aus Jerusalem dem Greis nach. Und sie verhüllen die Häupter. Der Schlauchhändler Amos, der die Pilgerschar in Jerusalem gesammelt hat – an die fünfzig hat er zusammengebracht –, stößt mit dem Stock auf den Stein.
„So sind wir umsonst den weiten Weg gewandert?“
„Uns hat er verdammt, der Täufer. Vielleicht seid ihr sündenfreier.“
Erstickter Jammer wird laut, Tränen rinnen, Wehklagen ringt sich aus dieser und jener Brust.
„Der Täufer ist übrigens nicht mehr am Jordan“, sagt der Greis. „Der Fluss ist angeschwollen und versumpft die Ufer. Johannes hat sich an das Bergwasser von Bethanien zurückgezogen, jenseits des Jordans, auf das Gebiet von Aulonitis. Die Gegend ist voll Menschen, die Wüste lärmt laut auf, wenn Johannes nicht spricht.“
„Gehen wir, gehen wir“, drängt Amos, der Schlauchhändler. Und er muntert die verzagten Gefährten mit dem Stock auf.
„So geht man ungestärkt zurück?“, weint eine junge Frau in die Hände ihres Mannes hinein, eines Sandalenmachers, der am Bethesdateich in Jerusalem seine Werkstatt hat. „Wozu wandern wir so weit, versäumen das Geschäft, wenn er uns doch nur verdammt? Meine Füße sind wundgelaufen.“
„Das Wasser, vom Täufer gesegnet, wird sie heilen“, beruhigt der Sandalenmacher das jammernde Weib.
Ein Eselstreiber gesellt sich im Weiterwandern zu ihnen. „Ich habe mir sagen lassen, man muss völlig Buße tun, um des Johannes Wassersegnung zu erhalten. Ohne Buße hilft kein Wasser.“
„Was Buße, Buße, Buße!?“, schreit der Sandalenmacher auf, „befreit wollen wir werden vom Joche Roms, vom Joch des unmenschlichen Herodes Antipas.“
„Ich will von dem Teufel in meiner Brust befreit werden“, bekennt ein ganz frommer Gewandmacher in langem Mantel. Und aus seinen Augen perlen die Tränen über die ausgetrockneten Wangen.
„Dann hast du freilich Aussicht, innerlich geheilt zu werden“, tröstet ihn der Eselstreiber. „Wir alle wollen mehr eine äußere Befreiung. Ich habe mir sagen lassen, des Johannes Jünger taufen auch schon in seinem Namen, und es sollen Männer nach Jerusalem zurückgekommen sein, die glückstrahlend ihre seelische Heilung erzählen. Vor ein paar Tagen ist ein gewisser Andreas Jona aus Kapernaum nach Jerusalem gekommen. Er war drei Wochen bei Johannes und schreit nun durch die Gassen sein Glück aus, das er in der Taufe gefunden, hetzt die Menschen auf, dass sie nach dem Jordan laufen sollen und bringt alles durcheinander. Die Pharisäer werfen schon üble Augen nach ihm.“
„Sie spüren eine arge Hand in ihm und noch einen ärgern Geist“, meint der Sandalenmacher, „und des Johannes Sündenvergebung geht an ihnen vorbei.“
„Das mit der Sündenvergebung begreife ich nicht“, sagt ein baumlanger Judäer. „Johannes kann doch nicht im Namen Gottes Sünden vergeben.“
„Er kann’s“, widerspricht Amos, „er ist doch ein Prophet und daher gottbegnadet.“
„Das müsste er doch erst beweisen“, zweifelt eine gramgebückte Witwe. „Ist er ein neuer Gideon? Sammelt er Auserwählte des Herrn?“
„Die Hauptsache bleibt, dass er uns von dem römischen Joch erlöst“, wirft ein Getreidehändler ein.
„Von uns selbst erlöst“, widerspricht der fromme Gewandmacher.
„Es ist das so, dass man vor Johannes seine Sünden bekennen muss, bevor man ins Wasser steigt.“
„Und darf man sie nach der Taufe nicht mehr begehen?“, erkundigt sich ein vorsichtiger Mann, der dem Tempel nahesteht.
Er wird mit Blicken gesteinigt. „Du Lump“, fährt der Gewandmacher über ihn her. „Das möchte dir passen, Sündenkrämer.“
„Wir legen doch am Versöhnungstag auch unser Sündenbekenntnis ab, aber es kümmert sich kein Mensch darum, ob wir nachher wieder sündigen.“
„Johannes kümmert sich eben darum, und er ist mehr denn ein Tempelpriester“, meint eines Tischlers Frau. „Mit deiner Geheimsünderei wird er schon noch fertig werden.“
„Seit vierhundert Jahren haben wir keinen Propheten gesehen. Aber ich fürchte, er wird uns nur Dinge prophezeien, die erst in hundert Jahren eintreffen sollen, und dann können wir ihn, wenn sie nicht eintreffen, nicht einmal steinigen.“ Der tempelnahe Mann macht ein verzwickt pfiffiges Gesicht.
Unter solchen Für- und Widerreden schleppt sich die Pilgerschar über den glühenden Steinweg hinab nach dem Jordan. Endlich erschauen sie den Fluss, der sich mit breitem Gewoge, die Ufer überschwemmend, daherwälzt.
„Es wird schwerhalten, hinüberzukommen, doch sollen Schifferkähne beim Karawanenweg, der von Gilgal nach Hesbon führt, die Überfahrt vermitteln. Hoffentlich haben wir Glück.“ Amos treibt die Wandermüden wieder an und sie steigen nun mit hoffenden Herzen in die von Sonnenglut erfüllte Niederung hinab.