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Die Pistole im Handschuhfach Sofia als urbane Collage

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Zwei erste Eindrücke erwarteten mich in Sofia. Auf dem Weg vom Bahnhof zum Hotel passierte ich eine Gruppe jugendlicher Roma, die sich an einer Straßenecke aufhielten und die Passanten beobachteten. Als sich eine Gruppe italienischer Touristinnen der Ecke näherte, bewegten sich zwei Roma auf die Italiener zu. Ein Schrei der Reiseführerin, und die Gruppe zog sich vor den beiden Jugendlichen wie eine Raupe in Todesangst zusammen. Da freuten sich die Roma an der Ecke und schlugen sich vor Lachen auf die Schenkel. Der zweite Eindruck war auch nicht ohne. Als ich ins Hotel Lion eincheckte, sah ich, dass die Rezeptionistin eine Pistole im Halfter trug.

Vielleicht hätte mir die Pistole im Halfter eine Warnung sein sollen. Denn das Hotel Lion, so gut seine Zimmer auch in Schuss sein mochten, beherbergte jede Menge illustrer Gäste, vorneweg eine Gruppe Kosovo-Albaner, die den ganzen Tag in der Lobby herumsaßen und ihre Geschäfte abwickelten. Mit ihren bis zum Bauchnabel geöffneten Hemden, den Goldketten um den Hals und ihren Nazifrisuren hätten sie, ohne sich umziehen zu müssen, in jede Mad Max Verfilmung gepasst. In der Nacht veranstaltete diese Bande einen Riesenradau, der stockwerkeweit zu hören war, ohne dass die Hotelleitung einschritt. Das war umso erstaunlicher, weil auch vollkommen normale Westtouristen im Hotel Lion einkehrten. Auch beim Frühstück saßen sich zwei Welten gegenüber: ruhig den Kaffee trinkend die wenigen Westler, breitbeinig laut krakeelend die kettenrauchenden Rabauken mit ihren aufgemotzten Musen.

Mein erster Spaziergang durch Sofia führte mich zur Hauptattraktion der Stadt: auf den Alexander Newsky Prospekt, in dessen Mitte sich das Wahrzeichen Sofias erhob: die große Alexander Newsky Kathedrale. Von außen glich die Kathedrale einem Gebirge vergoldeter Kuppeln. In ihrem Innern spiegelte sich das Licht der großen Kronleuchter in dem Gold und Silber auf den Heiligenbildern. Alles an dieser Kirche war monumental: ihre Platzierung, ihre Ausmaße und ihre Ausstattung, gerade so, als hätten die Bulgaren eine Kirche für die Ewigkeit schaffen wollen. Für die Bulgaren war die Kathedrale mehr als ein Gotteshaus, sie war der steingewordene Ausdruck der wieder gewonnenen Freiheit nach einem fast fünfhundert Jahren türkischer Fremdherrschaft.

Wem sie diese wiedergewonnene Freiheit verdankten, haben die Bulgaren bis auf den heutigen Tag nicht vergessen. Vor der Kathedrale im Herzen ihrer Hauptstadt erbauten sie Zar Alexander II, dem „Bulgarenbefreier“ ein überlebensgroßes Reiterdenkmal auf einem meterhohen Podest. Immerhin waren 20.000 russische Soldaten bei der Befreiung Bulgariens während des russisch-türkischen Krieges 1877/78 gefallen. Dementsprechend martialisch waren die Reliefs auf dem Sockel des Zarendenkmals ausgestaltet. Unterhalb des Sockelplateaus stürmte ein steinerner Engel mit gezogenen Schwert nach vorne, links und rechts begleitet von Soldaten der russischen Armee, im Hintergrund ängstlich beobachtet von Flüchtlingen, Müttern und Kindern. Der russische Zar Alexander II, der bis heute in Bulgaren wie ein Nationalheld verehrt wird, starb übrigens nur drei Jahre später bei einem Mordanschlag der Sozialrevolutionäre in St. Petersburg.

Nach dem Besuch von Kathedrale und Zarendenkmal flanierte ich die Boulevards der Innenstadt entlang. Ihre stalinistischen Fassaden besaßen etwas Blockhaftes, das allerdings durch kleine Geschäfte in ihren Parterre aufgelockert wurde. Ich passierte Schaufenster mit Gucci und Prada, Moscheen und Gemüsestände, Straßencafés und Bauruinen wie die disparaten Bestandteile eines urbanen Eintopfes, dessen Geschmacksrichtung sich noch erweisen musste. Soweit ich erkennen konnte, waren Marx und Engels aus dem Stadtbild von Sofia verschwunden. Kyrill und Methodos, die Schöpfer des kyrillischen Alphabets, hatten den Wandel der Zeiten als Statuen vor der Universität dagegen unbeschadet überlebt. Mit Recht, denn wahrscheinlich hatte ihre Schöpfung, das slawische Alphabet, ebenso viel zum Überleben des orthodoxen Christentums beigetragen wie die Kirche selbst.

Da das Wetter immer besser wurde, nahm ich am Nachmittag den Bus und fuhr stadtauswärts an den Rand des Witoschagebirges nach Bojana. Ein namentlich nicht bekannter Künstler, der als „Meister von Bojana“ in die Kunstgeschichte eingegangen ist, hatte an die Kirchenwände von Bojana in der Mitte des 13. Jahrhunderts über neunzig Bilder gemalt und somit der Nachwelt ein visuelles Portrait seiner Zeit hinterlassen. Der kleine Jesus erschien auf diesen Fresken nicht als miniaturisierter Priesterkönig in den Proportionen eines Erwachsenen, sondern als wirkliches Kind, und auf dem Teller der Apostel ist der Knoblauch als Geschmacksverstärker nicht zu übersehen.

Im Hotel Lion kam ich mit Boris ins Gespräch, einem jungen Mann in den frühen Zwanzigern, der sich den ganzen Tag in der Lobby aufhielt und auf dessen Tätigkeit ich mir keinen Reim machen konnte. War er ein Informant der Obrigkeit, der die albanische Gruppe im Auge behielt oder einfach einer der Security-Angestellten des Hotels? Auf jeden Fall war er ein kontaktfreudigerer junger Mann, der mich in einem ganz ausgezeichneten Englisch in seine Weltanschauung einführte. Die „acht“, so Boris, sei die Zahl Bulgariens, denn die „acht“ sei das Zeichen der heiligen Sofia, deren Weisheit wie die „acht“ weder Anfang noch Ende habe. Die „acht“ war aber auch der rechte Schlüssel zum Verständnis der bulgarischen Geschichte. Denn es sei doch so, dass das Volk aus acht Teilen bestehe, von denen ein Achtel die Elite, ein Achtel der Abschaum und der Rest der Durchschnitt sei. Wenn das Elite-Achtel den Staat regiere und das Abschaum-Achtel hinter Gittern säße, dann herrsche Ordnung in der Welt, meinte Boris. So sei es unter der Herrschaft der guten Zaren gewesen, die in Bulgarien das Christentum eingeführt hatten. Unter der Herrschaft der Türken aber sei es so gewesen, dass alle acht Achtel nichts zu melden gehabt hatten, sondern dass der Achtel-Abschaum andere Völker Bulgarien regiert hatte. Zurzeit sei es leider so, dass in Bulgarien alles drunter und drüber gehe, dass alle Achtel mitmischten und gar nicht abzusehen war, welches Achtel am Ende die Oberhand behalten würde.

Wie immer es sich auch mit der Tragfähigkeit von Boris´ Achtel-Theorie verhalten mochte - dass im gegenwärtigen Sofia alles kunterbunt durcheinander ging, war unbestreitbar. Westliche Mode, Yuppies in Designerjeans, die in einem Wiener Kaffeehaus ihren Café Melange tranken, befanden sich in einem Bild mit Romafrauen, die mit ihren betäubten Babys bettelnd durch die Straßen liefen. Stattliche Häuserfassaden, die an die schönsten Ringe von Budapest erinnerten, standen neben baufälligen Häuserwänden. Altersschwache Straßenbahnen zockelten im slow motion modus durch die Stadt, während am Straßenrand Mercedes-Benz-Limousinen und BMWs von grimmig dreinblickenden Gestalten bewacht wurden, damit niemand die Nummernschilder abschraubte.

Am einladendsten wirkte die Stadt kurz vor der Dämmerung, wenn die Leute im Stadtpark Schach spielten, die Familien die Straßen entlangflanierten oder auf den Bänken saßen und schwatzten. Die Straßencafés der Innenstadt waren dann gut gefüllt, die Fontänen der Brunnen sprudelten, die Kinder und die Hunde tollten. Wenn der Wunsch, zu sehen und gesehen zu werden, ein Merkmal Mitteleuropas war, dann befand sich Sofia auf gutem Weg.

Aber nur bis zum Einbruch der Dunkelheit. Denn wenn es dunkel wurde in den Straßen, nahm die Zahl der Müßiggänger rapide ab. Dafür durchstreiften nun beunruhigende Gestalten das Gelände, das Gesicht und den Gang von Alkohol oder Drogen gekennzeichnet. Ich notierte: „Sofia in der Nacht ist nicht unbedingt eine Stadt zum Flanieren.“

In etwa 1150 Metern Höhe, mitten im bulgarischen Rila-Gebirge, hatte der Mönch Ivan Rilsky im 10. Jahrhundert das Rila-Kloster gegründet, einen abgelegenen Ort der religiösen Weltversenkung, der im Laufe der Zeit zum bulgarischen Nationalheiligtum aufgestiegen war. An der Rezeption des Lion Hotels bestellte ich einen Wagen, der mich zum Rila-Kloster bringen sollte. Der Fahrer hießt Dimitri, er war ein junger Mann Ende Zwanzig, Vater einer kleinen Tochter und über alle Maßen gesprächig. Ganz ohne Aufpreis machte er mich auf der zweistündigen Fahrt zum Rila-Kloster mit seiner Weltsicht vertraut.

Nach Dimitris Meinung wäre es das Beste für Bulgarien, etwa hundert Leute mit Gewehren ins Parlament zu schicken, damit sie alle Abgeordneten massakrierten. Wenn das erledigt sei, könne endlich im Namen des Volkes geherrscht werden. Wer dann konkret regieren sollte, wusste Dimitri nicht, denn er misstraute allen Politikern. Ganz schnutig wurde sein Gesicht, als er in dieser Sackgasse seiner Weltanschauung angekommen war. Doch schnell sprang er weiter zu den Amerikanern, die er fast so stark hasste wie die Israelis, die selbstverständlich für den Anschlag auf das World Trade Center verantwortlich seien. Dafür bewunderte er die russische Technologie, der die Zukunft gehörte. Gegen den EU Beitritt Bulgariens hegte er Vorbehalte, weil die EU für ihn eine Versammlung von lauter Weicheiern war. Beiläufig erwähnte er, dass im Lion Hotel vier Security Leute arbeiten würden, die zugleich auch Informanten der örtlichen Mafia seien. Niemand könne in Sofia ein Hotel eröffnen, ohne nicht an die Bosse der Halbwelt Schutzgeld zu entrichten. Den Gedanken ins Ausland zu gehen, wies er weit von sich, denn Sofia sei seine Heimat, und hier lebe seine Familie. Während er mich auf diese Weise unterhielt, raste er wie ein Berserker über die Straßen, achtete aber zugleich auf die Töne seines Radar-Detektors, der ihn vor den Verkehrskontrollen warnte. Als wir das Kloster erreichten, legte er sich in den Schatten eines Baumes aufs Ohr und ließ mir genügend Zeit zur Besichtigung.


Rila-Kloster

Wie die meisten mittelalterlichen Klöster war Rila von einer Wehrmauer umgeben. Im Zentrum des Klosters befand sich ein großer Innenhof, in dessen Mitte sich die Mutter-Gottes-Basilika erhob. Ihren harmonischen Gesamteindruck erhielt die Anlage durch die zweistöckigen Arkaden in der Wehrmauer, die einen Rundgang um den Klosterhof erlaubten. Die Klosterkirche, in der der letzte bulgarische Zar Boris III begraben lag, war außen mit bunten Wandmalereien geschmückt, im Innern glühte das Licht unzähliger Kerzen, die die Gläubigen vor der Ikonenwand entzündet hatten. Außer den Türmen entstammte alles, was in Rila zu sehen war, dem Klosterneubau des 19. Jahrhunderts. Original waren nur noch die Exponate des Kloster-Museums: lauter filigrane Weihrauchschwenker, Bibelumhüllungen aus Emaille und Silber, Klostertürenverzierungen, Gerätschaften, Waffen und unfassbar ziselierte Holzkreuze aus dem späten Mittelalter. Wie es hieß, sollen sich die Mönche bei den Miniaturschnitzereien der Holzkreuze derart ins Zeug gelegt haben, dass sie vor lauter Anstrengung erblindeten.

Den letzten Tag in Sofia verbrachte ich im Stadtpark. Die Sonne brachte die Blätter der Bäume zum Funkeln, ein warmer Wind zog über die Wiese. Babys kreischten, schöne Frauen schlenderten vorüber, Paare gingen Hand in Hand und mit selbstergriffenen Gesichtern vorüber. War das Osteuropa? Was war Osteuropa überhaupt? Ein Pejorativ, der aus westlicher Richtung immer weiter nach Osten weitergereicht wurde? War Sofia Osteuropa? Wenn ich an die Pistolen unter den Tischen und in den Handschuhfächern dachte, vielleicht. Hier an diesem Sonntagabend im Stadtwald von Sofia aber nicht.

Der Tag klang aus mit einem Abendessen in der Altstadt an einem Platz, auf dem sich die Jahrzehnte ein Stelldichein gaben. Schieferdächer, uralte Autos, Litfaßsäulen mit altertümlichen Reklameplakaten, modisch gekleidete bulgarische Paare, Häuserfassaden mit malerisch herabbröckelndem Putz, alles miteinander verwoben wie in einem Mischmasch der Zeiten. Das war mein letzter Eindruck von Sofia, dann ging die Reise weiter zum Schwarzen Meer.

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