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EINLEITUNG Europas wilder Osten

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„Was ist Osteuropa?“ fragen viele und wissen es nicht.

Ich weiß es auch nicht, glaube aber daran, dass es mindestens zwei Osteuropas gibt. Ein Osteuropa, das kein Osteuropa sein will, und eines, das in diesem Buch als der „wilde Osten“ beschrieben wird. Das bedarf natürlich einer Begründung.

Zum europäischen Osten, der gar kein Osten sein will, gehören Polen, das Baltikum, Tschechien, die Slowakei, Slowenien, Kroatien und Ungarn. Diese Länder beanspruchen, was Lage und kulturelle Traditionen betrifft, zur geografischen und zivilisatorischen „Mitte“ Europas zu gehören.

Ganz anders verhält es sich mit dem so genannten „wilden Osten“. Dazu gehören nicht nur Bulgarien, Rumänien, Moldawien und die Ukraine, die in diesem Reisebuch beschrieben werden, sondern auch Serbien, Bosnien, Albanien, Mazedonien und Montenegro. Russland und Weißrussland sind noch einmal eine ganz andere Hausnummer.

Was aber soll an diesem Osten „wild“ sein? Als der Herzog von Richelieu im Jahre 1774 die Bukowina bereiste, notierte er pikiert, „dass hier Europa zu Ende“ sei, weil Sitten und Gebräuche viel mehr Ähnlichkeit mit dem Orient hätten als mit Europa.

Ist das gemeint? Ist der „wilde Osten“ ein zurückgebliebener Teil Europas, in dem das Ungezügelte und Ungeformte alter Zeiten so stark nachwirken, dass sie den Durchbruch der Moderne behindern?

Dreimal nein. Der wilde Osten kann zwar auf eine durchaus „wilde“ Geschichte zurückblicken, in der serbische Haiducken, montenegrinische Tschetniks, rumänische Vlachen oder ukrainischen Kosaken ihren turbulenten Auftritt hatten, aber er besitzt auch jahrhundertealte religiöse und kulturelle Traditionen, die der Kommunismus nur verschüttet, aber nicht beseitigt hat.

„Wild“ ist der Osten vielmehr aus zwei anderen Gründen. Erstens, weil er sich in einem nicht vollständig steuerbaren Prozess der gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Transformation befindet, den man aus einer gewissen Perspektive durchaus als „wild“ bezeichnen könnte. Um die Erfahrungen dieses Umbruchs wird niemand die Menschen dieser Region beneiden. Die radikale Eingliederung in die globalisierte Arbeitsteilung hat die einheimischen Industrien weitgehend zerschlagen, ohne dass genügend Geld ins Land gekommen wäre, um zukunftsträchtige Wachstumsbranchen aufzubauen. In den ersten zehn Jahren nach der revolutionären Wende von 1989ff. sind die Einkommen der Serben, Bulgaren, Rumänen, Ukrainer und Moldawier um durchschnittlich ein Drittel abgestürzt, stellenweise sogar noch mehr. Aus dieser Massenverarmung, die die Freiheit mit sich brachte, rappeln sich die Länder Südosteuropas inzwischen wieder auf, gestützt durch einen viel stabileren religiösen Halt, als er im Westen existiert, immer wieder aber auch gehandicapt von ethnischen Konflikten, politischer Korruption und Wirtschaftskrisen.

Umso erstaunlicher ist das, was es dreißig Jahre nach dem Untergang des Kommunismus schon wieder zu sehen gibt. Bukarest und Sofia, selbst Czernowitz und vor allem Kiew und Lemberg sind aus ihrem kommunistischen Kälteschlaf und der marktwirtschaftlichen Schocktherapie erwacht. Wer durch die Straßen dieser Metropolen geht, spürt einen Geist des Aufbruchs, der auch Polen, Ungarn, Tschechien und die Slowakei nach der Wende prägte und diese Länder inzwischen aus dem Gröbsten herausgeführt hat. Möglich, dass viele der älteren Menschen, denen der Kommunismus das Leben zerstörte, inzwischen zu alt geworden sind, um mit der neuen Freiheit noch etwas anfangen zu können. Aber die jungen und die mittleren Jahrgänge scheinen ihre Chance zu ergreifen und ernsthaft zu versuchen, ihr Leben in die eigenen Hände zu nehmen. „Wild“ in diesem Sinne möchte ich die Entschlossenheit vieler Menschen nennen, aus der Unterentwicklung herauszukommen und zum Wohlstand des Westens aufzuschließen. Das ist in dieser Allgemeinheit natürlich sehr großes Karo, hunderttausendfach individuell gebrochen und variiert, aber die Richtung dürfte stimmen.

Vor gut zehn Jahren bin ich durch den Osten, der kein Osten mehr sein will, gereist und habe versucht zu verstehen, was in Polen und in den baltischen Staaten vor sich ging. („Die kleine Posaune der Freiheit“, Weltreisen Band IV). Jetzt war ich in Serbien, Bulgarien, Rumänien, Moldawien und der Ukraine unterwegs und habe mich in diesen Ländern umgeschaut. Mein Antrieb war die Neugierde, mein Spielfeld der Raum und die Geschichte, und der Ertrag war nicht anders als der Ertrag aller Reisen: die Hoffnung auf eine vertieftes Verständnis der Welt und die Bereicherung, die die Begegnung mit der Fremde mit sich bringt. Es muss nicht besonders erwähnt werden, dass die Urteile und Blickwinkel, die in diesem Buch zur Sprache kommen, so subjektiv sind wie Reiseerfahrungen oder Leseeindrücke nur sein können. Vieles von dem, was ich erwartete, habe ich auch so angetroffen. Aber noch viel mehr war auch ganz anders. Davon erzählt dieses Buch.


Erbeutetes Kriegsgerät in der Zitadelle von Belgrad

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