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Mit den Massen am Meer Die bulgarische Schwarzmeerküste

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Mit dem Nachtzug fuhr ich von Sofia zum Schwarzen Meer. Bei der morgendlichen Einfahrt in den Hafen von Burgas zeigte sich die industrielle Eingeweide der Stadt. Raffinerien, Gasleitungen, Röhren, ausrangierte Züge. Dahinter erstreckte sich hügeliges Land im Morgenlicht.

Ohne mich lange in Burgas aufzuhalten, nahm ich ein Taxi nach Sozopol. Der Name des Taxifahrers war Mehmet, er war ein freundlicher Türke mit gewaltigen Bäckerarmen. „Kara Deniz“, „Kara Deniz“ sagte er, als zur linken das Schwarze Meer in Sicht kam. "Mare Maggiore" – „großes Meer“ hatten die Genueser und Venezianer das Schwarze Meer genannt. Später, als die Osmanen im 16. und 17. Jahrhundert das Schwarze Meer zu einem türkischen Binnenmeer machten, übersetzten sie „Mare Maggiore“ mit „Kara Deniz“, wobei das Adjektiv „kara“ nicht nur „groß“, sondern auch „dunkel“ und „trüb“ bedeutete. So wurde aus dem „großen“ das „trübe“ und schließlich das „schwarze“ Meer.

Nach einer guten halben Stunde war Sozopol erreicht, das antike Apollonia, von dessen Überresten aber nicht mehr viel zu sehen war. Dafür besaß Sozopol eine malerische Altstadt, die sich auf einer Halbinsel wie ein gekrümmter Finger ins Meer erstreckte. Mehmet ließ es sich nicht nehmen, mich so lange in Sozopol herumzufahren, bis ich in der Oberstadt ein kleines Apartment mit Ausblick auf Altstadt und das Meer fand.

Was gab es in Sozopol zu sehen? Nicht besonders viel, wenn man einmal von der Nahansicht des gesamteuropäischen Massentourismus absah. Nach dem Fall des Eisernen Vorhangs hatte sich Sozopol zu einem Zielgebiet für Serben, Rumänien, Russen, Albaner, Mazedonien und Bulgaren entwickelt, das durch die Anwesenheit der Türken, die hier noch immer in beachtlicher Zahl siedelten, einen Schuss ins Orientalische bekam. Diese touristische Klientel, ergänzt durch deutsche, britische und skandinavische Billigtouristen, logierte vorwiegend in den großen Hotelburgen an der Peripherie der Stadt und schob sich und Ihresgleichen allabendlich zehntausendfach durch die Altstadt. Das Netteste an diesen Massenprozessionen waren noch die Kinder, die schmuck herausgeputzt den Erwachsenen durch die Beine liefen, manchmal aber auch im Gewirr verschwanden, so dass ihre Mütter dann laut schreiend in der Menge nach ihnen suchten. Die Eltern waren schlank, wenn sie jung waren, dicker, wenn sie schon ein paar Jahre mehr auf dem Buckel hatten, und quadratisch, wenn sie in das Lebensstadium des Großelterntums eingetreten waren.

Eine wahre Attraktion innerhalb dieser allabendlichen Massenparade war der bulgarische Mann, wie er kraftvoll und beleibt mit seiner Familie durch die Straßen schritt. Manchmal stand er breitbeinig vor einem Kebab Stand/ Souvenir-Shop/ Stuhl/ Geschäftsauslage in der Haltung eines Sheriffs, der die Arme schon angewinkelt hatte, um im nächsten Moment den Colt zu ziehen und sein Gegenüber abzuknallen. Besonders überzeugend wirkten solche Posen, wenn der bulgarische Sheriff reichlich Tattoos an beiden Armen hatte. Dann konnte man fast den Bulgaren Christo verstehen, der sein Land mit dem Habitus verlassen hatte, einfach so viel wie möglich von der Welt mit Säcken und Tüchern einzupacken und zu verbergen.

Die touristische Überbeanspruchung der Altstadtgassen zog sich normalerweise bis weit in den Abend hinein. Irgendwann verteilte sich die Menge in die diversen Lokale oder schwappte zurück in die Hotelbunker an die Peripherie. Ruhig wurde es dann trotzdem nicht, denn nun schlug die Stunde der Diskotheken. Bis kurz vor Sonnenaufgang jauchzen bulgarische Sänger und Sängerinnen ihre Lieder in die Nacht, und da ich hoch über dem Ort wohnte, bekam ich nach dem Prinzip der amphitheatralischen Verstärkung die Musik so plastisch mit, als würden die Künstler auf meiner Toilette singen.

Von Sozopol aus war es nicht weit bis zur türkischen Grenze, und da die Strände im Umkreis der Stadt hoffnungslos überfüllt waren, unternahm ich einen Tagesausflug nach Süden. Auf dem Busbahnhof machte ich die Bekanntschaft von Detlef (48) und Boris (6) aus Köln. Detlef war ein geschiedener Vater, der seinen kleinen Sohn Bulgarien zeigte - sprich: mit ihm mangels Reisekasse am Strand schlief, mit ihm angelte und auf low budget Basis kreuz und quer durch die Gegend zog. Boris‘ Mutter war bald nach seiner Geburt mit Detlefs bestem Freund durchgebrannt. Während Detlef und Boris am Eingang des benachbarten Nationalparks ausstiegen, fuhr ich weiter nach Kiten, einem vollkommen überbelegten Betonstrand, den ich einmal auf und ab lief, um dann gleich wieder abzuhauen. Auf der Rückreise stoppte ich an einem Naturreservat mit Flüssen, Schilf und jeder Menge Vögel und suchte eine ruhige Stelle, in der ich mich aufs Ohr legen konnte. Gerade lag ich im Gras, da raschelte es im Unterholz, und Detlef und Boris tauchten auf. Den Rest des Nachmittags posaunte mir Detlef weitere Einzelheiten über seine Lebensgeschichte ins Ohr, während der kleine Boris immer nörgeliger wurde. Es kam schließlich, wie es kommen musste. Nachdem mir Detlef den Nachmittag versaut hatte, pumpte er mich auch noch an. Ich gab ihm einige Lewa und schaute, dass ich heimkam.

Die letzte Nacht in Sozopol war durch einen Vollmond erhellt, wie ich ihn selten gesehen hatte. Sein bleiches Licht tauchte die gesamte Halbinsel in ein magisches Dunkel, von dem sich das Schwarz des Meeres noch einmal abhob. Ein funkelndes Lichtermeer zog sich die Küstenlinie entlang und verlor sich in der Ferne. Das war die gute Nachricht. Die schlechte Nachricht war, dass kurz darauf, die Nachtmusik aus 50.000 Watt Boxen begann. Es handelte sich um rhythmische Technomusik, die kilometerweit jedes Schlafen unmöglich machte. Am Ende versuchte ich mit Ohrstopfen im Bad zu schlafen, was mir leidlich gelang. Vollkommen erschlagen wachte ich am Morgen auf. Das war mein Abschied von Sozopol.

Wieder zurück nach Burgas. Wieder die Ansammlung stählerner Arme, die als Raffinerietürme und Abfackelungsanlagen in den Himmel ragten. In der Innenstadt von Burgas gab es nichts, woran sich der Blick festhalten konnte, so sehr ich mir auch die Augen aus dem Kopf starrte. Bemerkenswert waren allenfalls die Taschendiebe, die sich im Umkreis des Busbahnhofes herumtrieben. Die Busse stoppten und starteten im Zehnminutentakt in alle Richtungen, und es dauerte nicht lange, da saß ich schon im Bus nach Nessebar.

Der Bus verließ Burgos in nördlicher Richtung, passierte Meeresarme und zersiedelte Küstenorte mit kleinen Stränden, ehe er nach einer Stunde Nessebar erreichte. Meine Unterkunft in Nessebar war ein Hotel, das von außen ganz gut aussah, von dem ich mir aber gewünscht hätte, dass seine Zimmerwände wenigstens so dick gewesen wären wie die morgendlichen Brotscheiben. Die Hotelmanagerin war schön und verlogen, denn sie hatte mir versichert, die Zimmer seien ruhig und das Frühstücksei im Preis inbegriffen. Nichts von alledem stimmte. Dafür laberte sie mir die Ohren voll, sie wäre im letzten Leben eine Ägypterin gewesen und könnte nur mehrere Männer zugleich lieben.

Immerhin besaß Nessebar etwas mehr Flair als Sozopol, wenngleich die Zahl der Touristen, die sich durch die Straßen wälzten, kaum geringer war. Als Messambria war die Stadt in der Antike eine wohlhabende griechische Kolonie gewesen, die Getreide, Holz und Wein in das Mutterland exportierte. Als Umschlagplatz für den Fernhandel zwischen dem byzantinischen Reich und der Kiewer Rus hatte die Stadt das Mittelalter ganz gut hinter sich gebracht. Zeugen dieser Blütezeit waren zahlreiche Kirchenruinen, die sich über die ganze Stadt verteilten. Die Überreste der Johannes Aliturgoros Kirche aus dem 14. Jahrhundert war von morgens bis abends von Besuchergruppen umlagert. Von „Kreuzkuppelkirche“, „Apsis“, „Narthex“ und „Basilika“, erzählten die Reiseführer in allen europäischen Kultursprachen, während ihnen die Besucher gottergeben lauschten.

Am Abend spazierte ich das Ufer von Nessebar entlang und erblickte den gewaltigen Sonnenstrand-Komplex auf der anderen Seite der Bucht. Aus der Entfernung hätte man die sich hoch auftürmenden Hotelburgen für eine steinerne Gischt halten können, die sich unterhalb der Berge brach. Tausende Lichter spiegelten sich im Meer, tausende Sterne leuchteten vom nächtlichen Himmel, zehntausende Touristen saßen beim Abendessen.

Weiter ging die Reise von Nessebar nach Varna. Der Busfahrer war ein Kamikazefahrer, der während der Überholmanöver stets sein Handy am Ohr hatte. Stoisch nahmen es die Passagiere hin, ihre Köpfe wackelten im Rhythmus von Beschleunigung und Bremsen. Die Landschaft glich einem spärlich besiedelten Bayerischen Wald mit abgefackelten Wiesen. Hier und da stand eine Bäuerin am Straßenrand und bot Gemüse an. Kinderköpfe blickten über Zäune, Hunde liefen bellend dem Bus hinterher. Schließlich war der Stadtrand von Varna erreicht, und vergammelte Wohnblöcke, Müllhalden und Schlaglöcher ließen nichts Gutes erwarten. Dann aber kam es doch ganz anders. In seinem Zentrum entpuppte sich Varna als eine überraschend lebendige und schöne Stadt. Vielleicht war es auch nur die Abwesenheit von Touristenmassen, die mich für Varna einnahm. Endlich wieder breite Alleen, repräsentative öffentliche Plätze und geschichtliche Sehenswürdigkeiten von Rang.

Varna, das antike Odessos (das gerne mit dem nördlicher gelegenen und viel jüngeren ukrainischen Odessa verwechselt wird) war ein seit Jahrtausenden bewohnter Ort. Wie alle Städte der Schwarzmeerküste hatte die Stadt die typischen Etappen der südosteuropäischen Geschichte durchlaufen: auf die griechischen Kolonisten waren die Römer und Byzantiner, dann die Slawen und schließlich die Türken gefolgt, ehe im 19. Jahrhundert die Epoche der nationalen Unabhängigkeit einsetzte, in der Varna zum wichtigsten Schwarzmeerhafen des Landes aufstieg.

Immerhin verfügte die Stadt über eine Attraktion, die bis in die vorantiken Zeiten zurückreicht. Seitdem das Grab eines thrakischen Fürsten aus dem dritten vorchristlichen Jahrtausend mit hunderten kunstvoll bearbeiteter Goldgegenständen gefunden worden war, war das „Gold der Thraker“ in aller Munde. Inzwischen vertritt die bulgarische Geschichtswissenschaft sogar die These, nicht auf Kreta, sondern auf dem Territorium des heutigen Bulgariens sei die älteste europäische Kultur entstanden. Bulgarien war demnach nicht nur das „erste“ aller slawischen Länder, sondern hütete auf seinem Territorium auch die Überreste der ersten europäische Hochkultur. Wie zur Bekräftigung dieses Anspruchs hatte man die schönsten Fundstücke aus den thrakischen Fürstengräbern unter dem Etikett „Das Gold der Thraker“ jahrelang auf Welttournee geschickt, ehe sie im Nationalmuseum von Varna ihren dauerhaften Platz gefunden hatten.

Optisch machte dieses Uraltgeschmeide im Nationalmuseum von Varna aber wenig her. Mit dem Schmuck verhielt es ich umgekehrt wie mit dem Wein. Wurde er älter, wurde er nicht unbedingt besser. Die anderen Exponate des Museums sagten mir mehr zu, vor allem die griechischen Emporen, in dem der Wein des Schwarzen Meeres gelagert worden war. Hatte der römische Kolonist, der hier weitab vom Zentrum der antiken Welt nach seiner Dienstzeit leben musste, genug getrunken, fuhr er in die Grube, nicht ohne einen aufwändigen Grabstein in Auftrag zu geben, von denen die bemerkenswertesten Exemplare im Nationalmuseum zu besichtigen waren.

So vergingen die Jahrhunderte, die römische Zivilisation verschwand, die Slawen und die Türken kamen, da erschienen im Jahre 1444 Tausende Ritter samt Knappen und Gefolge vor den Toren der Stadt. Ein Kreuzfahrerheer war aus dem Herzen Europas aufgebrochen, um der bedrängte Kaiserstadt Konstantinopel zu Hilfe zu eilen. Die Türken vernichteten dieses Heer bis auf den letzten Mann. Dem jungen polnisch-ungarischen König Wladislaus III wurde der Kopf abgeschlagen und dem Sultan als Zimmerschmuck geschickt. Es existierte sogar ein Museum über die Schlacht von Varna, aber ich fand es einfach nicht, so intensiv ich die Passanten auch befragte. Die Schlacht von Varna lag bereits derart weitab in der Vergangenheit, dass man auch noch vergessen hatte, wo sich das Museum über diese Schlacht befand.

Der abschließende Besuch am Strand von Varna entpuppte sich als ein Schuss in den Ofen. Die Stadt lag zwar ansehnlich an einer weit geschwungenen Bucht, besaß aber weder eine schöne Corniche noch einladende Stadtstrände. Aber der Südosteuropa-Tourist war hart im Nehmen. Die Gerüche in der Nähe der Entwässerungsrohre schienen die Badegäste nicht zu stören. Eine Kombo spielte unverdrossen bäuerliche Weisen, während die Strandbesucher bei Bedarf ihre Notdurft hinter den Büschen verrichteten. Sehr viele Katzen waren in der Nachbarschaft der Strandrestaurants unterwegs, was immer ein schlechtes Zeichen ist, weil es darauf hindeutet, dass sie von den Gästen mit Essen gefüttert werden, das ihnen selbst nicht schmeckt.

Europas wilder Osten

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