Читать книгу Trauma - Lutz Wittmann - Страница 22
2.3 Traumakonzept und Psychoanalyse 2.3.1 Die psychoanalytische Begriffsinflation
ОглавлениеDie Beiträge der Psychoanalyse zum Traumakonzept erfolgten im Wesentlichen in den allgemein anerkannten Kategorien traumatischer Ereignisse – sexuelle und gewalttätige Übergriffe, kriegerische Ereignisse, Naturkatastrophen, Genozid und Konzentrationslagerhaft. Doch hat sich die Psychoanalyse bis zum heutigen Tage nicht von solchen kategorialen Grenzen davon abhalten lassen, eine ganz eigene Kreativität in die Verwendung des Traumabegriffs einzubringen. Diese sei im Folgenden angedeutet. Chronologisch an den Beginn dieser Übersicht gehört natürlich Otto Ranks Trauma der Geburt (Rank, 1924), an welches AutorInnen wie Heimann (1966) oder Crepaldi (2013) im Sinne der Vertreibung aus dem symbiotischen intrauterinen Paradies erinnern. Hieran wären die aus der psychoanalytischen Entwicklungs- und Triebtheorie hergeleiteten Traumata anzuschließen. Hier sind also das orale, anale und ödipale sowie das Kastrationstrauma (Stern, 1972, 1974) ebenso zu nennen wie Dahls (2018) Erinnerung an das Urszenentrauma. Als Beispiel dafür, was sich hinter einem dieser plakativen Begriffen – dem oralen Trauma – verbirgt, sei Sterns (1974, S. 498) Definition einer physiologisch-biotraumatischen Situation angeführt: »Ich habe den Zustand des vorübergehenden Versagens des homöostatischen Ausgleichs in dieser Phase als Biotrauma definiert«. Großer Beliebtheit erfreut sich der Terminus des narzisstischen Traumas. Der realitätsbedingte Verlust der kindlichen Allmachtsphantasien (Grunberger, 1958) oder der Verlust ungeteilter elterlicher Zuwendung im Geschwistertrauma (Mitchell, 2017) sind hier ebenso anzuführen wie »Kränkungs-, Versagens- und Verunsicherungserlebnisse« (Lang, 2017, S. 688). Schöne Beispiele für letztere finden sich bei Eissler (1966; »Die Enttäuschung, die er durch die Untreue des geliebten Mädchens erlitt, war für ihn traumatisch.« [S. 863]) oder Grunert (1977; »abruptes Abstillen, längeres Alleingelassenwerden, Spott der Geschwister und Erwachsenen etc.« [S. 1070]). Weimer, Nilsson-Schönnesson und Ulrich (1989) sprechen vom Trauma der HIV-Infektion, Pelzl (2013) vom traumatischen Verlust von Sprache und Heimat bei Migranten, Kennedy (2016) von der traumatischen Trennung der Eltern während der Adoleszenz. Während Balint (1966) mit Sandor Ferenczi die Gefahr einer Retraumatisierung durch psychoanalytische Abstinenz erkennt, räumt Dettbarn (2013, S. 657) ein, dass technische Schwierigkeiten bei EDV-Anwendungen »mit den dazugehörigen Gefühlen von Ohnmacht, Hilf- und Schutzlosigkeit« ein Trauma darstellen können. Unter Durchbrechung der Einschränkung des vorliegenden Kapitels auf den Bereich der Individualtrauma seien an dieser Stelle noch einige Stilblüten angeführt, welche kollektive Traumatisierungen der psychoanalytischen Bewegung beobachten. Young-Bruehl und Schwartz (2011) sprechen vom Trauma von Freuds Tod, Janus (2013, S. 63) erinnert an die »Abspaltung von Jung, die Balint einmal als das größte Trauma in der Geschichte der Psychoanalyse bezeichnet hat«, und Weimer (2017, S. 1143) spricht von einem »deutschen psychoanalytischen Trauma der Kollaboration mit den Nazis«. In diese Richtung – allerdings mit Bezug auf die Identität der deutschen Allgemeinbevölkerung – verwendet Richter (1986) den Begriff des Hitler-Traumas. Um den mit Erwähnung des Geburtstraumas begonnenen Lebenszyklus abzurunden, sei abschließend Fischers (1986, S. 548) Formulierung vom »Trauma, zum Tode geboren zu sein«, erwähnt. So können wir nur Danckwardt (2010, S. 411) zustimmen, wenn er in perfekter Übereinstimmung mit vielen anderen AutorInnen von einer »gegenwärtig herrschenden Inflation der Traumadiskussion« spricht.
Die Gefahren einer solch inflationären Begriffsverwendung innerhalb der Psychoanalyse sind natürlich seit langem bekannt: »Es wird dem einzelnen Autor schwer, sich auf diesem Gebiet zurechtzufinden, und er steht in Gefahr, heute alles Trauma zu nennen, was in der einen oder anderen Weise einen pathogenen Einfluß auf die psychische Persönlichkeit ausübt«, stellte bereits Anna Freud (1967, S. 14) fest. Wenn also an dieser Stelle zu fordern ist, im Zuge einer Spezifizierung einer Traumadefinition zahlreichen belastenden Lebensereignissen und -bedingungen das Prädikat des Traumatischen vorenthalten, reduziert das in keiner Weiser die ihnen zustehende Relevanz für die Entwicklung von Persönlichkeit oder Psychopathologie. Ganz im Gegenteil könnte es eher darum gehen, die Bedeutung eines entkontextualisierten Traumabegriffs einzuschränken. So schreiben Fonagy und Bateman (2008, S. 14, eigene Übersetzung) in Bezug auf die Interaktion traumatischer Ereignisse und familiärer Lebensbedingungen von Kindern in der Entwicklung von Borderline-Persönlichkeitsstörungen (BPS): »Wir nehmen an, dass die Wirkung des Traumas am besten als Teil eines generelleren Versagens der Berücksichtigung der Kindesperspektive durch Vernachlässigung, Zurückweisung, extreme Kontrolle, nichtunterstützende Beziehungsgestaltung, Inkohärenz und Verwirrung zu verstehen ist«. Die Erfahrung, nicht wahrgenommen, respektiert oder geliebt zu werden, mag dann einem potenziell traumatischen Ereignis erst zu seiner Wirkung verhelfen.