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2.3.7 Die soziale Dimension Vom Ereignis zum sozialen Prozess
ОглавлениеGrünberg und Markert (2016, S. 429) stellen fest: »In der Psychoanalyse wird Trauma nicht nur als traumatisches Ereignis bzw. Geschehen verstanden, sondern in seinem Prozess-, Verarbeitungs- und vor allem in seinem Bedeutungszusammenhang betrachtet. Seine Bedeutung als Trauma kann sich unter Umständen auch erst im Nachhinein manifestieren.« Wie kein zweiter hat Keilson (2005) zum Verständnis des traumatischen Geschehens als nicht abschließbarem Prozess beigetragen. Auf Grundlage seiner wissenschaftlich begleiteten Arbeit mit jüdischen Kriegsweisen in den Niederlanden, deren Eltern während der Shoa umgebracht worden waren, formuliert er das Konzept der sequentiellen Traumatisierung. Dabei unterscheidet er drei Phasen im traumatischen Prozess. Die erste Phase erkennt er in mit der deutschen Besetzung der Niederlande beginnender Verfolgung und Terror gegenüber der jüdischen Bevölkerung. Als zweite Phase konzeptualisiert er die akute direkte Verfolgung mit Erlebnissen wie Deportation in ein Konzentrationslager oder Aufenthalt in einem Versteck. In der Nachkriegszeit, in welcher der Frage der Vormundschaftszuweisung eine zentrale Rolle zukam, erkannte Keilson die dritte Phase. Wie Keilson nachweist, üben nicht nur die furchtbaren Erfahrungen während der akuten Verfolgung einen Einfluss auf die weitere psychosoziale Entwicklung der überlebenden Kinder aus. Im Gegenteil: »Kinder mit einer günstigen zweiten, aber einer ungünstigen dritten Sequenz zeigen ca. 25 Jahre später ein ungünstigeres Entwicklungsbild als Kinder mit einer ungünstigeren zweiten, aber einer günstigen dritten traumatischen Sequenz« (Keilson, 2005, S. 430). Die Theorie der sequentiellen Traumatisierung wurde von Becker (2007) präzisiert und auch auf den Kontext von durch sozialpolitische Traumatisierung erzwungener Migration erweitert. Ganz im Sinne dieser Position fasst Varvin (2018, S. 206, eigene Hervorhebung) zusammen:
»Posttraumatische Prozesse sind abhängig vom Grad der Persönlichkeitsorganisation, von vorausgegangenen traumatisierenden Erfahrungen, von den zum Zeitpunkt der erlebten Gräuel gegebenen Umständen und – besonders bedeutsam – von der Art und Weise, wie im Anschluss an das Geschehen auf das Opfer eingegangen wurde […]«.