Читать книгу Die Antiquitätenhändlerin - Madeleine Giese - Страница 11
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Оглавление«Frau Weller, wir wären wirklich dankbar, wenn Sie diese Aufgabe übernehmen würden.» Der Bürgermeister sah sie erwartungsvoll an. Sein schmal geschnittenes Gesicht unter den kurzen weißen Locken erinnerte sie mehr denn je an Julius Caesar. Beziehungsweise an dessen Büste im Flur ihres alten Gymnasiums. Und wie immer irritierte sie diese Ähnlichkeit gründlich.
Hilfe suchend blickte Marie in die Runde. Philipp Stroh lächelte irgendwie verkniffen. Fatalerweise dasselbe Lächeln, mit dem er ihr mitteilte, dass ihr Konto mal wieder hoffnungslos in den Miesen war.
Die Frau Bankdirektorsgattin neben ihrem Mann. Höflich desinteressiert, wahrscheinlich war sie in Gedanken ganz woanders. Wenigstens etwas, das sie mit der Frau gemeinsam hatte.
Daneben Eiselein. Der musterte sie so konzentriert, als wäre sie eine seiner Abiturientinnen im Mündlichen. Unangenehmer Blick, nicht zu deuten hinter den Bifokalgläsern seiner schwarz gerandeten Brille. Die schmalen Lippen leicht offen, die hohe Stirn in strenge Runzeln gelegt.
Das tote Pferd neben ihm legte ihr die knochige Hand auf den Arm. Marie hätte die Hand gerne abgeschüttelt, doch stattdessen wurde sie stocksteif. Ihr Vater hätte nach der Hand geschlagen. Wie immer, wenn ihn jemand anfasste.
Seliger Altersschwachsinn. Na ja. Würde bei ihr ja auch nicht mehr lange dauern.
Ein Witz, dass ausgerechnet sie für die Wiederherstellung von Le Chêne arbeiten sollte. Ein Witz, dass sie überhaupt in der Initiative war.
Selbst auf Jascha war kein Verlass. Statt wie sonst während der Sitzungen nur Augen für die schöne Hanna zu haben, zwinkerte er ihr verschwörerisch zu.
Nur sein Vater tat so, als ginge ihn das Ganze nichts an. Er hielt den Blick stur auf irgendwelche Papiere gesenkt. Dasselbe dunkle Haar, nur an den Schläfen von dekorativen Silberstreifen durchzogen. Seine Augen hatten dieses verblüffende Grau, das Jascha von ihm geerbt hatte. Doch alle Gesichtszüge, die bei Jascha einfach gut proportioniert und fast klassisch schön waren, wirkten bei seinem Vater kantig und hart.
Erwartungsvolle Stille in dem Nebenraum der Kneipe. Von der Gaststube her klangen einzelne Rufe, Lachen und Gläserklirren herüber.
«Nun, Frau Weller?», legte der Bürgermeister leicht ungeduldig nach.
«Vielleicht ist es ja noch ein bisschen früh, einen Nachfolger für Theo zu suchen», sprang ihr unvermutet Weber bei. Überrascht sah Marie den Autohändler an. Aber sein Gesicht war so glatt und ausdruckslos wie die glänzenden Karosserien der Wagen in seinen Schaufenstern.
Ablehnen, ganz klar. Theo war tot. Was hatte sie mit Le Chêne zu schaffen? Oder mit dieser Bande von Honoratioren?
«Je früher, desto besser», behauptete Dr. Dolb mit fester Stimme und festem Blick. «Das ist auch im Sinne von Dr. Bernd. Wir wissen alle, wie viel ihm an unserem Projekt gelegen war.»
Woher wussten die Lebenden immer so genau, was im Sinne der Toten war? Vielleicht wäre es Theo lieber, wenn niemand seine Arbeit übernahm? Wenn Le Chêne wieder vergessen würde? Nein, ihr wäre das lieber.
Theo hatte von der Wiederbelebung von Le Chêne geträumt. Zumindest das Torhaus wollte er mit Originalmöbeln ausstatten und den Garten instand setzen. Vielleicht hatte Caesar Recht, und sie sollte ...
«Fairerweise sollten wir Frau Weller darauf hinweisen, dass der Verein nicht in der Lage ist, ihr die sicherlich entstehenden Unkosten zu ersetzen», ließ sich unvermittelt Jaschas Vater hören.
Überrascht sah Marie ihn an. Der war doch normalerweise der Letzte, der sich mit solchem Kleinkram wie Aufwandsentschädigungen abgab. Hatte er auch nicht nötig, bei dem Geld, das er mit seiner Fabrik verdiente. Wollte er sie abschrecken? Er wusste bestimmt, dass es ihr finanziell nicht gerade rosig ging. In diesem Kaff wussten das alle.
«Nun mal langsam, Thomas», sagte Philipp Stroh und zog hochmütig die Augenbrauen nach oben. Natürlich. Sein Ressort.
«So schlecht stehen wir finanziell nicht.»
«Ihr wisst, dass Theo dem Verein nie etwas berechnet hat. Weder seine Telefonate noch die Fahrtkosten», beharrte Thomas Krätz.
«Wenn Frau Weller den Job übernimmt, lässt sich sicherlich eine Regelung finden, die weder den Verein noch sie selbst übermäßig belastet», sagte Philipp Stroh.
«Trotzdem», entgegnete Krätz ungeduldig. «Wir sollten im Sinne des Vereins die Kostenfrage klarstellen. Wenn Frau Weller es übernimmt, die Möbel von Le Chêne wiederzubeschaffen, muss ihr klar sein, dass das Zeit und Geld kostet.» Fast aggressiv hob er sein kantiges Kinn und sah in die Runde.
Warum ritt er nur so auf der Geldgeschichte herum? Als wollte er ihr nahe legen, aus finanziellen Gründen abzulehnen.
«Du tust ja gerade so, als hätte Theo die Möbel von seinem eigenen Geld beschafft», fuhr ihn der Bankdirektor an.
«Das ist doch alles Pillefitz», rief Dr. Dolb und schlug mit der flachen Hand auf den Tisch. «Wir brauchen jemanden, der Theo Bernds Aufgabe übernimmt, und ich schlage Marie Weller vor.» Mit bürgermeisterlicher Autorität blitzte er seine Mitstreiter an. Thomas Krätz senkte den Kopf wieder über seine Papiere und schwieg.
«Ich finde es schrecklich, einfach so weiterzumachen», jammerte plötzlich das tote Pferd. «Der arme Theo. So ein scheußlicher Tod.»
Angewidert sah Marie in ihre wässrigen Augen. Einen kurzen Moment lang hasste sie die Frau neben sich. Diese ewig jammernde Stimme, die wie das Echo eines toten kleinen Mädchens in diesem unglücklichen Körper hauste. Das tote Pferd. Der Spitzname passte. Dabei hatte sie Jascha zurechtgewiesen, als er Irma Eiselein das erste Mal so nannte.
Ihr Mann saß neben ihr, als habe man ihn gerade gezwungen, in eine Zitrone zu beißen. Er hatte den schmalen Mund so fest zusammengepresst, dass die Lippen in dem faltigen Unterkiefer verschwanden.
Als Marie seine selbstgerechte, verschlossene Miene sah, schämte sie sich für die heftige Abneigung, die sie eben noch für seine Frau empfunden hatte. Das tote Pferd war immer noch erträglicher als sein Reiter.
«Sentimentales Gewäsch», ließ sich Bürgermeister Dolb lautstark vernehmen.
Mit einer heftigen Bewegung warf Thomas Krätz seinen Kugelschreiber auf den Tisch. «Sie hat doch völlig Recht. Wir benehmen uns, als wäre Theos Tod ...» Alle sahen überrascht zu Jaschas Vater. Der strich sich müde über die Stirn und ergänzte leise: «Als wäre sein Tod gleichgültig. Nur schnell die Lücke schließen und so tun, als wäre nichts geschehen.»
Marie sah auf ihre Hände, die sie fest ineinander verschränkt hatte. Schnell die Lücke schließen, nicht nachdenken, nicht in dem schwarzen Loch versinken.
Um sie herum wurde es unruhig. Thomas Krätz hatte bei allen den wunden Nerv getroffen. Aber sie fingen sich schnell wieder.
«Du bist doch Geschäftsmann», warf Heinz Eiselein in das allgemeine Unbehagen. «Ein sehr erfolgreicher, wie wir alle wissen. Gerade von dir wirkt so ein Einwand, nun, sagen wir mal: befremdlich.»
«Du sagst immer, man darf nicht aufgeben. Was ist denn mit all der vielen Arbeit? Dem Garten? Den Möbeln, die wir schon haben? Den Prospekten? Den Leuten, die Geld gespendet haben? Ich glaube, Marie ist klasse für den Job. Und darum geht’s doch. Es geht nicht darum, Theo zu vergessen», rief Jascha mit seiner überkippenden Jungmännerstimme. Sein Gesicht war gerötet, und seine Augen funkelten.
«Lieber Thomas, glaub mir, gerade mir ist Theos Tod nicht gleichgültig. All die vielen Stunden, die wir beratend zusammengesessen haben.» Bei Eiseleins salbungsvollem Ton schloss Marie kurz die Augen. Sie sah Theo vor sich, der nach den «beratenden Stunden» mit Heinz Eiselein kichernd und bösartig genau diesen salbungsvollen Ton perfekt persifliert hatte.
Als jetzt auch noch der Bürgermeister und der Banker in ein tiefsinniges Nicken verfielen und sich eine gefühlige Stille im Raum breit machte, überlegte sie, ob sie nicht einfach aufstehen und gehen sollte.
«Also, was ist jetzt? Können wir weitermachen?» Fast dankbar hörte sie Webers gelangweilte Frage.
In diesem Moment öffnete sich vorsichtig die Tür zum Nebenraum, und die Besitzerin der Gaststätte, Frau Schmidtke, trat ein. «Entschuldigen Sie, dass ich unterbreche, aber da sind Herren von der Polizei», sagte sie mit beflissenem Kopfnicken in Richtung Bürgermeister. Hinter ihr schoben sich zwei Männer in den Raum. Ein untersetzter mit spärlichem Haarwuchs und ein jüngerer Mann, in dem Marie ihren Gesprächspartner von Le Chêne erkannte. Er blinzelte ihr vertraulich zu und baute sich neben seinem Kollegen auf, den er um einiges überragte.
Der zog eine Marke aus seinem verknitterten Anzug, nickte in die Runde und nuschelte: «Mordkommission. Hauptkommissar Nass und ...», mit dem Daumen wies er auf seinen Kollegen, «Hauptkommissar Müntzer.»
Bürgermeister Dolb, sich seines Amtes bewusst, erhob sich und eilte mit ausgestreckter Hand auf die Kommissare zu. «Meine Herren. Was verschafft uns ...» Er stockte. Offensichtlich wurde ihm bewusst, dass der Besuch der Mordkommission weder eine Freude noch eine Ehre war.
«Wir untersuchen den Todesfall Bernd», nuschelte Nass.
«Sicher, sicher», sagte der Bürgermeister. «Aber was können wir für Sie tun?»
«Einiges», entgegnete der Kommissar.
Interessiert sah sie zu, wie er sich einen Stuhl schnappte und ihn wie selbstverständlich am Kopfende platzierte. Gezwungenermaßen rückte Dolb ein Stück zur Seite.
Kein Zweifel, dieser komische, ein bisschen schlampig wirkende Mann übernahm das Kommando.
«Dr. Theobald Bernd war Mitglied in Ihrer Initiative?», eröffnete er das Gespräch.
«Einer der Initiatoren, gemeinsam mit mir», erklärte Heinz Eiselein. «Wir sind beide Heimatkundler, müssen Sie wissen. Und da gibt es in unserer eigenen Gemeinde dieses Schloss, Le Chêne. Bis vor kurzem nur Eingeweihten ein Begriff.»
Ein selbstgefälliges Lächeln ließ keinen Zweifel, wer zum illustren Kreis der Eingeweihten gehörte.
«Kulturhistorisch sehr interessant», fuhr der Oberstudienrat fort. «Der Stammsitz der de la Forêt, ein bedeutendes lothringisches Adelsgeschlecht. Der erste, historisch sicher belegbare Vertreter des Geschlechtes wird 1075 erwähnt. In einer Arbeit von 1557 heißt es ...»
«Bitte, Herr Eiselein», unterbrach ihn Dolb, der während der Ausführungen begonnen hatte, nervös auf dem Tisch herumzutrommeln. «Die Herren sind bestimmt nicht an einer Geschichtsstunde interessiert.»
«Aber die geschichtlichen Zusammenhänge ...», begehrte Heinz Eiselein auf.
«Sie und Herr Bernd haben also diese Initiative gegründet?», unterbrach der Kommissar.
Heinz Eiselein nickte nur beleidigt. Falls er die Anwesenden mit seinem Schweigen strafen wollte, ging dieser Versuch daneben.
«Der Denkmalschutz war nicht in der Lage, den Wiederaufbau zu finanzieren», warf Thomas Krätz ein. «Das Gebäude, obwohl in Gemeindebesitz, verfällt. Die Initiative hat es sich zur Aufgabe gemacht, das noch vorhandene Torhaus und einen Teil der Gartenanlage zu sanieren.»
«Ohne öffentliche Gelder?», fragte der Kommissar.
«Eigeninitiative, meine Herren», trumpfte der Bürgermeister auf. «Das Erfordernis der Stunde. Unsere Gemeinde ist in dieser Hinsicht vorbildlich.»
Hauptkommissar Nass schien wenig Interesse an kommunalpolitischen Kampfreden zu haben, er wandte sich wieder Thomas Krätz zu. «Welche Aufgaben hatte denn Herr Bernd in Ihrer Initiative?»
«Die Originalmöbel von Le Chêne sind mit einem Wappen gekennzeichnet. Theo sollte sie aufspüren und, falls möglich, zurückkaufen.»
«Ein rotes Kreuz mit zwei gefiederten Löwen», warf Heinz Eiselein dazwischen. Auf den fragenden Blick von Kommissar Nass fügte er hinzu: «Das Wappen. Sehr interessant, wenn man bedenkt ...»
Der Bürgermeister räusperte sich. Heinz Eiselein hob beide Hände und zog theatralisch den Kopf ein. «Schon gut, schon gut.»
Ohne auf die Unterbrechung einzugehen, fragte der Kommissar: «Herr Dr. Bernd hatte also von Ihnen den Auftrag, die Möbel zurückzukaufen. Um welche Summen ging es denn?»
«Da kann Ihnen unser Kassenwart besser helfen», sagte Thomas Krätz und wies mit einer Handbewegung auf den Banker.
Marie fand, dass Krätz müde aussah. Die sonst so professionelle Schale hatte einen kleinen Riss. Ein Leck, durch das Müdigkeit sickerte. Müdigkeit und vielleicht sogar ein bisschen Trauer. Der Einzige außer ihr, den Theos Tod zu berühren schien. Sie schloss kurz die Augen und versuchte zu schlucken. Die Traurigkeit wegzuschlucken. Aus dem immer gleichen Kreislauf der Gedanken auszusteigen und sich zu konzentrieren.
«Die Summen halten sich im Rahmen», erklärte Philipp Stroh gerade. «Aber ich verstehe nicht, wieso das bei einem Unfall relevant ist.»
«Tja!» Hauptkommissar Nass lehnte sich auf seinem Stuhl zurück und musterte die Runde. Marie hatte das Gefühl, als würde er jeden Einzelnen taxieren. Sie fühlte sich plötzlich unbehaglich.
«Wenn wir auf einen nicht natürlichen Todesfall stoßen, gibt es immer drei Möglichkeiten», sagte der Kommissar bedächtig. «Selbstmord, Unfall oder Mord.» Fast beiläufig sah er sie alle an. «Einen Selbstmord können wir ausschließen. Der Selbstmörder springt weit und liegt daher meist weit von der Absprungstelle entfernt. Bei einem Unfall oder einem Mord dagegen versucht der Betroffene, sich im letzten Moment noch festzuhalten, und liegt daher knapp an der Hauswand. Unglücklicherweise, in diesem Fall. Denn nah an der Hauswand steht das verhängnisvolle Gitter.»
Wieder hob sich Maries Magen.
«Also bleiben Unfall oder Tod durch Fremdeinwirkung.»
«Ein Unfall, natürlich», sagte Bürgermeister Dolb bestimmt.
«Ein Mann fällt aus dem Fenster. Warum?», antwortete Nass nachdenklich. «Kein Teppich, über den er gestolpert sein könnte. Kein anderes Hindernis als mögliche Unfallursache, kaum Alkohol im Blut.»
«Vielleicht ist ihm schwindelig geworden. Er öffnet das Fenster, verliert das Gleichgewicht. Dr. Bernd war ja nicht mehr der Jüngste.» Befriedigt von seiner Erklärung sah der Bürgermeister seine Mitstreiter an. Die meisten nickten zustimmend.
Auch Hauptkommissar Nass nickte. Marie wurde es kalt bei diesem Nicken.
«So könnte es gewesen sein», stimmte der Kommissar zu. «Aber es gibt da ein kleines Problem.»
Schlagartig wurde es still im Raum. Alle Blicke waren auf den Kommissar gerichtet.
«Dr. Bernd ist definitiv durch das Einwirken scharfer Gewalt ums Leben gekommen. Eine dieser lanzettenförmigen Stangen hat die Lunge verletzt. Leider hat der Tote aber eine Schädelverletzung, die durch den Sturz nicht erklärbar ist. Also, wie kam es zu dieser Schädelverletzung? Das ist unser Problem.»
«Moment», warf Dr. Dolb ein. «Was wollen Sie uns damit sagen?»
Kommissar Nass lächelte leicht. Marie fiel auf, dass sein Mund ein bisschen schief war. Wieso bemerkte sie nur immer Nebensächlichkeiten? Aber dieser schiefe Mund hatte etwas Faszinierendes. Sie sah nur noch diesen Mund, der sich öffnete und sagte: «Ganz einfach. Dr. Bernd wurde niedergeschlagen. Das Ganze war kein Unfall, sondern Mord.»