Читать книгу Die Antiquitätenhändlerin - Madeleine Giese - Страница 6
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ОглавлениеNoch ahnte sie nicht, dass es ihr letzter Morgen war. Das letzte Erwachen im noch nachtfeuchten Garten. Das Trillern und Tschilpen der Vögel in den Büschen. Für sie war es das letzte Mal, dass Sonnenstrahlen über das Gras krochen und die Halme wärmten.
Sie spürte die Strahlen, die, trocken wie Wüstenfinger, in ihr schattiges Versteck drangen und sie zwangen, sich immer mehr zusammenzuziehen, bis sie es nicht mehr aushielt. Ergeben glitt sie vor, überquerte hastig den Sonnenfleck und verschwand unter dem Dach eines duftenden Salatblattes. Ihre Fühler tasteten nach der kühlen Frische. Als ein Tautropfen sich zitternd löste und auf ihren muskulösen Körper fiel, dehnte sie sich vor Wohlbehagen.
Plötzlich drang Stahl unter sie. Zerrte sie aus dem grünen Schatten in das erbarmungslose Licht. Noch einmal versuchte sie zu entkommen, sich durch geschicktes Krümmen zu befreien. Zu spät.
Ein scharfer Schnitt, und ihr Körper wurde in zwei Hälften geteilt, die als schleimige Klumpen zu Boden fielen.
«Zweihundertachtunddreißig. Ihr kommt mir nicht davon, ihr Biester», murmelte die alte Frau befriedigt.
Ohne die tote Schnecke weiter zu beachten, drehte sie mit der Gartenschere systematisch die unteren Salatblätter nach oben. Sie arbeitete sich langsam von Salatkopf zu Salatkopf, bis die erste Reihe durch war. Mit schmerzenden Knien erhob sie sich aus der Hocke, stützte eine Hand in den Rücken und streckte sich.
Was war nur los heute Morgen? Schon beim Aufstehen Rückenschmerzen und eine Gesichtsfarbe, die an ausgespienes Apfelmus erinnerte. Vielleicht hatte sie einfach zu lange gelesen gestern Nacht. Zu lange gewartet.
Wenn er keine Lust hatte zu kommen, musste er eben wegbleiben. Sie würde ihn bestimmt nicht zwingen. Aber wenigstens hätte er anrufen und absagen können. Das konnte sie erwarten. Vielleicht war er ja wieder für dieses verdammte Schloss unterwegs gewesen und spät nach Hause gekommen. Trotzdem. Ein Anruf war nicht zu viel verlangt.
Mit schweren Schritten machte sie sich an die nächste Reihe. Unkraut rupfen. Den Salat retten. Warum tat sie sich das an? Halbherzig zupfte sie ein paar Gräser aus, die den ersten Salatkopf in der Reihe umringten.
War da nicht ein roter Schimmer? Vorsichtig drehte sie mit der Schere ein Blatt nach oben. «Na komm schon, du widerliches Stück.» Sie schob die geöffnete Schere unter den glitschigen Leib und zerschnitt ihn. «Zweihundertneununddreißig.» Die würden ihr nicht den Salat wegfressen. Ein Euro pro Kopf auf dem Markt. Nicht, solange sie noch kriechen konnte.
Den Sahnemeerrettich konnte sie wegkippen. Der hielt sich nicht. Theo hätte wirklich anrufen können, ließ sie einfach auf den Forellen hocken. Die kilometerweite Fahrt, um frisch geräucherte zu kriegen. Sie würde ihm die Dinger an den Kopf werfen. Einzeln.
Diesmal musste sie sich mit einer Hand am Boden abstützen, um wieder hochzukommen. Genug für heute.
Aufatmend sah sie sich um. Das Gemüsebeet war kümmerlich. Zu heißes Wetter. Aber die Petersilie kam schön. Und die Erdbeeren. Kleine Walderdbeeren, die sich selber gesetzt und unbekümmert vermehrt hatten und immer neue, süße Früchte trugen.
Der Rasen hätte längst gemäht werden müssen. Dabei war er gerade jetzt so schön. Voll Gänseblümchen und Veilchen. Wenn sie ihn noch ein bisschen stehen ließ? Unsinn. Das Gras war zu hoch. Unmöglich, das Ganze in einer Stunde zu mähen. Sie müsste Jascha anderthalb bezahlen.
Vorsichtig ging sie am Rand ihres Beetes zurück zu den bemoosten Platten. Man müsste einen Brenner leihen, um die Platten wieder rot zu bekommen. Leuchtend rote Platten im grünen Rasen, wie in ihrer Kindheit. Wie hieß der Gärtner noch, der zu ihren Eltern gekommen war? Dieser mürrische Alte mit dem zerbeulten Fahrrad?
«Huhu! Frau Weller! Sind Sie’s?», schallte eine helle Stimme über die Gartenmauer.
«Nein. Ihr Geist. Ich bin gestern Nacht verstorben und nehme gerade Abschied von meinem Garten», schrie sie zurück.
Oben an der Mauer erschien ein verdutztes Gesicht unter blonden gelegten Locken. «Wieder schlecht geschlafen?» Der breite Mund verzog sich mitleidvoll.
Marie Weller schloss die Augen. Blieb ihr denn gar nichts erspart? Andererseits, wenn Ilse Blum ihr im Garten auflauerte, konnte das nur eins bedeuten: Sie wollte etwas kaufen. Gottergeben öffnete sie die Augen wieder und sah ihre Nachbarin an.
«Haben Sie ein Minütchen für mich?», fragte Ilse Blum und legte den Kopf schräg.
Wenn du was kaufst, sogar zwei! Aber dann erschlage ich dich, dachte Marie. Und war stolz, dass sie es nur dachte.
«Ich komme mal rübergesaust.»
Sie sauste tatsächlich, denn gleich darauf kam sie, heftig winkend, Maries Auffahrt heraufgetrippelt.
«Denkt die, ich bin blind?», fragte Marie ihren Apfelbaum. Aber er antwortete nicht.
«Entschuldigen Sie die frühe Stunde. Ganz zufällig habe ich Sie im Garten gesehen, und da dachte ich, Ilse, dachte ich, jetzt ist die Gelegenheit.»
Zufällig! Die einzige Stelle, von der man von Blums aus in den Weller’schen Garten sehen konnte, war Ilses Leiter an der Grundstücksmauer.
Marie zwang ein Lächeln in ihre Mundwinkel.
«Meine Älteste wird doch dreißig. Und da dachte ich, ein kleiner Blick in den Laden? Vielleicht sehe ich ja die ein oder andere Kleinigkeit.»
«Ich habe keinen Laden mehr», knurrte Marie halbherzig.
Ihre Nachbarin legte die brillantenfunkelnde Hand auf Maries Unterarm. «Ich weiß, ich weiß. Ihre private Sammlung, meine ich.» Dazu zwinkerte sie auch noch heftig mit einem ihrer hervortretenden Augen.
Ein Frosch, dachte Marie zum hundertsten Mal. Dieser merkwürdig flache Kopf, der fast halslos in den plumpen Oberkörper überging, die vorstehenden Augen, der breite Mund. Irgendwann würde sie zwischen Ilses Fingern Schwimmhäute entdecken und sich nicht darüber wundern.
Sie entzog ihren Arm dem Klammergriff und deutete zum Haus. Gemeinsam gingen sie den Gartenweg entlang.
«Schade, dass der Garten so heruntergekommen ist.»
Ein Seitenblick von ihr, und die Nachbarin fuhr eilig fort: «Aber die Arbeit ist ja auch viel zu viel für einen allein. Obwohl ...», sie kicherte. «Sie haben doch Hilfe. Den netten Sohn von Herrn Krätz, oder? Also, ganz der Vater, so ein hübscher Junge und so fleißig. Er hat ihn ja spät bekommen. Aber die Mutter ist noch jung. Grade mal ein paar Jährchen jünger als ich.»
Erstaunt zog Marie die Augenbrauen hoch.
«Kommt Theo Bernd denn gar nicht mehr?», schoss Ilse Blum sofort aus der Hüfte. «Mittwochs besucht er Sie doch immer, oder? Gestern habe ich ihn gar nicht gesehen.»
Treffer, versenkt. Statt einer Antwort stemmte Marie sich gegen die schwere Eichentür. «Klemmt», erklärte sie kurz.
«Die müssen Sie abschleifen lassen», sagte die Nachbarin fachmännisch. «Das alte Holz verzieht sich. Ein guter Handwerker macht das in fünf Minuten.»
«Und berechnet eine Stunde plus Anfahrt.»
Wie immer verstummte Ilse Blum ehrfurchtsvoll, als sie die kleine Eingangshalle betraten. Um diese Tageszeit war sie aber auch besonders schön. Die frühe Sonne, die ihr Licht durch das große Buntglasfenster warf, ließ die Diele in allen Farben schillern. Bunte Lichtkleckse tanzten auf dem hellen Marmorboden, und um Maries Herz wurde es warm. Sie vergaß die versottenen Kamine und defekten Wasserleitungen, den bröckelnden Putz und den Salpeter im Keller. Ihr Haus, ihre Liebe.
Über den Handlauf der großen Holztreppe sprangen rote, orange und gelbe Lichter und ließen das Holz glänzen.
«Sie müssen endlich die Treppe polieren lassen», schnitt Ilse Blums Stimme in ihre Zufriedenheit. «Das Holz leidet schrecklich.»
Auf einmal sah sie nicht mehr Farben und glänzendes Holz, sondern Sprünge und Wasserflecke, Wollmäuse auf den Treppenstufen und verblichenen Brokat auf den Empiresesselchen, die in einer Ecke der Halle standen.
Wortlos stieg sie die Treppe hoch. Die Blum schnaufte hinterher. «Mein Mann meint, ich müsste unbedingt in die Initiative. Schließlich ist doch sogar der Bürgermeister dabei, die anderen Honoratioren ...»
Wenn Ilse Blum mit ihrem ewigen Geschwätz auch noch dazustieß, würde sie austreten. Da konnte Theo ihr noch so gut zureden.
Wortlos durchquerte sie den zweiten Stock. Die Treppe wurde schmaler und die Wollmäuse größer. Der dritte Stock, von einem hüfthohen Eisengitter bewacht, das Marie mit den Knien aufstieß, hatte nur einen schmalen Flur mit angrenzenden niedrigen Zimmern. Dienstbotengeschoss hatte es ihre Mutter genannt. Selbst als es im Haus schon längst keine Dienstboten mehr gab.
Vor der ausgefahrenen Dachbodenleiter wandte Marie sich an ihre Besucherin. «Vorsicht, die Treppe ist steil. Da kann man sich den Hals brechen.»
Befriedigt registrierte sie Ilse Blums ängstlichen Blick und machte sich an den Aufstieg. Mit noch größerer Befriedigung sah sie auf ihre Nachbarin hinunter, als diese, vorsichtshalber auf allen vieren, durch die Dachbodenluke kroch.
Mit spitzen Fingern wischte sich Ilse Blum den Staub von ihrem froschgrünen Sommerkleid. Ohne die Bilder, die an den Wänden hingen, oder das Silber in den mannshohen Glasvitrinen eines Blickes zu würdigen, stürzte sie zu der Vitrine, in der der Goldschmuck lagerte.
«Was haben Sie denn Neues?» Ihre Augen funkelten.
Marie öffnete den Schrank und zeigte einen Ring auf blauem Samt. Fast zärtlich hob sie ihn hoch.
«Aber das ist ja Silber, und so matt», kam es kritisch von ihrem Gegenüber.
«Alte Diamanten, in Silber gefasst. 17. Jahrhundert. Etwas ganz Besonderes», murmelte Marie mit einem versonnenen Lächeln.
«Die glitzern gar nicht.»
«Damals konnte man nicht so schleifen wie heute. Aber sehen Sie nur, sie sind mit Silber unterlegt, damit sie glitzern. Eine wunderschöne Arbeit.»
Ilse Blum nickte desinteressiert, während ihr Blick sich an einem breiten, reich verzierten Goldreif festsaugte. «Der ist schön.»
Marie nahm den Reif und hielt ihn Ilse Blum hin.
«Biedermeier.»
«Wo Sie nur immer so etwas finden.»
Marie lächelte geheimnisvoll. Das würde sie dem Frosch bestimmt nicht erzählen. All die vielen Fahrten nach Frankreich und Belgien in ihrem klapprigen Renault. Die frühen Morgenstunden, bevor die Antikmärkte für die normalen Kunden geöffnet wurden, das war die Zeit der Händler.
«Aber massiv ist der nicht», nörgelte ihre Nachbarin, während sie versuchte, sich den Reif über das speckige Handgelenk zu zwängen.
«Das Biedermeier war eine arme Zeit. Die Dinge sollten gediegen aussehen, aber nicht zu viel kosten», erklärte Marie bereitwillig.
«Ich kann mir schon etwas Besseres leisten», erklärte Ilse und streifte ungnädig den Reif wieder ab.
Maries Gesicht wurde heiß. Hastig nahm sie das geschmähte Stück zurück. Sie griff in den Schrank und zog eine schwere goldene Kette vor.
Sofort stieß die Blum kleine Entzückensrufe aus und legte den Schmuck um.
Natürlich, das gefiel ihr. Fünfziger Jahre, aber massives Gold.
Marie nannte einen Preis, der höher lag, als sie eigentlich kalkuliert hatte. Aber Ilse Blum war nicht mehr zu halten. Bewundernd hielt sie sich die Kette an den schweren Busen, sah zu Marie hoch und zitierte neckisch: «Nach Golde drängt, am Golde hängt doch alles, oder?»
«Ach, wir Armen», beendete Marie trocken das Zitat.
«Marie?», rief es von unten. «Marie, wo steckst du?»
«Ach, der kleine Krätz. So früh am Morgen schon Herrenbesuch. Na, na, Frau Weller.»
Ein neckisch wackelnder Zeigefinger direkt vor Maries Nase. Nur mühsam unterdrückte sie die Versuchung, hineinzubeißen. «Hier oben, Jascha», rief sie.
Polternde Schritte auf der Treppe.
«Frau Blum will etwas für ihre Tochter kaufen», erklärte sie dem Kopf, der in der Luke auftauchte.
Wie schön er war. Seine dunklen Locken, die überraschend hellgrauen Augen und die modellierte Kinnpartie. Nicht gut aussehend, sondern schön. Diesen Sinn für Schönheit würde sie wohl nie verlieren, und wenn sie hundert Jahre alt würde. Selbst der Frosch war dafür nicht unempfänglich. Marie spürte, wie sich der kleine, kompakte Körper neben ihr straffte. Ein silberhelles Lachen und ein kokettes «Sind Sie schon wieder gewachsen, Jascha?».
Der Junge vor ihnen blieb stumm. Mit großen Augen sah er von einer zur anderen. Sein Brustkorb unter dem dünnen T-Shirt hob und senkte sich, als wäre er gerannt.
«Dr. Bernd ist tot», stieß er schließlich hervor.
Ilse Blum schnappte hörbar nach Luft.
Marie verstand nicht. Sie hörte nur die dunkle Stimme, in der noch Spuren des kleinen Jungen waren. Vor allem, wenn er aufgeregt war, so wie jetzt. Langsam sickerten die Worte in ihr Bewusstsein. Sie lachte. «Unsinn.»
«Heute Morgen haben sie ihn gefunden.»
Theo war nicht tot. Was redete der Junge da?
«Es ... es war ein Unfall.»
Das war unmöglich. Nicht Theo. Theo mit den sanften Händen, dem blinden Blick hinter den dicken Brillengläsern. Ihr Teufel mit den drei goldenen Haaren. Erst vorgestern hatten sie noch zusammengesessen, und sie hatte die Haare gezählt. Drei goldene Haare. Sein Lachen.
Sie schluckte trocken.
«Es tut mir leid, Marie.» Vorsichtig stieg Jascha aus der Luke und kam auf sie zu. Sanft griff er ihre Hände. Hände, die von blauen Adern durchzogen und von Altersflecken übersät waren. Unter den Nägeln saß Erde. Hilflos streichelte er die Hände, die regungslos in seinen lagen.
«Wie?», fragte sie seinen gesenkten Lockenkopf.
«Er ist aus dem Fenster gefallen. Im Torhaus.»
Wie Blitze wirbelten die Bilder in ihrem Kopf. Das zweistöckige Torhaus. Das Unglücksschloss. Le Chêne.
«Er kann doch nicht tief gefallen sein. Wieso ...?»
Der Junge vor ihr hob den Kopf. Seine sonst so hellen grauen Augen erinnerten sie plötzlich an einen trostlosen Winterhimmel. Wieso weinte er?
«Das Gitter», flüsterte er. «Er ist auf das Gitter gefallen. Die Stäbe haben ihn ...»
Gepfählt, dachte sie den Satz automatisch zu Ende.
Weit entfernt hörte sie Ilse Blums entsetzten Aufschrei.