Читать книгу Die Antiquitätenhändlerin - Madeleine Giese - Страница 13

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Rattern und wildes Gewieher, die Pferde galoppieren über die holprige Zufahrt. Der Kutscher im schwarzen Umhang hebt den Arm mit der Peitsche. Die Kutsche schlingert durch die tiefen Schlaglöcher. Das junge Mädchen schleudert von einer Seite zur anderen. Die Augen aufgerissen, das Gesicht blass. Die Lippen murmeln Gebete, die Hände halten eine Schatulle fest an den Körper gepresst. In der Ferne ist Licht, Sicherheit. Das Licht wird größer, zerschneidet die Dunkelheit, kommt näher. Motorengebrumm ...

Verwirrt blinzelte Hauptkommissar Müntzer in die Scheinwerfer. Mit einem großen Schritt verschwand er in den Schatten der Bäume. Ob der Fahrer ihn gesehen hatte? Mit offenem Mund stand er träumend mitten auf der Straße. Zu viel Phantasie. Hatten sie ihm schon während der Schulzeit bescheinigt.

Erst im Vorüberfahren erkannte er den rostroten Kastenwagen. Was machte Marie Weller denn schon wieder hier?

Der Wagen hielt an der kleinen Parkbucht, die Scheinwerfer erloschen, ein lautes Klappen der Autotür.

Mit langen Schritten ging die Alte auf das Eisentor zu.

Er schlich hinterher.

Wollte sie Abschied nehmen? Oder das Ganze anzünden? Zuzutrauen wäre es ihr. Er traute dieser alten Dame einiges zu. Kollege Nass hatte sofort gemerkt, dass sie schwierig werden würde.

Netter Kerl, dieser Nass. Waren alle ganz nett, hier im Saarland, am Arsch der Welt.

Leise schlüpfte er durch das Tor und sah, wie die Weller sich an der Eingangstür zu schaffen machte.

Er ging durch das Tor auf sie zu. Den schweren Wagen, der mit ausgeschalteten Scheinwerfern langsam die Eichenallee entlangrollte, hörte er nicht.

«Kann ich helfen?»

Erschrocken drehte sich die alte Frau um. Der Schlüsselbund, der nur halb im Schloss gesteckt hatte, fiel klirrend zu Boden. Mit zwei Schritten war er bei ihr, bückte sich und hob ihn auf. Auffordernd streckte sie ihm die Hand entgegen. Er lächelte.

«Was machen Sie überhaupt hier?», fuhr sie ihn an.

«Diese Frage müssen Sie mir beantworten. Schon vergessen? Ich bin der Kommissar.»

«Ja, und?»

«Das heißt: Ich stelle Fragen, Sie antworten. Also, was machen Sie hier?»

Interessiert sah er, wie sie die Stirn runzelte und die Lippen fest zusammenpresste. Sie kämpfte. Dann schien sie zu einem Entschluss gekommen zu sein. Sie warf den Kopf in den Nacken und sah ihn hochmütig an. «Die Initiative hat mich gebeten, Theos Arbeit fortzuführen. Dazu brauche ich seine Papiere.»

«Mitten in der Nacht?»

«Ich kann sowieso nicht schlafen.»

Er nickte. Das zumindest konnte er ihr glauben. Sogar im Mondlicht sah er die schwarzen Schatten unter ihren Augen, die eingefallenen Wangen und die scharfen Gesichtszüge.

«Sollen wir uns nicht ein bisschen setzen? Eine Zigarette zusammen rauchen?»

Abwehrend sah sie zur Tür.

«Das Arbeitszimmer ist sowieso versiegelt. Die Unterlagen von Dr. Bernd sind schon längst zur Durchsicht im Kommissariat.»

«Aha.»

So etwas wie Interesse blitzte in ihren Augen auf. Sie schien kurz zu überlegen, dann lächelte sie plötzlich. «Also gut.»

Ohne nach rechts oder links zu sehen, ging sie direkt auf den kleinen Teich zu. Am Stamm einer Trauerweide lehnte eine schmiedeeiserne Bank.

Aus den weiten Taschen ihres Mantels kramte sie das Päckchen vor und hielt es ihm hin. «Das wird wohl nichts mit dem Nichtrauchen», sagte sie spitz.

Er beugte sich vor, als sie ihm Feuer gab. «Scheitern, wieder scheitern, besser scheitern», sagte er lächelnd.

Das Licht des Zündhölzchens beleuchtete kurz ihr Gesicht, den Mund mit den pergamentfeinen Fältchen, die großen braunen Augen. Erstaunlich jung in dem alten Gesicht.

Er lehnte sich wieder zurück und sog den Rauch tief in seine Lungen. Wieso sollte er das Rauchen überhaupt aufgeben? Es war ...

Er stockte. Drehte sich um. Nichts.

Einen Moment lang hätte er schwören können, dass da Schritte waren. Verstohlene Schritte auf dem Kiesweg.

«Was ist?», flüsterte die Frau neben ihm, aufgeschreckt von seiner hastigen Bewegung.

Mit einer Handbewegung brachte er sie zum Schweigen und lauschte in die Nacht.

Da waren nur vertraute Geräusche. Eine Grille, die in der Ferne lärmte, Wasserglucksen, das leichte Rauschen der Bäume, ein paar unermüdliche Frösche, die ihre hohlen, nervigen Brunftlaute durch die Nacht quakten.

Langsam lockerte er seine sprungbereiten Muskeln. «Ich dachte, ich hätte etwas gehört», sagte er. Beruhigend, wie er hoffte. Aber ein Teil von ihm lauschte weiter ins Dunkel.

«Sie haben also Theos Papiere? Warum?», fragte sie.

Also da lag der Hase im Pfeffer. Sie wollte ihn aushorchen. Deshalb die plötzliche Freundlichkeit. Er lächelte.

«Dr. Bernd war ein harmloser, zurückgezogener Witwer. Seit etlichen Jahren pensioniert. Unauffällig. So jemand wird nicht ermordet. So jemand stirbt friedlich im Bett. Also: Worin war er verwickelt? Wen hat er gestört? Was hat er gewusst?»

«Sie schnüffeln in seinem Leben.» Ihr leicht angewiderter Ton störte ihn.

«Genau», antwortete er knapp.

«Und? Was haben Sie in seinen Unterlagen gefunden?»

Er drehte ihr das Gesicht zu, versuchte ihren Ausdruck zu deuten. Aber sie saß weit zurückgelehnt. Nur das rote, viel zu schnelle Aufglühen ihrer Zigarette verriet ihm, wie wichtig diese Frage für sie war.

«Gefunden haben wir Ortsnamen, Beschreibungen von Möbeln, Spesenzettel. Tankquittungen. Und Liebesbriefe.»

«Welche Ortsnamen?»

Die Frage überraschte ihn. Er hatte erwartet, dass sie nach den Briefen fragen würde. Was, um Himmels willen, wollte sie mit Ortsnamen?

«In ein paar Tagen können Sie die Unterlagen haben. Sobald wir mit der Sichtung fertig sind», entgegnete er zögernd.

«Wann?»

«Die Liebesbriefe waren alle an Sie gerichtet.»

Er hörte, wie sie scharf die Luft einzog, spürte, wie sie sich versteifte.

«Ich habe nie einen Brief von Theo bekommen.»

Ihre Stimme klang heiser.

«Sie sind alle für Sie. Dreiundzwanzig Briefe.»

«Sie haben sie gelesen?»

Er nickte. Er hätte gerne etwas gesagt, sich entschuldigt, erklärt, dass es Teil seiner Arbeit war. Dass er wusste, wie schrecklich es war, wenn das Private an die Öffentlichkeit gezerrt wurde.

Stattdessen schwieg er, hörte ihrem heftigen Atmen zu. Den Schritten – er sprang auf.

Mit zwei, drei Sätzen umrundete er den kleinen Teich, lief über den Kies, der unter seinen Tritten zur Seite spritzte, auf das Tor zu. Ein schwarzer Schatten löste sich, rannte los.

Er stürmte hinterher, stolperte über die Schlaglöcher der Allee, versuchte im Laufen den schlimmsten Unebenheiten auszuweichen, doch der Fliehende kannte den Weg besser. Er sprang wie ein Hase von einer Seite zur anderen und hängte den Verfolger ab. Eine Autotür fiel ins Schloss, ein Motor brummte auf.

Als Müntzer die Straße erreichte, sah er nur noch das Heckteil eines davonbrausenden Wagens. Heftig atmend lehnte er sich an einen Baum.

«Mist. Verdammter Mist.» Mit dem Fuß trat er gegen den Stamm. Der scharfe Schmerz durch die dünnen Ledersohlen seiner Sommerschuhe brachte ihn wieder zu sich.

Ein letztes «Mist», und er machte sich langsam auf den Rückweg.

Jemand hatte sie beobachtet und belauscht. Was hatten sie besprochen? Nichts Wesentliches. Hoffte er zumindest. Ein Mann, einer, der sich hier auskannte. War er ihm gefolgt? Oder Marie Weller?

Nach der Besprechung im Gastzimmer des Adler war er direkt hierher gefahren, um sich noch einmal in Ruhe den Tatort anzusehen. Ungefähr um diese Zeit war Bernd gestorben. Kurz nach zehn. Er hatte versucht, sich vorzustellen, wie Dr. Bernd hier ankam. Ein kleiner, dicklicher Mann. Eine Nacht wie diese ... Aber es hatte nicht funktioniert. Stattdessen hatte er von einer rasenden Kutsche und der Kammerfrau der Marie Antoinette geträumt.

Er beschleunigte seine Schritte. Sie saß immer noch so auf der Bank, wie er sie verlassen hatte.

«Ein Mann. Er ist mir entwischt.»

Sie regte sich nicht.

«Sind Sie direkt vom Adler hierher gefahren?»

Ihre Stimme klang wie in Trance, als sie sagte: «Wie? Nein. Ich war noch kurz beim Bürgermeister. Die Schlüssel holen. Wegen Theos Papieren.»

«Ist Ihnen auf der Fahrt hierher etwas aufgefallen? Ein Wagen? Irgendetwas? Frau Weller, ich vermute, der Mann ist Ihnen gefolgt.»

«Welcher Mann?»

Verdammt, hörte sie ihm nicht zu? Bekam sie nicht mit, was um sie herum vorging?

«Der Mann, dem ich eben nachgelaufen bin.»

«Wahrscheinlich ein Jugendlicher. Oder jemand, der sich den Ort ansehen wollte, an dem ein Mensch gestorben ist», sagte sie gleichgültig. «Wann bekomme ich denn die Papiere?»

Warum war sie so scharf auf die Aufzeichnungen? Nichts anderes schien in ihrem Kopf Platz zu haben. Nicht die Liebesbriefe an sie, nicht der Mann, der sie verfolgt hatte.

«Erzählen Sie mir etwas über die Arbeit von Dr. Bernd.»

«Wir haben nicht viel darüber gesprochen. Er hat Anzeigen in die Fachblätter gesetzt, dass er Möbel mit dem de la Forêt-Wappen sucht. Den Meldungen ist er dann nachgegangen. Von manchen Möbeln kannte er den Weg, den sie gegangen waren. Von anderen nicht. Wie gesagt, wir haben nicht viel darüber geredet.»

«Warum nicht?»

«Mein Gott, es hat mich nicht interessiert», fuhr sie auf.

«Und warum führen Sie seine Arbeit jetzt weiter, wenn es Sie nicht interessiert?»

Sie schwieg. Er wartete eine ganze Zeit, bis er an ihrem Schweigen erkannte, dass sie nicht antworten würde.

«Frau Weller, vielleicht ist Dr. Bernd bei seiner Arbeit auf etwas gestoßen und wurde deshalb ermordet. Es ist nicht ungefährlich, in seine Fußstapfen zu treten.»

Sie antwortete nicht.

Plötzlich fühlte er sich müde. Er hatte keine Lust mehr, neben diesem Granitblock zu sitzen und das Schweigen auszuhalten. Er wollte nach Hause. Zurück in diese fremde Stadt, die jetzt sein Zuhause war. Auf diesem komischen, kleinen Marktplatz sitzen. Ein kaltes Bier trinken. Nichts mehr wissen von toten Historikern, alten Möbeln, vergilbten Liebesbriefen und Schlossruinen.

Er stand auf. Schließlich hatte er noch eine gute halbe Stunde Fahrt nach Saarbrücken vor sich.

«Es ist spät.»

Sie stand ebenfalls auf und trat ihre Zigarette aus. Im Gehen warf er einen Blick zurück. Dunkel stand das Torhaus gegen den Nachthimmel.

«Sie hatten übrigens Recht mit den Todesfällen hier», sagte er unvermittelt. «Auch wenn der Mord an der Kammerfrau nur eine Sage ist. Ich habe mich kundig gemacht. Die Geschichte von Le Chêne ist, zumindest in den letzten hundert Jahren, wirklich blutig. Schon die zwei toten Bauarbeiter 1913.»

«Das wusste ich gar nicht», sagte sie. Klang da so etwas wie Interesse durch?

«Bei Abbrucharbeiten ums Leben gekommen. 1940 ein erschossener Deserteur und 1945 zwei angebliche Plünderer.»

«Das weiß ich noch», warf sie leise ein. «Zwei junge Männer aus dem Nachbarort. Die letzten Naziopfer hier aus der Gegend.»

«Und dann 1974 der ungeklärte Todesfall Clarin.»

«Das Fritzchen», sagte sie merkwürdig tonlos.

«Kannten Sie den Toten?»

«Jeder kannte ihn. Der obligatorische Dorfdepp, wenn Sie so wollen.» Sie stockte und sah an ihm vorbei ins Dunkel. Doch dann fuhr sie fort: «Er war nett, freundlich Zurückgeblieben. Die Gemeinde hat ihn angestellt für die Straßenreinigung. Die Kinder haben ihn geärgert, wenn er in seiner orangen Uniform kehrte. Er hat das nie verstanden. Er mochte Kinder. Hat ihnen von seinem Gehalt Bonbons gekauft. Die haben sie genommen und sind weggerannt. Nicht ohne ihn zu verspotten. Kleine, halslose Ungeheuer.»

Halslose Ungeheuer. Jetzt brauchte er sie nicht mehr zu fragen, warum sie selbst kinderlos geblieben war.

«Die Erwachsenen waren auch nicht viel besser. Immer haben sie ihn beäugt. Sie dachten wohl, er wolle sich an den Kindern vergreifen. Dabei wollte er nur mit ihnen zusammen sein und spielen. Er kam in meinen Garten, dort hat er sich oft versteckt und geheult.»

Auffallend emotionslos erzählte sie diese Geschichte. Fast, als wäre es nicht ihre.

«Sie haben sich angefreundet?», fragte er vorsichtig.

«Hier auf Le Chêne wurde er erschlagen. Liegen gelassen wie ein Stück von dem Abfall, den er Tag für Tag eingesammelt hat.»

Sie waren bei ihrem Wagen angekommen. Sie kramte ihren Schlüssel aus der Tasche. Als wäre ihr plötzlich etwas eingefallen, drehte sie sich ihm zu. «Die Polizei hat den Fall untersucht. Nicht besonders begeistert. Es war ja nur das Fritzchen, ein verrückter Straßenkehrer.»

Er hatte die Akten gelesen. Die Ermittlungen damals waren wirklich nicht sorgfältig gewesen. War sie deshalb so unkooperativ? Weil die Polizei sie enttäuscht hatte?

Umständlich setzte sie sich in ihr Fahrzeug, raffte den langen Mantel zusammen und wollte die Tür schließen.

Mit einer Hand hielt er sie offen. «Frau Weller, seien Sie bitte vorsichtig.»

Er wusste nicht genau, was er damit meinte, warum er ihr das sagte.

Er blieb noch eine ganze Weile reglos in der dunklen Eichenallee stehen. Marie Weller, du machst mir Magenschmerzen, dachte er.

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