Читать книгу Die Antiquitätenhändlerin - Madeleine Giese - Страница 12

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Die Nacht schoss vorbei. Schwarze Bäume zu beiden Seiten näherten sich, schlugen mit ihren Zweigen nach dem Wagen, wichen zurück. Die Straße war ein dunkles Band voller Windungen und Kurven.

Ihr Fuß drückte das Gaspedal fest nach unten, die Hände hielten das Lenkrad umklammert.

Immer wilder wirbelte die Nacht an der Windschutzscheibe vorüber. Die jagenden Wolken, die rasenden Bäume, die Leitplanke. Und über allem ein sichelförmiger, böser Mond.

Ihr Hals war zusammengeschnürt und schmerzte beim Schlucken. Der Atem ging schnell und heftig. Die Scheibe beschlug, verschwamm. Sie schaltete die Scheibenwischer ein, bis sie merkte, dass das Verschwommene nicht von draußen kam.

Ihr Fuß trat hart auf die Bremse. Die hinteren Wagenräder brachen aus, schlingerten über den Asphalt, fingen sich wieder. Schräg zur Fahrbahn kam der Wagen zum Stehen.

Sie ließ den Kopf auf das Lenkrad sinken.

Ein Unfall. Damit hätte sie leben können. Eine der tausend Ungerechtigkeiten. Dumpfe Schläge, denen man nicht ausweichen konnte. Aber nicht das. Nicht Mord. Irgendjemand ging einfach hin und ermordete Theo. Er hätte nicht sterben müssen. Die Uhr war nicht abgelaufen. Als hätte das Leben irgendetwas mit einer Uhr zu tun.

Der Teufel mit den drei goldenen Haaren. So zärtlich. So bösartig. Nichts, was er nicht mit einer frechen Bemerkung gerade rücken konnte. Mit ihm war das Leben leicht, schwebend.

Es war gemein!

Fast musste sie lachen über dieses Kinderwort.

Sie schluckte, hob den Kopf vom Lenkrad und starrte auf die kleine, helle Insel, die das Scheinwerferlicht auf die Straße warf.

Das war kein Schicksal. Theo könnte leben. Etwas wie Schmerz zuckte durch ihren Körper. Als würde sich jeder Nerv in ihr nach seiner Berührung sehnen.

Jemand hatte ihn ihr weggenommen. Aus irgendeinem beschissenen Grund, den sie nicht kannte.

«Ich kriege dich», flüsterte sie der Windschutzscheibe zu. Die Wut brachte Wärme in ihren Körper zurück. «Ich lasse das nicht zu. Ich bin noch nicht tot, und ich schwöre dir: Ich kriege dich. Und dann gnade dir Gott!»

Mit einer entschlossenen Bewegung wischte sie sich mit dem Jackenärmel über die laufende Nase. Sie legte den ersten Gang ein und drehte den Schlüssel.

Nichts geschah. Abgesoffen. Die Notbremsung hatte den alten Wagen einfach überfordert.

Sie lehnte sich im Sitz zurück und kurbelte das Seitenfenster nach unten. Atmete tief den Geruch von Bäumen, feuchter Nachterde, stehendem Wasser und Kühle ein. Wo war sie überhaupt gelandet?

Die Straße nach Le Chêne. Die kleinen Wassergräben links und rechts der Straße, sumpfig und voll Froschlaich. Die verwilderten Brombeerhecken, struppig und staubig am Tag, in der Nacht geheimnisvoll-bizarres Flechtwerk.

Sie tastete nach dem Zigarettenpäckchen auf der Lenkradkonsole und riss ein Streichholz an. Kurz füllte der scharfe Geruch nach Schwefel die Luft, schnell verdrängt von würzigem Tabak. Vom Scheinwerferlicht gefangen, tanzte ein riesiger Nachtfalter vor ihr auf und ab.

Dieser Hauptkommissar schien anzunehmen, dass Theos Tod etwas mit der Arbeit für die Initiative zu tun hatte. Warum sonst war er mitten in ihre Sitzung geplatzt und hatte sie befragt? Der tat nichts ohne Grund. Er hatte ihre Alibis abgefragt.

Der Bürgermeister war ins Stammeln geraten. Nein, er war zum vermeintlichen Todeszeitpunkt nicht zu Hause gewesen. Eine Sitzung, ein Treffen. Die Sekretärin wisse Bescheid. Sichtlich überfordert von der neuen Situation. Ein Mordfall, und er mitten darin.

Die Eiseleins. Das tote Pferd mit seinem «Ogottogottogott». Die schmallippige Versicherung ihres Mannes, sie hätten den Abend zusammen verbracht.

Familie Stroh. Er – merkwürdig gefasst. Als würde es ihn nicht weiter erstaunen, nach einem Alibi gefragt zu werden. Sie mit verstohlenem Seitenblick zu Weber. War das nicht merkwürdig gewesen?

Jascha, dessen Vater sofort versicherte, sein Sohn habe Musik gehört. Der Sohn, der angab, Licht im Arbeitszimmer seines Vaters gesehen zu haben. Und die Mutter? Was war mit ihr?

Ralf Weber in einer Bar. Mit Namen und Zeitangaben.

Die schöne Hanna auf einem Unifest. Tausend Leute, so gut wie keiner.

Und sie selber? Zu Hause zwischen Forellen, Sahnemeerrettich und dem Warten auf Theo. Wütend, während er auf den Eisenstangen hing.

Wann genau war er gestorben? Wie lange hatte er auf diesem verdammten Gitter gehangen? Mit was war der Schlag gegen seine Schläfe geführt worden?

Dieser Nass, der immer nur von stumpfer Gewalt und scharfer Gewalt gefaselt hatte. Bis sie endlich verstand, dass er mit stumpfer Gewalt den Schlag gegen den Kopf und mit scharfer Gewalt das Gitter meinte.

Warum? Um Gottes willen, warum hatte jemand Theo umgebracht?

Wer tötet den Leiter eines popeligen Museums? Seit Elisabeth tot war, lebte er still in seinem Haus. Keine große Karriere. Kein großes Vermögen. Keine Neider.

Doch – Heinz Eiselein war neidisch. Auf Theos Fachwissen. Auf seine Stellung als unangefochtener Fachmann für Le Chêne.

Irma, seine Frau ... Hatte die sich nicht besonders um Theo gekümmert? Seit Elisabeths Tod? Sie hatte Theo leid getan. In seinen bösartigen Momenten hatte er über das tote Pferd gelacht. Keine heimliche Liebesgeschichte. Die hatte er mit ihr. Aber davon wusste niemand. Hatte sie zumindest geglaubt.

Dr. Dolb. Der hatte sich doch sofort auf diese Initiative gestürzt. Publicity. Wählerstimmen. Die Modellgemeinde, die alles in Eigeninitiative hinkriegt. Theos spöttische Bemerkungen, mit was sich alles Politik machen lässt. Seine Sticheleien. Ein Streit mit Dolb? Er war kein impulsiver Mann, sonst wäre er kein Politiker. Der schmiss seine Gegner nicht aus dem Fenster. Oder?

Weit entfernt zerschnitt wütendes Hundegebell die Nacht, brach plötzlich ab und ließ Stille zurück.

Weber? Hatte Ilse Blum nicht neulich erzählt, das Autohaus Weber stünde kurz vor dem Bankrott? Sie musste mit dem Frosch reden. Der wusste alles. Aber was könnte Theo damit zu tun haben?

Philipp Stroh verwaltete die Finanzen. Gab es vielleicht Unkorrektheiten, die Theo bemerkt hatte? Wer kontrollierte Stroh? Das Geld der Initiative? Da müsste einiges auf dem Konto sein.

Seine Frau, die schöne Bettina. Hatte die jetzt was mit Weber oder nicht?

Denk nach, Marie. Unter jedem Stein, den du umdrehst, lauert Ungeziefer.

Mit der Hand fuhr sie sich über die Stirn. Sie schwitzte.

Mein Gott, all diese Leute. Ihre Nachbarn, ihre Freunde ...

Hatte sie überhaupt Freunde? Eher Bekannte, die man auf Taufen und Beerdigungen sah, beim Einkaufen und beim Doktor. Das tägliche Allerlei und darunter die kleinen, schäbigen Geheimnisse.

Die Untreue von Bettina Stroh, das Trinken von Irma Eiselein, die Eitelkeit ihres Mannes. Allgemein bekannt, dass Philipp Stroh sein Abitur nur auf einer Presse geschafft hatte. Es wurde darüber getuschelt, dass Thomas Krätz sich eine junge Frau genommen hatte. Dass Dr. Dolb sich schon mit vierzig die Haare weiß färben ließ, um seine Ähnlichkeit mit Caesar zu unterstreichen, und Weber ein windiger Hund war.

Alles mehr oder weniger harmlos. Keine Gründe für einen Mord. Andererseits ... Was wusste sie wirklich über die Leidenschaften, die wirklichen Geheimnisse?

Wieder ließ sie die Gesichter Revue passieren. Fischer. Der Zahnarzt und seine dicke Frau, die hatten heute Abend gefehlt. Der sonnengebräunte Fischer mit dem glatten Lächeln ...

Wer von ihnen könnte ein Mörder sein? Wie sah ein Mörder aus?

Ein letzter Zug, und sie warf den glühenden Stummel aus dem Fenster. Plötzlich hielt sie inne. Gänsehaut kroch über ihre Arme.

Sie hatte einen Mörder gesehen, damals auf Le Chêne. Ein nebliger Herbstmorgen, sie und Alois beim Pilzesuchen. In den Eichenwäldern um Le Chêne wuchsen wunderbare Steinpilze. Es war die Aufgabe der Kinder, den kargen Kriegsspeiseplan zu füllen. Der Lastwagen, der vor Le Chêne stand.

Alois hatte ihr Zeichen gemacht, sich näher zu schleichen. Unbeholfen war sie hinter ihm hergewackelt.

Es waren zwei Jungen, nicht viel älter als Alois. Blass und verloren in diesem nebligen Morgen. Und ein paar Soldaten. Der große blonde Mann in schwarzer Uniform mit roter Armbinde hatte ganz freundlich gelächelt. Die ganze Zeit gelächelt. Auch als die Schüsse fielen.

Die zu Boden fallenden Jungen hatte sie gar nicht gesehen. Nur das Prinzenlächeln des großen Mannes. Alois hatte sie weggezogen und war mit ihr gerannt. Nur weg.

Das Getuschele in der Stadt. Über Plünderer, von der SS erschossen. Die Wirren der letzten Kriegstage.

Sie hatten niemandem gesagt, dass sie dabei gewesen waren. Auch sie und Alois hatten nie darüber gesprochen. Aber seit dieser Zeit war Le Chêne rot. Rot wie Blut. Obwohl sie gar kein Blut gesehen hatte. Und es war rot geblieben. Mit Fritz. Und jetzt mit Theo.

Theo hatte nicht sehr ausführlich über seine Reisen erzählt. Ihre Abneigung gegen Le Chêne, sein Lieblingskind. Ganz kurz stieg ein heißer Kloß in ihren Hals.

Aber Theo hatte Buch geführt. Sie musste seine Aufzeichnungen überprüfen. In seinem Arbeitszimmer in Le Chêne hatte er alles gesammelt.

Wieder wischte sie sich mit dem Ärmel über die Nase. Die Leuchtbuchstaben der automatischen Uhr zeigten 22.18 Uhr. Noch nicht zu spät. Dr. Dolb hatte die Schlüssel. Sie würde jetzt zu ihm fahren und die Schlüssel holen. Schließlich brauchte sie die Aufzeichnungen, wenn sie Theos Arbeit fortführen sollte. Und sie würde sie fortführen. Theos Tod hing mit Le Chêne zusammen. Auf einmal war sie ganz sicher.

Mit Le Chêne und der Initiative.

Energisch drehte sie den Schlüssel. Der Wagen sprang ohne Mucken an. «Ich kriege dich!»

Sie wendete und raste in die Nacht.

Die Antiquitätenhändlerin

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