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Von der Landstraße aus war die Einfahrt leicht zu verfehlen, aber heute Morgen hatte er sich die Stelle genau gemerkt. Zwei mächtige Eichen markierten den Beginn eines ausgetrockneten, holprigen Sandweges. Eine verwahrloste, aber immer noch imposante Eichenallee, die zu Le Chêne führte.

Der arme Kerl hatte auf den Eisenstangen noch eine ganze Weile gelebt. Der Kommissar schüttelte sich. Kein schöner Tod. Aber welcher Tod war schon schön?

Er schaltete in den zweiten Gang herunter und versuchte, ein besonders tiefes Schlagloch zu umfahren. In der Parkbucht kurz vor den mächtigen Eisentoren stand ein staubiger, rostroter Kastenrenault. Als er aus seinem klimatisierten Audi stieg, traf ihn die Hitze wie ein Schlag. Er zog sein helles Jackett aus und warf es sich nachlässig über die Schulter.

Der Renault war nicht abgeschlossen, der Schlüssel steckte. Ziemlich leichtsinnig. Suchend sah er sich um, konnte aber niemanden entdecken.

Die Spurensicherung war mitsamt allen Kollegen schon lange abgezogen. Hoffte er zumindest.

Langsam schlenderte er auf das Torhaus zu, das in der Nachmittagshitze brütete. Ein schönes Haus aus mächtigen Quadersteinen. Gute Proportionen, lang gestreckt und zweistöckig. Schade, dass das dazugehörige Schloss nicht mehr stand. Musste eine imposante Anlage gewesen sein.

Der mörderische Eisenzaun, der das alte Torhaus von den angrenzenden Weiden und der Allee trennte, war von späteren Besitzern errichtet worden. Gute Kunstschmiedearbeit. Lanzettenförmige Stäbe, die in den blauen Himmel ragten. Elegant und tödlich.

Kein Lüftchen regte sich. Es war still. Das Gittertor stand offen. Kurz zögerte er, sah an den zwei mächtigen Eisenflügeln hoch, dann trat er hindurch.

Vor dem Haus waren sie anscheinend dabei, einen kleinen Park anzulegen. Er umrundete einen Teich, in dem ein paar Wasserrosen zögerlich ihre Blätter ausbreiteten, und ging über den frisch aufgeschütteten Kies an den angelegten Beeten vorbei zur Rückseite des Hauses. Zum Tatort.

Im Schatten der Mauer sah er sie: eine alte Frau, an die Hauswand gelehnt, den Blick starr auf das Gitter gerichtet. Sie rauchte.

«Hallo», rief er.

Langsam wandte sie den Kopf. Sie war schlank und ziemlich groß. Über ihre rechte Schulter fiel ein weißer Zopf. Sie hatte sich fest in einen schwarzen Umhang gehüllt, den sie mit einer Hand über der Brust zusammenhielt, so als würde sie in der Hitze frieren. Nur die Hand mit der Zigarette ragte heraus.

«Was machen Sie hier?», fragte er.

«Ich plane, das Ganze in die Luft zu sprengen», sagte sie und wandte den Blick wieder zum Zaun. «Oder anzuzünden. Le Chêne brûlé – die verbrannte Eiche.»

Ihre Stimme klang müde und tonlos.

«Gehört Ihnen der Renault?»

Sie nickte.

«Sie haben den Schlüssel stecken lassen.»

Gleichgültig sah sie geradeaus.

Sie hatte ein gut geschnittenes Profil, eine sehr klassische Nase, hohe Wangenknochen. Als junge Frau hätte sie ihm bestimmt gefallen.

Er verscheuchte den Gedanken und lehnte sich ein Stück entfernt von ihr an die Hauswand. Gemeinsam sahen sie zum Zaun, an dem immer noch Teile des Absperrbandes hingen.

«Haben Sie Dr. Bernd gekannt?», fragte der Kommissar.

Die Alte warf ihre Zigarette auf den Boden und trat sie sorgfältig aus. «Mein ganzes Leben lang», sagte sie leise. Aus den Tiefen ihres Umhangs zog sie ein zerknülltes Päckchen vor und zündete sich eine neue Zigarette an. Als sie seinen gierigen Blick bemerkte, hielt sie ihm die Schachtel hin.

«Ich bin gerade dabei, es mir abzugewöhnen», sagte er bedauernd.

«Ich habe es mir schon abgewöhnt.» Unverwandt hielt sie ihm die Schachtel entgegen.

Zögernd griff er zu. Er rollte die Zigarette zwischen Daumen und Zeigefinger, spürte die bröckelige Substanz in ihrem Inneren.

«Wann haben Sie wieder angefangen?», fragte er.

«Gestern.»

Er merkte gar nicht, wie er die Zigarette in den Mund steckte. Sie gab ihm Feuer, und sofort war er wieder da, der Kick im Kopf. Tief inhalierte er den Rauch und ließ ihn durch seine Lunge strömen.

Ihr Blick streifte den Mann, der entspannt an der Hausmauer lehnte und selbstvergessen und gierig den Rauch einzog. «Wie lange haben Sie es denn geschafft?», fragte sie.

«Heute wäre der dritte Tag.»

«Bei mir ist es ein Jahr.»

«Erzählen Sie mir von Dr. Bernd?»

Sie schluckte, zog an ihrer Zigarette und betrachtete den Zaun. Angenehm benommen vom Nikotin, sah er sie auffordernd an.

«Wir haben zusammen studiert. In Paris, Kunstgeschichte. Theo war einen Kopf kleiner als ich und grauenhaft kurzsichtig. Immer lief er mit so einer dicken Brille herum. Aber er war sehr gescheit und witzig. Er hat immer behauptet, dass sein Hirn so viel Platz bräuchte, dass keiner mehr für Haarwurzeln bliebe. Er war schon damals ziemlich kahl. Der Teufel mit den drei goldenen Haaren.» Sie lächelte.

Es überraschte ihn, dass sie so bereitwillig Auskunft gab. Damit hatte er nicht gerechnet.

«Der Teufel mit den drei goldenen Haaren?»

«Nur ein Märchen», sagte sie abwehrend. «Ist das nicht lächerlich? Nach welch nebensächlichen Kriterien man sich sein Leben versaut?»

Ruhiger fuhr sie fort: «Wir sind beide hierher zurückgekommen. Er hat das Heimatmuseum geleitet, geheiratet. Ich hatte einen Antiquitätenladen. Dann ist seine Frau gestorben. Und gerade als ich alt genug war, um das Leben nicht mehr in Zentimetern zu messen, fällt er aus dem Fenster. Das ist doch ein Witz.»

Sie warf die halb gerauchte Zigarette zu Boden, zertrat sie mit einer heftigen Fußbewegung.

Er sah den kleinen alten Mann vor sich. Auf den Zaun gespießt wie ein Hähnchen auf den Bratrost, die Brille schief im Gesicht, dünne Blutfäden an den Mundwinkeln.

«Le Chêne», stieß sie zwischen den Zähnen vor. «Hier gibt es nur Mord und Tod. Ein schlechter Ort, man kann es spüren.»

Nachdenklich blinzelte er in die Nachmittagssonne. Genius Loci. Der Geist des Ortes.

«Ich war neulich im Elsass. Richtig schön», sagte er träumerisch. «Ein kleiner Ort hat mir besonders gefallen. Wissembourg, Weißenburg. Kennen Sie den?»

Sie nickte.

«An der Kirche ist eine Inschrift, tief in den Stein gemeißelt ...»

«He vor is diss gemichet – Das ist hier geschehen», unterbrach sie ihn.

«Sie kennen die Inschrift?»

Wieder ein Nicken.

«Ich weiß nicht, was dort geschehen ist, warum sich jemand die Mühe gemacht hat, diesen Satz in den Stein zu meißeln. Aber als ich es gelesen habe, wurde mir kalt.»

«Auf Le Chêne ist mir immer kalt», sagte sie leise. «Schon als Kind. Vielleicht ist es Einbildung, aber ich glaube, Orte saugen etwas von dem, was an ihnen geschieht, auf.»

Still standen sie nebeneinander. Ein leichter Wind kam auf, kräuselte sanft die Blätter der Bäume. Es roch nach Sonne und Staub. Die Frau zog ihren Umhang enger um den Körper. Wie alt sie wohl war? Sie könnte seine Großmutter sein, allerdings hatte sie nichts Großmütterliches an sich. Vielleicht tat es ihr gut, zu reden.

«Erzählen Sie mir von Le Chêne», bat er.

Sie sah ihn an. Als er schon nicht mehr damit rechnete, begann sie: «Ein recht blutrünstiges Lothringer Adelsgeschlecht hat sich Le Chêne als Stammsitz gebaut. Le Chêne, die Eiche. Im Volksmund hieß das Schloss immer Chêne brûlé, die verbrannte Eiche. Es gibt eine Sage um das Schloss», fuhr sie fort, «während der Französischen Revolution ist eine Kammerfrau von Marie Antoinette mit einem Teil des Schmucks der Königin hierher geflohen.»

«Marie Antoinette. Die mit dem Kuchen?»

«Genau die. Das Volk hat kein Brot? Dann soll es Kuchen essen. Dabei war der Ausspruch noch nicht einmal von ihr.»

«Die wurde doch geköpft.» Wenigstens so viel hatte er aus dem Geschichtsunterricht behalten.

Sie nickte beiläufig. «Jedenfalls wurde die Kammerfrau ermordet, und der Schmuck verschwand. Natürlich wurde er gesucht und dabei das Schloss geschleift. Dem Erdboden gleichgemacht. Nur das Torhaus blieb übrig.»

«Und? Wurde der Schmuck gefunden?»

«In Wirklichkeit wurde das Schloss nach und nach abgetragen, um Baumaterial zurückzugewinnen und zu verkaufen. Unser Rathaus wurde damit gebaut und die alte Brücke.»

«Und warum hassen Sie den Ort so? Das kann doch nicht an der Kammerfrau liegen.»

Stumm sah sie zum Tor.

«In welcher Beziehung standen Sie zu Herrn Dr. Bernd?»

«Das geht Sie nichts an.»

Er zog seine Marke. «Entschuldigen Sie, ich habe mich nicht vorgestellt. Hauptkommissar Müntzer, ich untersuche den Fall.»

Mit einem Ruck stieß sie sich von der Wand ab. «Und wenn Sie der Papst wären, würde Sie das nichts angehen.»

Ohne ihn eines Blickes zu würdigen, ging sie.

«Da irren Sie sich», murmelte er in ihren Rücken.

Kurz bevor sie um die Hausecke bog, drehte sie sich noch einmal zu ihm um. «Die arme Kammerfrau war übrigens nicht die Einzige, die auf Le Chêne ermordet wurde. Und das ist keine Sage.»

«Wir sehen uns», rief er ihr zu. Einige Sekunden blieb sie regungslos stehen, dann verschwand sie.

Er lehnte sich wieder an die Hausmauer und spürte die Sonnenstrahlen auf seinem Gesicht. Eine Kammerfrau. Ein Historiker, der eines mittelalterlichen Todes starb. Ein merkwürdiges Gespräch mit einer merkwürdigen alten Frau. Das ist hier geschehen.

Mit den Füßen scharrte er die zertretenen Zigarettenstummel zu einem Häufchen zusammen. Mist, jetzt hatte er wieder geraucht. Das war hier geschehen.

Die Antiquitätenhändlerin

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