Читать книгу Mission SOL 2020 Paket (1 bis 12) - Madeleine Puljic - Страница 38
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12. November 1552 NGZ
Kessaila, BARILS Adyton
Perry Rhodan wusste nicht, wann die Prüfungen beginnen würden. Er wusste nur eins: Eine weitere Mahlzeit in Semmarus Gesellschaft würde ihm nicht bekommen, und nachdem er am Vortag kaum etwas zu sich genommen hatte, hatte er ein Frühstück bitter nötig.
Also machte er sich noch vor der Morgendämmerung auf, um das Loch in seinem Bauch zu füllen. Diesmal hielt der Versorgungsapparat einen reichhaltigen Getreidebrei und Obst für ihn bereit. Sogar etwas, das entfernt an Kaffee erinnerte, landete auf Rhodans Tablett. Von der Wirkung her, die das Gebräu hatte, kam es jedenfalls einem mehrfachen Espresso gleich.
Rhodan war bei seiner zweiten Tasse angelangt, als die ersten anderen Gäste in der Kantine eintrudelten. Überrascht stellte er fest, dass niemand dabei war, den er in der Verhandlung gesehen hatte. Demnach war die Zitadelle keineswegs nur von Robotern und Rittern bevölkert. Auch diese Bewohner Kessailas gehörten den unterschiedlichsten Völkern an. Manche von ihnen kamen Rhodan entfernt vertraut vor, aber er erkannte keins davon wieder.
Während er seinen Kaffeeersatz trank, beobachtete er, wie sie miteinander umgingen. Respektvoll, freundlich ... zurückhaltend. Ein paar neugierige Blicke wurden in seine Richtung geworfen, aber niemand sprach ihn an, und soweit er das sagen konnte, war er nicht mal geflüsterte Spekulationen wert. Die Leute gingen ihren Essensgewohnheiten nach, ohne sich von ihm stören zu lassen. Rhodan fragte sich, was sie über ihn wussten. Hatten die Ritter seine Anwesenheit erklärt? Oder war ein Gast im Allerheiligsten nicht so ungewöhnlich, wie er dachte?
Womöglich war er tatsächlich nichts Besonderes. Wenn BARILS Stimme des Öfteren Pattsituationen auflösen musste, waren die Prüfungen wahrscheinlich eine reine Routineangelegenheit. Umso besser für ihn. Das würde ihm hoffentlich einen raschen Weg raus aus dieser Lage ermöglichen.
»Du bist früh auf.« Semmarus Stimme riss ihn aus seinen Überlegungen. Der Ritter stand neben Rhodan und sah ihn aus dunklen Facettenaugen an. »Bist du bereit für deine erste Prüfung?«
»So bereit, wie ich es sein werde.« Perry Rhodan kippte den Rest seines Muntermachers hinunter. »Lass uns gehen.«
*
Der kleine, kreisrunde Raum, in den Semmaru ihn lotste, entsprach nicht Perry Rhodans Vorstellungen. Irgendwie hatte er ein winziges Verhörzimmer erwartet, vielleicht mit einem Wasserglas auf einem sonst leer gehaltenen, ornamentlosen Tisch, das Ganze überwacht mit einer auffällig platzierten Kamera.
An der Existenz dieser Kameras hegte Rhodan weiterhin keine Zweifel, aber zumindest auf den ersten Blick konnte er keine entdecken. Einen Tisch gab es nicht, und auch kein Trinkglas. Dafür plätscherte das Rinnsal eines dezent gestalteten Springbrunnens an der grauen Mauer herab. Davon abgesehen war der Raum leer.
»Die Prüfung beginnt, sobald du die Mitte erreichst«, informierte Semmaru ihn. »Viel Glück.«
»Er wird versagen.« Es war nur eine Stimmübertragung, aber Rhodan hatte keine Schwierigkeiten, die Sprecherin zu identifizieren. A-Kuatonds Ärger hallte durch das Prüfungszimmer, während Rhodan zur Mitte schritt. »Es ist eine Verschwendung unserer aller Zeit ...«
»Es ist BARILS Wille«, entgegnete eine andere, ebenfalls weibliche Stimme. Vielleicht die menschenähnliche Ritterin? »Falls er eine Zeitvergeudung darstellt, ist der Test ohnehin gleich vorüb...«
Rhodan hatte die Mitte erreicht, und die Stimmübertragung brach ab. Ringsum flammte ein Hologramm auf, das ihn im Zentrum der Yahounagalaxis schweben ließ. Eine beeindruckende Illusion – aber was genau sollte er nun tun?
Nach kurzer Überlegung streckte er die Hand nach einem Stern schräg vor sich aus. Augenblicklich reagierte das Holo, die Ansicht vergrößerte sich, bis er die Details dieses Sonnensystems erkennen konnte. Vier Planeten kreisten um den Stern. Rhodan tippte die sonnennächste Welt an.
Wieder wurde er näher herangezogen, bis er sich schließlich auf einer belebten Straße wiederfand. Das Volk, das diesen Planeten bewohnte, war groß gewachsen, wenn es aufrecht stand. Ihre weichen, biegsamen Körper erinnerten Rhodan an Schnecken. Sie hatten keine Beine, aber überaus muskulöse Arme, mit denen sie heftig gestikulierten, während sie durch die Straßen schlenderten, plauderten oder Besorgungen erledigten.
Rhodan verstand ihre Sprache nicht, aber ihm kam an dieser Simulation nichts ungewöhnlich vor. Ein ganz normaler Alltag, wie er auf unzähligen Planeten in unzähligen Systemen geschah. Was sollte er an diesem Ort?
Plötzlich erklang ein Aufschrei. Rhodan fuhr herum. Eins der Schneckenwesen prügelte auf ein Gegenüber ein. Es gab keinen Zweifel daran, dass der Angreifer seinem Opfer an Kraft und Wut überlegen war. Der Schwächere der beiden kauerte bereits auf dem Boden, die Arme schützend um den Kopf geschlungen, und noch immer schlug der Angreifer auf ihn ein. Er würde seinen Gegner umbringen, wenn ihn niemand abhielt.
Ohne darüber nachzudenken, ging Rhodan dazwischen. Er packte die Arme des Angreifers, und als das noch nicht ausreichte, um den ungleichen Kampf zu beenden, riss er das Schneckenwesen von seinem Opfer herunter.
Einen kurzen Moment lang sahen ihn beide Parteien mit großen Stielaugen an, dann verblasste das Bild. Der schleimige Muskelarm, den Rhodan eben noch umklammert gehalten hatte, verschwand, und er trieb einmal mehr in der Galaxis umher.
War das nun ein Test gewesen? Hatte er richtig entschieden? Immerhin hatte er für Ausgleich gesorgt.
Er sah sich um. Nichts geschah, nur die Sterne kreisten langsam durch das Holo. Also ging die Prüfung wohl weiter.
Rhodan berührte den nächsten Stern, ein roter Riese diesmal. Der Planet, den er auswählte, war von einer Kraterlandschaft geprägt – und leer. Rhodan konnte kein Leben erkennen oder sonst etwas, das ihn dorthin geführt haben könnte.
Als Rhodan schon grübelte, wie er die leere Welt wohl wieder verlassen konnte, versank er mit einem Ruck in der Erdkruste. Der felsige Boden, auf dem er eben noch gestanden hatte, lastete nun wie eine tonnenschwere Last auf ihm, Finsternis herrschte überall. Aber nach ein paar vergeblichen Atemzügen schwand erst der Druck, dann die Dunkelheit, und Rhodan fand sich in einem gewaltigen Tunnelkomplex wieder.
Und er war nicht allein. Ein technologisch rückständiges Volk war dabei, die Tunnel mit Maschinen aus Stein und Metall immer weiter vorzutreiben.
Eine Weile beobachtete Rhodan ihr Tun. Sie schienen primitiv, aber für ihre Möglichkeiten gingen sie äußerst geschickt vor. Maß man ihre Entwicklung an den Menschen, entsprachen sie vermutlich einer frühantiken Hochkultur. Und wenn man bedachte, dass sie das alles in den Tiefen der Erde vollbrachten ...
Ein lautes Donnern verkündete das Ende der Idylle. Rhodan spürte das Vibrieren des Gesteins unter seinen Füßen, das immer weiter zunahm. Ein Erdrutsch! Eine der Maschinen war samt Fahrer durch einen Hohlraum im Boden gebrochen. Sie drohte noch weiter abzurutschen: Unter dem Gewicht des Geräts geriet immer mehr Material in Bewegung, das in einen Tunnel unterhalb prasselte und einen Arbeiter dort unten langsam, aber sicher unter sich begrub.
Rhodan musste handeln. Die Zeit würde nicht reichen, um beide zu retten. Aber wenn er nichts tat, würden beide sterben!
Also sprang er vor und war schneller bei dem Fahrer der Unglücksmaschine, als es eigentlich möglich war. Nur ein Gedanke, und er hatte ihn erreicht. Aber damit endeten seine Vorteile bereits. Er packte den Unglücklichen an einem seiner wild wedelnden Arme und zog, aber die Beine des Wesens schienen in seiner Maschine eingeklemmt zu sein. Egal was Rhodan tat, er bekam den Arbeiter nicht los, und das Gerät rutschte gnadenlos immer weiter in den Abgrund. In Panik klammerte sich das Wesen an Rhodans Arm, schlug seine Krallen in die Schulter seines Retters. Rhodan biss die Zähne zusammen, zog und zerrte. Endlich löste sich der Körper aus dem Fahrzeug. Es schmatzte leise, und Rhodan stolperte zurück, den kreischenden Arbeiter im Arm. Die tonnenschwere Maschine krachte in den darunterliegenden Tunnel.
Keuchend kam Rhodan auf die Knie. Auf allen vieren kroch er zum Rand des Lochs, aber für den zweiten Arbeiter kam jede Hilfe zu spät – die Maschine seines Kollegen hatte ihn zerquetscht.
Rhodan wandte sich ab. Er gab nichts, was er hätte tun können. Niemals wäre er rechtzeitig in den unteren Tunnel gelangt, um dem dortigen Opfer zu helfen. Er hatte denjenigen gerettet, den er hatte erreichen können ... Eine leise Stimme in seinem Innern erinnerte ihn an die gedankenschnelle Bewegung, mit der er überhaupt an den Unglücksort gelangt war. Vermutlich hätte er auch den unteren Arbeiter erreicht, wenn er es versucht hätte.
Aber er hatte seine Entscheidung getroffen. Und immerhin hatte er ein Leben gerettet. Er sah zu dem Arbeiter, den er aus seinem Gefährt gezogen hatte, und erschrak. Die Beine des Wesens – oder das, was er dafür gehalten hatte – waren eine blutige, schleimige Masse. Das Wesen selbst sah ihn aus trüben, vorwurfsvollen Augen an, während sein Atem immer flacher und flacher ging.
Die Schuld traf Rhodan, sobald er begriff: Das Wesen hatte sich nicht an ihn geklammert. Es hatte versucht, ihn abzuwehren. Es hatte auch nicht festgesteckt – es war mit seinem Fahrzeug verwachsen gewesen wie ein Weichtier mit seiner Schale. Und er hatte es gewaltsam herausgerissen und damit ebenso zum Tod verurteilt wie den anderen Arbeiter.
Er hatte zu wissen geglaubt, was zu tun war. Und damit alles nur schlimmer gemacht. Hastig sah sich Rhodan um. Vielleicht war es noch nicht zu spät. Vielleicht gab es noch etwas, das getan werden konnte.
»Hilfe!«, schrie er. Doch obwohl inzwischen andere Angehörige dieses Volkes ihre Arbeit niedergelegt und sich um den Unglücksort versammelt hatten – alle in ihren Fahrzeugen, wie er nun feststellte –, machte keiner von ihnen Anstalten, ihm irgendwie zu Hilfe zu eilen.
Rhodan drückte die Hände auf die Stellen des Fremdwesens, die am stärksten bluteten, aber die Wunden waren zu groß.
Das unbekannte Wesen röchelte noch einmal, schnappte nach Luft – und blieb regungslos liegen.
Das Bild verblasste. Rhodan sah auf seine Hände, an denen das Blut des Toten verschwand, als wäre es nie dort gewesen. Aus seinen Gedanken konnte er das Geschehene nicht so leicht verbannen. Ganz gleich, ob es nur eine Simulation gewesen war – er hatte versagt. Als Mensch ... und wohl auch als Prüfling, wie ihm gerade bewusst wurde.
Doch dann erschien ein weiteres Mal die Galaxis um ihn herum, und Rhodan runzelte die Stirn. Er hatte versagt! Begriff BARIL das nicht? Seinetwegen waren zwei Wesen gestorben statt nur einem ...
Nein, das stimmte nicht. Er hätte den Verlust halbieren können. Aber hätte er nichts getan, hätten dennoch beide den Tod gefunden.
War das der Ausgleich, den BARIL forderte? Einmal deeskalierte er eine Situation, und ein anderes Mal tat er nichts?
Sein Kopf schwirrte, aber der Test gönnte ihm keine Ruhe. Da er keine Anstalten machte, eine neue Welt auszuwählen, wurde die Wahl von irgendjemand anderem für ihn getroffen. Ein Sonnensystem rückte in seinen Fokus, und diesmal erkannte er es.
Nur, dass es nicht nach Yahouna gehörte. Das war das Solsystem! Woher kannten die Ritter seine Heimat? Konnten sie in seine Gedanken blicken, trotz seiner Mentalstabilisierung? Oder hatten sie Zugriff auf die Datenspeicher der SOL, was nicht minder problematisch gewesen wäre?
Die Simulation zog ihn näher an die Erde heran. An eine urtümliche Version davon, wie er nun feststellte. Saurier tummelten sich fröhlich auf den Kontinenten. Rhodan runzelte die Stirn. Was war das nun wieder? Eine Version von »Tritt in der Vergangenheit auf keinen Schmetterling«?
Entsprechend vorsichtig sah er sich um. Wie es schien, war er an einem Brutplatz gelandet. In dem sumpfigen Gewässer, an dessen Ufer er stand, schaufelten Oviraptoren eine schützende Erdschicht auf ihre Gelege.
Rhodan sah die Fürsorge, mit der sie das taten. Der Anblick rührte ihn – und zugleich machte er ihn nervös. Was würde BARILS Stimme ihm diesmal auftragen? Sich gegen einen Raubsaurier zu stellen, um die Gelege zu schützen? Zu entscheiden, welches Ei gefressen wurde und welches schlüpfen durfte?
Das Röhren eines Sauriers ließ ihn zusammenzucken. Er fuhr herum, bereit, sich dieser neuen Aufgabe zu stellen – aber es war nur ein Freudenruf. Die Eier knackten. Winzig kleine Lebewesen bahnten sich einen Weg in die Freiheit, ins Leben.
Was verlangte BARIL von ihm? Sollte er diesen Nachwuchs vernichten? Darauf konnte die Superintelligenz lange warten. Er war selbst Vater, auch wenn seine Kinder längst nicht mehr auf seinen Schutz angewiesen waren. Aber er würde keine unschuldigen Leben zerstören. Eher würde er es mit einem Tyrannosaurus aufnehmen, so aussichtslos das auch sein mochte. Er würde diese frisch geschlüpften Saurier beschützen.
Abrupt wurde er von der Erde ins All gerissen. Irritiert sah er sich um. Er befand sich nach wie vor im Solsystem, also war der Test wohl noch nicht vorüber. Er konnte die Erde sehen ... und einen gewaltigen Asteroiden dahinter.
Nein. Das ist nicht fair. Das kannst du nicht machen!
Und dennoch wusste er, dass er sein eben noch gegebenes Versprechen brechen musste. Der Asteroid hatte einen Durchmesser von mehr als zehn Kilometern, und er nahm Kurs auf die Erde. Rhodan wusste, dass er ihn aufhalten konnte. Er konnte aber auch die jungen Dinosaurier retten – und damit seine eigene Spezies zur Nichtexistenz verdammen.
Vielleicht würden andere Völker entstehen, die die Erde anstelle der Lemurer bevölkerten. Aber dann würde es niemals Menschen geben, niemals Siganesen, Ertruser, Epsaler; keine Akonen, keine Arkoniden, keine Tefroder.
Rhodan presste die Lippen zusammen. Er wollte sich abwenden, aber er konnte nicht. Das hatten die Saurierjungen nicht verdient.
Er schwebte im All, ein stummer Zeuge für eines der größten Massensterben auf seinem Heimatplaneten – und den Tod der winzigen Kreaturen, die sich eben erst einen Weg ins Leben erkämpft hatten.
Als sich diesmal die Yahounagalaxis um ihn formte, verspürte er eine seltsame Leere in sich. Wozu tat er das alles? Wieso ließ man ihn Szenarien durchleben, die er ohnehin nicht gewinnen konnte?
Und warum nahm ihn das alles so mit? Er hatte in seinem Leben schon viele Führungspositionen innegehabt und mehr als genug Schlachten angeführt, im Laufe von Jahrtausenden viele Leben beendet, weil er falsche Entscheidungen getroffen hatte. Oder auch richtige, oft genug spielte das keine Rolle. Die Schuldgefühle blieben.
Aber das war nun mal die Schattenseite einer Leitungsfunktion. Er trug die Verantwortung für die Leben, die er kommandierte. Manchmal bedeutete das, schuld an ihrem Tod zu sein. Es bedeutete jedoch auch die Gewissheit, dass man alles getan hatte, um sie zu retten. Rhodan hatte nicht darum gebeten, diese Rolle auszufüllen. Aber nun, da er es musste, tat er es verdammt noch mal mit allem, was dazugehörte.
Und im Augenblick gehörte dazu offensichtlich, dämliche Simulationen zu durchleben, um sein Raumschiff und seine Mannschaft zu retten.
Entschlossen griff Perry Rhodan nach dem nächsten Stern.