Читать книгу Niedergetrampelt von Einhörnern - Maelle Gavet - Страница 10

Einleitung

Оглавление

Ich bin zufällig in der Tech-Branche gelandet. Vor fast zwei Jahrzehnten, kurz nach meinem Bachelor-Abschluss in russischer Sprache und Literatur an der Sorbonne in Paris, schrieb ich mich an der ENS Fontenay-St-Cloud ein. Die Absolventen dieser Schule schlagen vielfach eine akademische Laufbahn ein oder klettern die Karriereleiter in Regierungskreisen nach oben. Das war nichts für mich. Also wechselte ich nach einigen Wochen an eine völlig andere Art von Schule: das IEP Paris, besser bekannt als Sciences Po. Mein neuer Studiengang erwies sich als Tor zu einer neuen Welt. Ich tauchte ein in die Welt der Geisteswissenschaften und kam mit Soziologie, Politikwissenschaft, Makro- und Mikroökonomie, Geschichte und so vielen anderen Dingen in Berührung. In vielerlei Hinsicht war es eine Landkarte der Welt.

Wohin mich dieser Weg führte? Überraschenderweise in Richtung Tech-Start-ups – vom Aufbau des »russischen Amazon« (Ozon.ru), über ein Online-Reisebüro und Restaurantreservierungssystem bei Booking.com, Priceline und OpenTable bis hin zu Compass, einem Pionier der Immobilien-Plattformen. Im Laufe der Jahre begegneten mir in der Tech-Welt (aber auch darüber hinaus) immer wieder Skeptiker, nach deren Meinung der einzige »praktische« Nutzen meines geisteswissenschaftlichen Hintergrunds darin bestand, dass er mich auf ein Leben voller Abende in Pariser Cafés mit existenziellen Diskussionen vorbereitete. Und nach deren Meinung es in Anbetracht des Fachgebiets, in dem ich letztlich gelandet bin, doch viel besser für mich gewesen wäre, wenn ich eine Ingenieur-nahe Ausbildung absolviert hätte. Dem widerspreche ich ausdrücklich. Wenn mich 15 Jahre in der Tech-Branche eines gelehrt haben, dann das: Je mehr sich ein Unternehmen auf Technologien verlässt, desto mehr braucht es Menschen, die neugierig auf die Welt um sich herum sind. Menschen, die sich intensiv mit der Vergangenheit befassen, um zu verhindern, dass sich Fehler wiederholen. Menschen, die sich in andere hineinversetzen können und verstehen, wie und warum jemand auf bestimmte Umstände und Veränderungen reagiert.

Im Laufe der Jahre reifte in mir die Überzeugung, dass wir Führungskräfte der Tech-Branche allzu oft analytische, technische und IQ-basierte Fähigkeiten überbewerten und weniger auf die soziale Vielfalt der emotionalen Intelligenz (EQ) achten. Wir neigen dazu, zu ignorieren, was die Geschichte uns gelehrt hat, blicken herab auf »Soft Skills« und Themen wie Philosophie, Soziologie und Literatur, weil sie keinen lösungsorientierten Ansatz bieten (zumindest in unseren Augen), und ja, jagen auch manchmal eher dem Geld hinterher als dem Wohlergehen der Menschheit. Allzu oft akzeptieren wir den Gedanken, dass das durch unsere Innovationen verursachte Leid der Menschen der Preis für den Fortschritt sei – statt im Vorfeld lange und gründlich darüber nachzudenken, wie die negativen Auswirkungen gänzlich vermieden werden könnten. Dieser unerschütterliche Glauben an die digitale Technologie, diese Blindheit gegenüber den enormen gesellschaftlichen Kosten im Namen der »Vision« und diese Gier sind verantwortlich für die von vielen unserer Unternehmen entwickelten Produkte. Sie nutzen die Schwächen der Menschen und unterwerfen sie der digitalen Technologie, was das Gegenteil von dem ist, was die meisten von uns beabsichtigten.

An dieser Stelle möchte ich festhalten, dass ich im Großen und Ganzen eine unerschütterliche Optimistin bin. Der technologische Fortschritt hat nahezu auf alle Bereiche positive Auswirkungen: auf unsere Art zu leben, zu arbeiten und unsere Freizeit zu verbringen. Dank maschineller Intelligenz stehen wir vor einer neuen Ära medizinischer Durchbrüche, selbstfahrende Fahrzeuge werden unsere Straßen sicherer machen (auch wenn sie andere Schäden verursachen), die Umweltverschmutzung wird geringer und Städte werden effizienter genutzt werden. Raumfahrt wird keine Science-Fiction mehr sein und allmählich wird der Mensch aufhören, monotone, entwürdigende und körperlich anstrengende Arbeiten selbst zu erledigen.

Allerdings haben digitale Technologien auch die Büchse der Pandora geöffnet - mit verheerenden Nebenwirkungen: Desinformation, Hass und Mobbing, katastrophale Verletzungen der Privatsphäre, durch die »Gig economy« entfesselte disruptive Zerstörungen, monopolistische Repressionen und mehr. Tech-Giganten wie Facebook, Apple, Google, Amazon, Alibaba, Uber, YouTube, Twitter, Airbnb und eine Handvoll anderer Einhörner stehen an einem Scheideweg, denn Nutzer blicken zunehmend besorgt auf diese Dinge. Verursachen sie weiterhin Chaos und übernehmen sie weiterhin keine moralische Verantwortung im unerbittlichen Streben nach Größe? Oder wagen sie einen Neustart und stellen Ethik und Empathie – definiert von einem britischen Unternehmen als »den emotionalen Einfluss eines Unternehmens auf sein Umfeld, Mitarbeiter und Kunden, sowie die Gesellschaft im Ganzen« – in den Mittelpunkt ihres Handelns?1

Während ich dies hier schreibe und COVID-19 einen großen Teil des Planeten in den Lockdown stürzt – und Amerika als eines der Coronavirus-Epizentren der Welt genannt wird –, offenbart sich das Beste und das Schlechteste der Tech-Branche zugleich. Einerseits wäre das Leben definitiv viel mühsamer ohne Amazon, das uns das Nötigste direkt vor die Haustür legt, ohne Zoom und Skype, um mit unseren Kollegen und Familien zu sprechen, und ohne Netflix für das Streamen von Fernsehprogrammen und Filmen. Andererseits konnte sich innerhalb weniger Minuten eine Flut an Fehlinformationen und manchmal auch gefährlichen Lügen über das Virus per Twitter, Facebook, YouTube etc. rund um den Globus ausbreiten. Einmal mehr offenbarte sich das existenzielle Risiko für Zusteller und Lagerarbeiter, die keinen angemessenen sozialen Schutz genießen und gezwungenermaßen ihre Jobs weiter machen mussten. Sie setzen ihr Leben aufs Spiel – um Essen auf den Tisch zu bringen.

Ich habe Niedergetrampelt von Einhörnern geschrieben, um all dies aufzudecken und aus meinem Blickwinkel darzulegen, wie viele der bekannten Branchenriesen moralische Grundsätze beiseitegeschoben und ihre ursprünglichen Ideale aufgegeben haben – als Preis für immer neue Innovationssprünge. Stattdessen haben sie Produkte entwickelt, ohne auf deren Auswirkung auf den Einzelnen und noch weniger auf deren soziale Konsequenzen zu achten. Niemand erwartet von Innovatoren, dass sie perfekt sind. Wenn man etwas Neues macht, macht man unweigerlich Fehler, auch große. Diese Unternehmen verschwiegen ihre Fehler jedoch oft und hörten auf, Fragen zu stellen, deren Beantwortung zu kompliziert oder unbequem war.

Basierend auf den Erfahrungen meiner Reise in wachstumsstarken Tech-Unternehmen quer durch Europa, Russland, Asien und den USA stellt dieses Buch meine persönliche Sicht auf die Fehlentwicklungen der Branchenriesen dar – diesem exklusiven Club aus Tech-Einhörnern, Dekahörnern, Hektohörnern und mittlerweile Billionen-Dollar schweren Unternehmen (für diese neuen Tierchen muss erst noch ein Name gefunden werden). Es sind Unternehmen, die zunehmend eine marktbeherrschende Rolle in ihrer jeweiligen Branche einnehmen. Und ich beschreibe aus meiner Sicht, warum unzählige der 47122 Einhörner der Welt (zum Zeitpunkt des Schreibens) – Tech-Konzerne mit jeweils einem Wert von über 1 Milliarde US-Dollar – jetzt in einem Kreuzfeuer der Kritik stehen, das sie selbst verursacht haben. Ich werde den Anfängen und den Auswirkungen dessen auf den Grund gehen, was ich als »Empathie-Defizit« der Tech-Branche bezeichne, und darlegen, dass viele der angesehensten Gründer und Unternehmer einige der wichtigsten Persönlichkeitsmerkmale mit Psychopathen teilen.3

Der erste Teil dieses Buches ist eine Bestandsaufnahme der aktuellen Situation und beschäftigt sich intensiv mit der Frage, wie es soweit kommen konnte. Einiges davon wird Ihnen äußerst vertraut vorkommen, insbesondere wenn Sie selbst einige Jahre in der Tech-Branche gearbeitet haben. Dennoch war ich bei der Recherche zu diesem Buch verblüfft über das Ausmaß und die Tiefe der Probleme meiner Branche – vor allem, als ich sie alle aneinanderreihte. Über die Anzahl der unausgesprochenen Zugeständnisse, die gemacht wurden und immer noch gemacht werden. Über die langfristigen Auswirkungen, mit denen wir uns nicht wirklich auseinandersetzen können, da wir viel zu sehr mit der Brandbekämpfung der dringlichsten Probleme beschäftigt sind.

Und am Ende, wenn man alles zusammengezählt hat, wird man unweigerlich mit einer Frage konfrontiert, die mir schon hunderte Male gestellt wurde, nachdem ich in einer Rede, einem Artikel oder einem privaten Gespräch den Umgang der Branche mit gesellschaftlichen Problemen kritisiert habe:4 »Ja, natürlich ist das schrecklich, aber wie unterscheidet sich das vom Schaden, den die Wall Street/Autogiganten/Öl-Multis/Lebensmittelindustrie/ ›XYZ‹ verursacht haben?« Die Antwort darauf ist eindeutig. Es ist anders. Keine andere Branche hat alle unsere Lebensbereiche so schnell, grundlegend und umfassend verändert. Keine andere Branche hat uns alle in einem solchen Ausmaß zu Opfern und Tätern gleichzeitig gemacht. Keine andere Branche hat neue Instrumente wie beispielweise KI entwickelt, die wir bereits wenige Jahre nach ihrer Einführung kaum noch kontrollieren können und die uns eines Tages wahrscheinlich eher ersetzen als ergänzen werden. Als Verfechterin der segensreichen Aspekte von Tech kann ich nicht die Probleme beschreiben, ohne gleichzeitig Lösungsansätze anzubieten, die einerseits der Allgemeinheit zugutekommen und andererseits die Unternehmen nachhaltiger aufstellen. In ihren Grundsätzen sind die Leitlinien für die dringend notwendige Transformation ziemlich einfach:

1 Tech-Giganten müssen endlich ihre außerordentliche Macht und die damit verbundene Verantwortung anerkennen. Es ist ziemlich heuchlerisch von Vertretern der Branche, erst auf den enormen Wandel hinzuweisen, den sie in der Welt bewirken können, dann aber ihren Einfluss kleinzureden oder sich vor ihm zu verstecken, sobald etwas schiefgeht. Führungskräfte und Lobbyisten sind schnell dabei, so genannte »unbeabsichtigte Folgen« potenzieller Vorschriften oder Gesetze anzuprangern. Sie sollten die gleichen Maßstäbe auch für ihre Produkte und Dienstleistungen ansetzen.

2 Top-Führungskräfte müssen ihre Firmen entschieden und klar auf ein Fundament stellen, das aus Werten wie Empathie und Menschlichkeit besteht. Wenn sie nicht wissen wie, müssen sie es lernen. Sie dürfen dieses Thema keinesfalls ihren Angestellten überlassen.

3 Diese Werte muss ein Unternehmen mit jeder Faser aufnehmen und sie müssen sich in jedem Prozess wiederfinden. Nicht nur einmal, durch Mottos oder Memos, sondern kontinuierlich Tag für Tag.

4 Die Art und Weise, wie Entscheidungen vielfach getroffen werden, muss sich ändern, ebenso wie derjenige, der sie trifft. Auch wenn dies bedeutet, dass Teile des Geschäftsmodells neu überdacht werden müssen.

5 Innovation ist hilfreich bei der Veränderung einer Unternehmenskultur, aber auch bei der Entwicklung von Produkten. Wäre es jetzt nicht an der Zeit, eine Disruption der Personalabteilungen einzuläuten?

Leider ist selbst die Summe dieser Maßnahmen nur die halbe Miete. Die andere Hälfte muss von Stakeholdern von außen kommen, weshalb ich im zweiten Teil dieses Buches Vorschläge für die unterschiedlichen Interessengruppen unterbreite. Sie haben das klare Ziel, Menschlichkeit wieder in den Mittelpunkt der Tech-Innovationen zu stellen.

Lassen Sie mich jetzt noch eine Einschränkung ergänzen: Ich beschreibe eine schnelllebige Materie, bei der Helden- wie Missetaten der Tech-Giganten oftmals den Weg in die tägliche Berichterstattung finden. Angesichts der Tatsache, dass zwischen der Fertigstellung eines Buches und seiner letztendlichen Veröffentlichung gewöhnlich mehrere Monate vergehen, ist es unvermeidlich, dass einige der aufgeführten Beispiele von aktuellen Ereignissen überholt wurden. Nichtsdestotrotz sind sie die Blaupause eines Verhaltensmusters und haben meine Sichtweise geprägt auf das, was getan werden muss, um diese Krise zu lösen – von den Tech-Giganten selbst, von den Behörden und von jedem von uns.

Während die Tech-Branche unerbittlich in undurchsichtige Bereiche vordringt, zum Beispiel selbstlernende Maschinen, droht die Chance zu verstreichen, das Ende einzuläuten von dem, was Apples Tim Cook einprägsam als »Chaos factory«5 der Branche bezeichnet hat. Der Handlungsdruck wird durch die COVID-19-Krise noch verstärkt. Sie bringt die Weltwirtschaft in Gefahr und bedroht die Lebensgrundlagen und den Lebensstandard vieler Millionen Menschen. Doch turbulente Zeiten bieten auch Chancen. Während das Virus wütet, zeigen viele der in diesem Buch besprochenen Tech-Giganten, dass sie durchaus Positives bewirken können. Sie haben jetzt die Chance, ihre Defizite auszugleichen und dieses Verhalten zur Norm zu machen.

Niedergetrampelt von Einhörnern

Подняться наверх