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2 Die Kulturblase
ОглавлениеBei einer Führung am Hauptsitz eines Tech-Riesen im Silicon Valley wurde ich begleitet von einem Kombucha-schlürfenden Senior Engineer, der wahrscheinlich ein jährliches Einkommen von mehreren Millionen Dollar (einschließlich Aktienoptionen) hat. Als wir an einer Büroküche vorbeikamen, deren Menge an Süßigkeiten es durchaus mit Charlie und die Schokoladenfabrik aufnehmen konnte, nahm unser Gespräch eine sehr seltsame Wendung. Er erklärte mir allen Ernstes, die über 30 verschiedenen, dort verfügbaren Snacks würden ihn »dick machen«. Als wir etwas später an einer der diversen Cafeterien auf dem Campus entlanggingen, sagte er mir ohne einen Hauch von Selbstreflexion, dass die vom Küchenchef in Restaurantqualität zubereiteten Mahlzeiten – ganztägig bis spät in den Abend auf Abruf verfügbar – »ein wenig eintönig seien«. Danach wechselte er das Thema.
Am meisten betroffen gemacht hat mich die unbekümmerte Wegwerfmentalität hinter diesen Aussagen – geäußert im Epizentrum der weltweiten Tech-Branche. Nur ein paar Blocks entfernt von Menschen, die nicht wissen, ob sie an diesem Tag überhaupt etwas zu Essen haben werden, in Bezirken, in denen erschütternde 27 Prozent der Bevölkerung in einer Studie als »nahrungsmittelunsicher«1 eingruppiert wurden. Sein gefühltes Recht auf kostenlose Süßigkeiten, Kartoffelchips und Gourmetspeisen war so unverfroren, dass er glaubte, sich darüber beschweren zu müssen (was, wie ich leider feststellen musste, bei Menschen, die noch nie ein anderes Arbeitsumfeld erlebt haben, recht häufig vorkommt). Im Laufe der Jahre als Führungskraft in der Tech-Branche sind mir ähnlich respektlose Klagen zu den befremdlichsten Themen begegnet, vom »Stresstest für den Bauchumfang« durch »Frozen Yogurt«-Flatrates über den »überfüllten Meditationsraum« bis hin zu der Frage, warum die diesjährige Gehaltserhöhung »nur« bei 10 Prozent läge (in einer Branche, in der das mittlere Gehalt bereits bei etwa 200 000 Dollar liegt).2 Es gibt sicherlich wenig, was den Unterschied zwischen dem »Leben im Schlaraffenland« der Angestellten vieler Tech-Einhörner (und tatsächlich auch kleinerer Firmen) und dem der großen Mehrheit noch deutlicher veranschaulichen könnte.
Der beispiellose Reichtum solcher Konzerne führt dazu, dass die Mitarbeiter in überprivilegierten Blasen leben und arbeiten, in denen auf jede Laune eingegangen und jeder Wunsch von den Augen abgelesen wird. Nach Recherchen, unter anderem von ABC News3 bietet beispielsweise Google nicht nur kostenlose Mahlzeiten in den mehr als 30 Kantinen am Stammsitz in Mountain View an (Mitbegründer Sergey Brin soll einmal gesagt haben: »Niemand sollte mehr als 60 m von etwas zu Essen entfernt sein.«), sondern es gibt auch Ruhebereiche, kostenlose Massagen und einen Concierge-Service im Stil eines Luxushotels für anstehende Botengänge. Berichten zufolge werden Airbnb-Mitarbeiter für ihre Freiwilligenarbeit bezahlt und können von diesen Einkünften bis zu 2000 Dollar jährlich für den Aufenthalt an einer der weltweit gelisteten Unterkünfte geltend machen. Mitarbeiter von Spotify können in ihrer Mittagspause umsonst Konzerte besuchen und erhalten bei Bedarf Unterstützung bei Kinderwunschbehandlungen (oder Geld, um ihre Eier einzufrieren, falls sie nicht vorhaben, in absehbarer Zeit eine Familie zu gründen). Das Biotech-Unternehmen Genentech bietet seinen Beschäftigten offenbar vor Ort Autowäschen, Haarschnitte, Wellnessanwendungen und sogar einen Zahnarzt. Stirbt ein Haustier, können Mitarbeiter bei VMware zwei Tage frei bekommen. Die Tatsache, dass COVID-19 zu einem deutlichen Anstieg des mobilen Arbeitens führte, wird wahrscheinlich in all diesen Unternehmen neue Vergünstigungen und Bonus-Leistungen hervorbringen.
Lassen Sie mich eines klarstellen: Ich habe weder ein Problem mit den Vergünstigungen noch mit den zusätzlichen Leistungen an sich. Die meisten sind höchst attraktiv, und in einer idealen Welt könnten alle Unternehmen Ähnliches anbieten - nicht nur finanzstarke Tech-Firmen. Ich selbst habe einige dieser gehalts-unabhängigen Anreize bei Compass unterstützt, vom kostenlosen Mittagessen bis hin zu längerem Mutter-/Vaterschaftsurlaub, kostenloser Gesundheitsfürsorge und Studienbeihilfen. Aber für die große Mehrheit der Unternehmen gehört dies ins Reich der Fantasie. Ich würde auch trotz der vielleicht undankbaren Adressaten das zugrundeliegende Prinzip nicht von vorneherein ablehnen. Die Vergünstigungen waren ursprünglich dazu gedacht, einige sehr spezifische Probleme zu lösen – von der Anwerbung und Bindung von Talenten bis hin zur Effizienz am Arbeitsplatz in einer explosionsartig wachsenden Branche. Allerdings hätten wahrscheinlich die wenigstens, die sich den Reigen an Bonusleistungen ausgedacht haben, mit einigen der exotischeren Modelle gerechnet, die wir heute sehen.
Die Meinungen gehen auseinander, wo genau diese Vergünstigungskultur ihren Ursprung hat. Eine sehr plausible Theorie besagt, dass das moderne Valley einfach die traditionelle Interpretation einer amerikanischen »Firmenstadt« übernommen hat. Der Gründer Milton Hershey baute beispielsweise um die Jahrhundertwende in Pennsylvania die Stadt Hershey für seine Schokoladenfabrikarbeiter - mit bezahlbarem Wohnraum, öffentlichen Schulen, Vereinen, einem Vergnügungspark und sogar einem Zoo.4 Man geht davon aus, dass die Vorteilskultur in ihrer jüngsten Form von Google eingeführt wurde – zumindest in der San Francisco Bay. Als die beiden Google-Gründer 1996 im Menlo Park in einem Forschungsprojekt ihre erste Suchmaschine Backrub entwarfen und entwickelten, waren Larry Page und Sergey Brin noch Doktoranden an der Universität Stanford. Anfang 20 und dem Campus-Kokon mit Schlafsaal, Wäscherei, Speisesaal und Gesundheitsdiensten auf Knopfdruck noch nicht ganz entronnen, ahmten sie letztendlich bei der Gründung ihres Unternehmens etwa zwei Jahre später5 die ihnen vertraute Welt nach. In den Folgejahren und insbesondere als der Risikokapitaldamm brach, floss das Geld in Strömen ins Silicon Valley. Unter den Start-ups entbrannte ein Kampf um die knappen und begehrten Ingenieurstalente, befeuert durch immer bessere Bonusleistungen und eine Vielfalt an Vergünstigungen.
Auch wenn diese Vergünstigungen in erster Linie dem »Kampf um Talente« dienten, könnte man ihnen jedoch auch noch einen ganz anderen, verhängnisvolleren Zweck unterstellen. Laut Richard Walker, emeritierter Professor für Geografie an der University of California, Berkeley und erfahrener Valley-Beobachter, sollten die Menschen durch »all diese tollen Dinge am Arbeitsplatz« dazu verleitet werden, im Büro zu bleiben. Und sie sollten produktiv bleiben. »Wenn man keine Besorgungen machen muss und sogar Kinderbetreuung bekommen kann, dann macht man einfach all diese Überstunden, was ohnehin schon seit sehr langer Zeit gängige Arbeitskultur ist«, sagt er. »Gewissermaßen ist es auch Überwachung, denn sie können dich jede Minute des Tages im Auge behalten.«
Darüber hinaus führte dieser Trend laut Professor Walker zur Stärkung einer »sehr männlichen«, fast infantilisierten Kultur. »Indem man die Jungs in diesem kleinen Kokon oder Schoß beherbergt, fördert man quasi die Einstellung der jungen Männer, dass sich Mama ja um alles kümmert; wie von Zauberhand erscheint das Essen, und ›Wenn meine Süßigkeiten nicht da sind, hat Mama bestimmt vergessen, sie zu besorgen!‹«
Er fährt fort: »Im späten 19. Jahrhundert sieht man, wie die Bourgeoisie versucht, über die von Dickens propagierte Enthaltsamkeit, Sparsamkeit und harte Arbeit hinauszukommen in eine Lebenskultur, die Freizeit zulässt, den Zugang zur freien Natur und den Genuss von Kultur fördert und so weiter. Aber mittlerweile ist das Ganze ausgeufert zu einem ›Wo verdammt ist mein Schokoriegel?‹. Es ist eine Art reductio ad absurdum der Bedürfnisbefriedigung der Menschen. Aber es geschieht durch Dinge, die ohne Anstrengung einfach wie durch Zauberhand auftauchen. Wenn nicht von Mama, dann vom Arbeitgeber, vom Markt oder von Amazon Prime oder von irgend jemand anderem.«
Das Karussell an Vergünstigungen, das viele Tech-Einhörnern anbieten, vergiftet diese Lebenseinstellung zusätzlich. Deano Roberts war bis vor kurzem VP Global Workplace and Real Estate beim Software-Einhorn Slack und hat jetzt eine ähnliche Rolle bei Samsara inne. Er sagt, das Valley habe einen grundlegenden Fehler begangen, als die Grenze überschritten wurde zwischen der Förderung des Wohlergehens der Arbeitnehmer und der Schaffung eines Gefühls der Anspruchsberechtigung und der Abschottung der Tech-Arbeiter von der umgebenden Gemeinschaft. Roberts, ein Veteran der U.S. Army und immer noch Oberst in der Army-Reserve, erklärt, dass den Slack-Mitarbeitern nur »ein oder zwei« kostenlose Mahlzeiten pro Woche angeboten werden, vorrangig als Team-Building-Maßnahme. »Ansonsten sagen wir zu unseren Mitarbeitern: ›Wir bezahlen euch gut! Ihr müsst rauskommen aus diesem Gebäude! Gebt Euer Geld in den Tante-Emma-Läden in der Gegend aus. Hier gibt es tolle Restaurants, geht raus und seid Teil der Gemeinschaft.‹ Das hilft nicht nur ihnen, sondern es ist besser für uns alle.«
Vergünstigungen seien bestimmt nicht der ausschlaggebende Grund dafür, warum man einen Job macht, meint Roberts weiter. »Keiner wird sagen: ›Mann, ich hasse meinen Job und meinen Chef wirklich, aber am Donnerstag bekomme ich kostenlose Rippchen.‹ Also ja, ich bin der Meinung, das Valley hat das falsch verstanden – ich glaube auch, es ist beleidigend für die Mitarbeiter. Und ich denke nicht, dass es nachhaltig ist. Es schafft eine ungesunde Kulturblase, weil man buchstäblich aus dem Fenster auf Leute schaut, die alle diese Vorteile nicht haben.«
Ozon hat in Russland nie an dieser Front gekämpft – obwohl das Werben um Mitarbeiter im Wettstreit mit Yandex, Google und anderen sicherlich einfacher gewesen wäre, hätten wir es gekonnt. Allerdings hatte ich Führungs- oder Beraterrollen in einigen Unternehmen inne, die sich durchaus an diesem Ansatz zur Talentakquise und -bindung ohne Rücksicht auf Verluste beteiligt haben. Viele Beschäftigte in der Tech-Branche sind dadurch weitgehend vom Leben der überwältigenden Mehrheit der Bevölkerung isoliert. Dies fördert die kaltherzige Einstellung, dass die, die kämpfen und keinen Anteil am »Kopfgeld«erhalten, irgendwie ihres eigenen Glückes Schmied sind und einfach »aufhören sollten, sich zu beschweren«, »bessere Entscheidungen treffen« oder »härter arbeiten« sollten.