Читать книгу Hexenjunge - Maj Bylock - Страница 4
2
ОглавлениеAnneli kann den kleinen Körper gerade noch erblicken, ehe er in der weißen Gischt verschwindet. Sie schreit ihre Angst heraus. Von allem auf Erden ist ihr der Junge das Liebste, lieber noch als Bengt. Dennoch steht sie völlig erstarrt. Die Beine wollen sie nicht tragen. Jetzt ist er fort!
Da sieht sie den Wolf. Er steht auf einem Felsen mitten im Fall. Mit seinen scharfen Zähnen packt er das Hemd des Jungen und hebt ihn aus dem Wasser. Trägt ihn durch den reißenden Strom und legt ihn behutsam auf das weiche Gras am Ufer.
Ganz still steht Anneli und schaut. Fühlt den Schrecken und die Erstarrung verschwinden und Dankbarkeit und Wärme ihren Platz einnehmen. Ruhig geht sie den Hang hinunter zu ihrem Kind.
Der Wolf ist ihr Freund. Der Wolf mit den gütigen Augen und dem zerrissenen Ohr.
Der Junge sieht seine Mutter groß an und verkriecht sich still in ihre Arme. Sein Herz pocht, doch nicht schneller als sonst. Sie singt und wiegt ihn, bis er einschläft.
Er ist zu klein, um sich an die Begegnung mit dem grauen Wolf zu erinnern – glaubt sie! Doch sie selbst wird nie das erste Mal vergessen, als ihr der Wolf geholfen hat. Damals war sie erst zehn Jahre alt. Sie schließt die Augen und träumt sich zurück.
Anneli hatte Vater versprochen, nach dem kleinen Bruder zu sehen, Vaters Lieblingskind. Doch sie war hungrig und rote Walderdbeeren lockten sie vom Häuschen fort. Dort oben stoben Funken aus dem Feuer und zündeten die Wolle in Mutters Spankorb an.
Als der Rauch bis zu Anneli am Erdbeerhang drang, sah sie Vaters strenges Gesicht über sich am Himmel. Wie wahnsinnig vor Angst rannte sie los, nicht zum Häuschen hinauf. Nein, fort! Geradewegs in den Wald hinein.
Alles, woran sie sich später erinnerte, war, dass ein Wolf mit gütigen Augen und zerrissenem Ohr sie forttrug. Sie ritt auf dem Rücken des Wolfes und erst im Häuschen der alten Ylva kam sie zu sich.
Ylva war ein Kräuterweiblein und gewohnt zu helfen. Sie nahm sich des kleinen Mädchens an, das nicht einmal mehr seinen Namen wusste. Und Ylva lehrte sie lesen aus einem großen, schwarzen Zauberbuch. Sie lehrte das Mädchen auch, Kranke zu heilen.
Später wurde Ylva als Hexe verurteilt. Doch ehe sie starb, ließ sie ihre Heilkraft auf das Mädchen übergehen.
Die Leute in der Gegend glaubten, Anneli sei die Tochter der Hexe, und sie musste fliehen. Eines Tages kam sie zurück zu dem Haus, in dem sie als Kind gelebt hatte. Zuerst wusste sie nicht, wo sie sich befand, doch dann erinnerte sie sich.
Sie erinnerte sich an den Brand, die Eltern, die Geschwister. Und an ihren Namen ... Sie hieß Anneli!
Anneli hätte dort bleiben wollen, doch die Furcht trieb sie weiter. Sie machte sich auf in die Stadt. Unterwegs dorthin traf sie Bengt und verliebte sich. Bengt gab ihr Sicherheit und er wollte sie heiraten.
Doch Gertrud, Bengts Mutter, wurde zornig. Sie hatte eine andere Braut für ihn auserwählt. Eines Nachts, kurz vor der Hochzeit, schlich sie sich auf den Dachboden hinauf. Dort fand sie das Zauberbuch in dem Bündel, das Anneli versteckt hatte.
Sie weckte Anneli und drohte, wenn sie nicht sofort verschwände, würde sie Bengt erzählen, dass Anneli eine Hexe sei.
Ich habe selbst geglaubt, ich sei eine Hexe, denkt Anneli. Und deshalb bin ich noch einmal geflohen, obgleich ich wusste, dass ich ein Kind erwartete.
»Dich«, flüstert sie und schließt die Arme noch fester um den Jungen. Es fehlte nicht viel und ich hätte mich in den Fluss geworfen. Aber der Wolf stand da, damals wie heute. Er sagte mir, das, was ich bei Ylva gelernt habe, sei gut und nicht böse.
Ich ging in die Stadt und gebar den Jungen, denkt sie weiter. Doch die ganze Zeit sehnte ich mich nach Bengt. Schließlich ging ich zurück und erzählte ihm alles. Dennoch bat er uns, hier auf dem Hof zu bleiben.
Sie erhebt sich. Da wacht der Junge auf. Er zeigt eifrig auf das Wasser hinaus.
»Wauwau!«
Dann kann er sich doch an den Wolf erinnern, denkt Anneli.
In ihrem Innern weiß sie, dass der Wolf mit der alten Ylva zu tun hat. Jetzt weiß sie auch, dass Ylva den Jungen unter ihren Schutz genommen hat.
Bebend fragt sie sich, ob der Junge auch Ylvas Kraft und Wissen erben wird, so wie sie es getan hat.