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Rudi hatte mir eine lange Liste mitgegeben mit Dingen, die ich zu erledigen hatte, bevor ich Flugstunden nehmen durfte. Was man nicht alles brauchte für so eine Pilotenlizenz! Als Erstes benötigte ich ein polizeiliches Führungszeugnis. Das sollte wohl kein Problem sein, denn ich hatte mir nie etwas zuschulden kommen lassen. Außerdem musste ich einen Auszug der Punkte aus Flensburg beantragen. Ein paarmal Falschparken war keine Hürde, wie Rudi mir versichert hatte. Und dass ich einmal vor vielen Jahren aus einer Unaufmerksamkeit heraus an einem Stoppschild die Stoßstange meines Vordermanns touchiert hatte, auch nicht.

Dann musste ich einen Erste-Hilfe-Kurs gemacht haben und nicht einmal das stellte ein Problem dar. Schließlich hatte ich erst neulich einen Auffrischungskurs gemacht – wegen der Defibrillatoren, die inzwischen überall herumhingen. Man wusste ja nie, ob man die irgendwann mal anwenden musste.

Unruhige Nächte bereitete mir letztendlich nur der Termin beim Fliegerarzt. Was, wenn sie irgendetwas fanden, von dem selbst mein Hausarzt noch nichts wusste? Ach, sagte ich mir immer wieder, dann machte ich halt ab und zu einen Rundflug mit Rudi. Aber ärgern würde es mich doch – jetzt, wo ich Blut geleckt hatte. Um meine Nerven noch weiter zu strapazieren, dauerte es anderthalb Wochen bis zu meinem Termin bei diesem Fliegerarzt.

Mein Sohn regierte etwas ungehalten, als ich ihm eröffnete, dass ich meine Enkelkinder am kommenden Mittwoch nicht aus dem Kindergarten abholen könnte.

»Nicht? Wieso?«, meinte Carsten. »Wer soll denn dann die Kinder vom Kindergarten abholen?«

»Vielleicht Thea, Felicitas’ Mutter? Oder Felicitas selbst? Ausnahmsweise?«

»Aber wieso hast du keine Zeit?«

Ja, ich hatte immer Zeit. Ich seufzte. »Ich habe einen Arzttermin.«

»Was? Oh, ist mit dir alles in Ordnung?«, wollte Carsten wissen. Nun wirkte er nicht mehr ganz so mürrisch, sondern sah mich fast etwas besorgt an. »Müssen wir uns Sorgen machen, Mama?«

Ob er bei der Frage nur befürchtete, dass ich länger als Enkelkinder-Hüterin ausfallen könnte? Oder machte er sich ernsthafte Sorgen um mich? Ich tätschelte seinen Arm. »Keine Sorge, mein Sohn. Nur ein Kontrolltermin. Reine Routine.« Und das war nicht einmal gelogen.

»Na gut, dann frage ich mal meine Schwiegermutter. Vielleicht hat Thea Zeit, die beiden abzuholen.«

Und sonst müsste sie vielleicht einfach einmal ihren Frisörtermin oder eine ihrer Wellness-Mani-Pediküre-Sitzungen absagen, dachte ich, sagte aber nur: »Oder ihr macht mal einen Tag Urlaub. Würde euch auch guttun.«

Carstens finsterem Blick nach zu urteilen, war das jedoch keine Option.

War ich aufgeregt! Am Vorabend des Arzttermins hatte ich sicherheitshalber auf mein Glas Rotwein verzichtet und war früh zu Bett gegangen. Doch ich konnte in der Nacht kaum ein Auge zu tun. Ich hatte vorab online einen Fragebogen ausgefüllt und festgestellt, dass ich doch noch eine recht rüstige Oma war, wenn es um Vorerkrankungen und dergleichen ging.

»Guten Tag, Frau Linde«, begrüßte mich der Arzt am Mittwoch. Er schüttelte mir freundlich die Hand und lächelte mir aufmunternd zu. Langsam ließ meine Aufregung nach. Er hatte seine modern eingerichtete Praxis Richtung Nürnberg. Ich war zeitig mit dem Auto aufgebrochen und hatte eine geschlagene halbe Stunde im Wartezimmer gesessen, weil ich so früh da war. »Ich sehe, es handelt sich um eine Erstausstellung? Was für eine Lizenz möchten Sie denn machen?«, fragte er interessiert.

»Ähm, eine Sportpilotenlizenz«, antwortete ich.

»Ah, sehr schön. Man ist nie zu alt für schöne Hobbys.«

Ich fixierte ihn grimmig, schluckte meinen Kommentar jedoch hinunter. Meiner Meinung nach war er sogar älter als ich. Doch ich konnte es mir sicher nicht leisten, ihn zu verärgern – schließlich wollte ich mein Tauglichkeitsdingsbums von ihm bekommen. In aller Ruhe ging er mit mir den Fragebogen durch, den ich vorab ausgefüllt hatte. Vorerkrankungen – sowohl meine als auch die meiner Eltern. Ich hatte lange überlegen müssen, was sie alles an Krankheiten gehabt hatten. Fragen konnte ich sie nicht mehr, denn mein Vater war bereits vor 20 Jahren einem Herzinfarkt erlegen und meine Mutter vor einigen Jahren an Krebs gestorben. Sie hatte geraucht wie ein Schlot. Anscheinend hatte ich dennoch nichts, das dem Arzt irgendwelche Sorgen bereitete. Er horchte mich ab, ließ mich im Zimmer auf und ab gehen und sagte dann: »So, Frau Linde, dann gehen Sie jetzt mit meiner reizenden Kollegin ins Nebenzimmer. Dort wird sie Ihnen Blut abnehmen und Ihren Blutdruck messen. Seh- und Hörtest folgen dann auch noch. Melanie?«, rief er nach seiner Assistentin. Ich folgte ihr nach nebenan und die Aufregung stieg wieder. Was, wenn ich jetzt doch Bluthochdruck hatte – so wie Helmut? Oder schlecht hörte?

Die Dame in Weiß lächelte mich freundlich an, bat mich, auf der Liege Platz zu nehmen und begann, alles für eine Blutabnahme vorzubereiten. Ich schaute lieber weg, denn ich wusste, was jetzt kam. »Hm«, machte sie verwundert und stocherte mit ihrer Kanüle in meiner Armbeuge herum. »Ihre Venen sind aber scheu«, sagte sie und kicherte unsicher.

»Ja, ich weiß«, erwiderte ich und biss wieder die Zähne zusammen, während ich das abstrakte Gemälde an der gegenüberliegenden Wand begutachtete.

Irgendwann rief die Dame, die Melanie hieß: »Jetzt aber!«

Ich schielte vorsichtig zu meinem linken Arm. Sie hatte es tatsächlich geschafft, meiner Vene etwas Blut zu entlocken und drückte nun einen Tupfer in meine Armbeuge. »Hier, drücken Sie da mal kräftig drauf, damit es nicht nachblutet.«

Ich nickte und drückte kräftig, nur kurz davon unterbrochen, dass sie mir die Blutdruckmanschette über den rechten Arm streifte. Dann startete sie die Messung. Es war ein vollautomatisches Gerät. Als ich noch als Arzthelferin gearbeitet hatte, hatten wir solche Geräte nicht in der Praxis gehabt. Aber das war ja auch lange her. Ich hatte meine Arbeit aufgegeben, als Tobias zur Welt kam. Bevor ich wieder an einen Wiedereinstieg gedacht hatte, fing ich an, meine Eltern und Schwiegereltern zu pflegen. Und als ich letztes Jahr angefragt hatte, gab es in meiner alten Praxis keine Verwendung mehr für mich und in anderen umliegenden Praxen auch nicht. Mein ehemaliger Chef, selbst kurz vor der Rente, hatte mir doch tatsächlich erklärt, ich sei zu alt für einen Wiedereinstieg. Was sich alles geändert hätte, könne ich kaum nachholen. Wütend, ob der Erinnerung, drückte ich den Tupfer fester in meine Armbeuge, bis ich spürte, wie sich die Manschette immer enger um meinen Oberarm presste. Vielleicht sollte ich den Arm nicht so anspannen?

»Seltsam. Das sind aber komische Werte.« Melanie schüttelte verwundert den Kopf und begann eine neue Messung.

»Vielleicht stört es die Messung, dass ich gerade den Arm anspanne?«, fragte ich, nachdem auch die zweite Messung seltsame Werte ergeben hatte.

»Oh«, entgegnete sie. »Ja, das könnte es sein.« Sie stand auf, räumte das Gerät beiseite und klebte mir ein Pflaster in die Armbeuge. Die tat schon jetzt ordentlich weh. »Kommen Sie mal mit, wir machen jetzt einen Hörtest.«

Ich folgte ihr in einen kleinen Kabuff. Dort bekam ich einen Kopfhörer und einen Piepser, den ich drücken sollte, sobald ich einen Ton hörte. Dann verließ sie den Raum. Ich blieb allein zurück und lauschte gespannt. Nicht, dass sie dachte, ich wäre schwerhörig! Doch im Kopfhörer war nichts zu hören. Stattdessen konnte ich den Gesprächen an der Anmeldung, draußen auf dem Flur, folgen. Erst dachte ich, sie hätte mich hier in meinem Kabuff vergessen, doch dann merkte ich, dass längst ein leises Pfeifen in meinem rechten Ohr erschienen war. Es hörte sich gar nicht wie ein Ton an, es war eher wie ein Gefühl. Komisch, dachte ich und drückte sicherheitshalber auf den Knopf. Danach war es wieder still – zumindest in meinem Kopfhörer. Ich schloss die Augen und versuchte, die Hintergrundgeräusche von der Anmeldung auszublenden. Bald ertönte ein neues leises Pfeifen. Irgendwann erschien die Assistentin des Fliegerarztes und befreite mich von dem Kopfhörer.

»Prima«, sagte sie. »Dann machen wir jetzt noch einen Sehtest und dann haben Sie das Abschlussgespräch beim Doktor.«

»Frau Linde«, sagte der Arzt eine halbe Stunde später, während er mit ernster Miene durch meine Unterlagen ging. Ich starrte ihn an. Das war es dann wohl mit dem Traum vom Fliegen. »Machen Sie eigentlich Sport?«

Ich schüttelte den Kopf. »Nein. Außer, dass ich mit dem Rad zum Einkaufen fahre. Und ich gehe viel spazieren – mit meinen Enkelkindern. Außerdem ist da ja noch der Garten. Und am Wochenende wandere ich ab und zu mit meiner Freundin, hier in der Gegend – aber ganz gemütlich.«

»Das merkt man«, erwiderte er. Was meinte er damit? Dass ich mich zumindest ein wenig bewegte? Oder dass ich keinen Sport machte? »Für Ihr Alter sind Sie wirklich gut in Form«, ergänzte mein Gegenüber und tippte irgendetwas in seinen Computer. Wütend funkelte ich ihn an. Für mein Alter, was sollte das denn heißen? Ich überlegte gerade, was für eine Nettigkeit ich ihm an den Kopf werfen könnte – von wegen Alter und so – da riss er mich aus meinen Gedanken. »Nur Ihre Brille«, fuhr er fort, »die wird wahrscheinlich nicht mehr ewig reichen in der Sehstärke. Haben Sie eine Ersatzbrille? Oder eine Sonnenbrille in Ihrer Sehstärke?«

»Ja«, sagte ich zögernd.

»In Ordnung. Sonst hätte ich gesagt, dass Sie sich eine neue anfertigen lassen und diese hier …« Er deutete auf meine jetzige Brille. »… als Ersatz mit sich führen, wenn Sie in der Luft sind. Sie müssen nämlich immer eine Ersatzbrille bei sich führen, wenn Sie fliegen. Das trage ich auch so in Ihr Tauglichkeitszeugnis ein.«

»In mein Tauglichkeitszeugnis?«, wiederholte ich mit erhobenen Augenbrauen.

»Ja, ich drucke es Ihnen gleich aus und dann können Sie loslegen. Viel Spaß beim Fliegen.« Mit diesen Worten stand er auf, holte einen Papierwisch aus seinem Drucker, unterschrieb in typischer Arztmanier und drückte mir das Dokument in die Hand. Vollkommen verdattert gab ich ihm die Hand zum Abschied und ließ mich von ihm aus dem Zimmer schieben.

Als ich im Freien stand, musste ich erst einmal Rudi anrufen. Ich war immer noch ganz geplättet und suchte mit zitternden Fingern auf meinem Telefon nach seiner Nummer.

»Rudi? Ich habe gerade mein Tauglichkeitsdingsbums bekommen«, rief ich in mein Handy.

»Rosa? Hallo. Na, das freut mich ja. Heißt das, du möchtest die erste Flugstunde ausmachen?«

»Oh ja. Ich bin schon ganz aufgeregt.«

»Wann kannst du denn?«

»Fast immer!«

Rudi lachte. »Morgen Vormittag? Oder ist dir das zu plötzlich?«

»Oh, ähm«, murmelte ich. »Ich habe die anderen Unterlagen noch nicht.«

»Aber beantragt hast du alles?«

Ich nickte.

»Rosa?«

»Entschuldigung. Ja, habe ich«, sagte ich.

»Na, dann ist doch alles in Ordnung. Pack deine Papiere zusammen und dann sehen wir uns morgen um 9 Uhr am Flugplatz. Ja?«

Ich nickte wieder, doch diesmal fiel mir früher ein, dass Rudi mich ja gar nicht sehen konnte. »Ja, danke! Ich freue mich so, ich werde bestimmt kein Auge zutun heute Nacht!«

Jetzt musste ich das nur noch meinen Kindern beibringen. Die würden Augen machen – und Leni und Moni erst. Aber vielleicht sollte ich die ersten Flugstunden noch abwarten? Vielleicht war es ja am Ende doch nichts für mich. Wozu unnötig die Pferde scheu machen?

Rosa startet gegen den Wind

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