Читать книгу Rosa startet gegen den Wind - Maja Christ - Страница 6

2

Оглавление

»Oma, jetzt gehen wir zum Spielplatz!«, rief Anna-Sophia eine Stunde später. Ich hatte meine Enkelkinder vom Kindergarten abgeholt und den beiden ihr Essen serviert. Gerade hatte meine fünfjährige Enkelin ihren Kloß verputzt. Sie wischte sich die feinen, hellbraunen Haare aus dem Gesicht, die sich mal wieder aus dem Haarband gelöst hatten, schob den Kinderstuhl nach hinten und stand auf.

»Ja!«, rief auch Finn-Lukas, ihr drei Jahre jüngerer Bruder. »Spieli gehen!« Er wollte schon aus seinem Kinderstuhl klettern, doch ich hielt ihn zurück. Finni, wie ich den kleinen Blondschopf nannte, hatte erst einen oder zwei Bissen gegessen und würde in einer halben Stunde wieder Hunger bekommen, wenn er jetzt nicht noch eine Kleinigkeit zu sich nahm. Finni plus Hunger war eine sehr explosive Mischung, die er von seinem Vater geerbt hatte. Auf das Geschrei, nachher im Park, konnte ich gut verzichten.

»Kinder, wartet mal«, erklärte ich daher. »Anna, dein Bruder ist noch nicht fertig, gedulde dich einen Moment und setz dich bitte wieder hin. Und du, Finni, iss noch etwas. Komm …« Ich hielt ihm die Gabel mit einem Stück Kloß hin, doch er presste die Lippen aufeinander, schüttelte den Kopf und versuchte erneut, aufzustehen.

»Satt!«, sagte er entschieden. Als ich es noch einmal probierte, schrie er lauthals »NEIN, OMA!!! FINNI SATT!!!«, und stieß meine Hand zur Seite, wodurch etwas Soße auf den Tisch spritzte.

Einmal tief durchatmend stand ich auf, um einen Lappen zu holen. Als ich mich umdrehte, waren beide Enkel bereits im Flur und zogen sich ihre Schuhe an. Kurz überlegte ich, ob ich Finni die Schuhe wieder ausziehen sollte, weil er rechts und links vertauscht hatte, beschloss aber, es nicht zu tun. Erstens fand ich es pädagogisch besser, ihm das Erfolgserlebnis zu lassen – immerhin hatte er sich seine Schuhe ganz allein angezogen. Und zweitens hatte ich gerade keine Lust auf das Gebrüll, das in dem Fall drohte. Ich sah es genau vor mir, wie er sich, aus Trotz brüllend, splitterfasernackt ausziehen würde, während seine Schwester heulend auf die Straße rannte, um zum Spielplatz zu kommen. Vielleicht konnte ich ihm die Schuhe im Park ausziehen. Der Sand war sicher schon warm genug, um ein wenig barfuß darin herumzutollen.

Auf dem Spielplatz am Alterlanger See war bereits einiges los. Kinder tobten kreischend durch den Sand und über die Klettergerüste, Mütter saßen plappernd, mit einem Coffee to go-Becher in der Hand, auf den Bänken oder rannten ihren Sprösslingen hinterher, die sich zu nahe an den naheliegenden See gewagt hatten. Glücklicherweise konnten wir zwei freie Schaukeln nebeneinander ergattern, denn beide Kinder wollten von ihrer Oma angeschubst werden.

»Schneller, Oma«, riefen meine Enkelkinder.

Mein Telefon klingelte.

»Ich muss da kurz rangehen, Kinder«, sagte ich, trat einen Schritt zurück und angelte mein Handy aus der Tasche.

»Rosa!«, flötete meine Schwiegertochter in mein Ohr.

»Hallo, Felicitas«, entgegnete ich. »Wir sind gerade auf dem Spielplatz.«

»Ah, das ist gut«, entgegnete sie. »Haben die Kinder ihre Sonnenhüte auf und hast du sie noch einmal eingecremt?«

»Ja, alles gut«, sagte ich und hob Finnis Sonnenhut auf, den er auf den Boden geworfen hatte, als ich ihn auf die Schaukel gehoben hatte.

»Oma, mehr Schwung!«, rief Anna.

»Gleich, Anna!«, rief ich zurück. »Das ist eure Mutter!«

»Also, Rosa, ich wollte nur Bescheid geben, dass es bei mir eine halbe Stunde später werden könnte. Ich habe noch ein wichtiges Meeting.«

Ich sah auf meine Armbanduhr. Eigentlich hätte ich um drei Uhr Feierabend gehabt. Doch ich hatte ja nichts weiter vor. »Ja, in Ordnung«, sagte ich. »Kommst du dann zum Spielplatz, um sie abzuholen?«

»OMA!! MEHR SCHWUNG!«, schrie Anna. Ihr Bruder stimmte lauthals mit ein.

»Es könnte auch eine Stunde werden«, entgegnete Felicitas.

»Oh, okay.«

»Carsten holt sie nachher bei dir ab, in Ordnung?«

Ich seufzte. »Ja, in Ordnung.«

»Danke, du bist ein Schatz«, trällerte meine Schwiegertochter in den Hörer. Ich wollte das Gespräch schon wegdrücken, da rief sie noch: »Du, Rosa, verwöhn sie nicht so! Hörst du?«

»OMA!«, schrie Anna.

Kopfschüttelnd verstaute ich das Handy in meiner Tasche und entgegnete: »Wie heißt das?«

»OMA, HUNGER!«, schrie nun Finni.

Ich seufzte. Hatte ich es nicht kommen sehen? »Sollen wir zu Hause eine Brotzeit machen, Kinder?«

***

»Mama, du sollst doch die Kinder nicht so verwöhnen.« Carsten ließ seinen Blick kopfschüttelnd über die Essensreste der Brotzeit auf dem Wohnzimmertisch schweifen. »Jetzt haben sie heute Abend keinen Hunger mehr.«

Ich deutete auf die Uhr auf der Anrichte. »Carsten, es ist Abend. Und dein Sohn hat mir die ganze Zeit die Ohren vollgeschrien, weil er Hunger hatte.«

»Dann muss er mittags mehr essen, Mama«, erwiderte mein Sohn. Er war seinem Vater inzwischen wie aus dem Gesicht geschnitten. Braune Haare, die hellbraunen Augen hinter einer dezenten Brille. Mit seinen 1,85 Metern war er zwar, wie auch sein Bruder, deutlich größer als Helmut, dafür aber genauso übellaunig, wenn etwas nicht nach seiner Nase lief.

Ich starrte Carsten an, atmete einmal tief durch und antwortete: »Ach so, ja. Danke für den Hinweis.«

»Warum bist du denn so gereizt? Du hattest doch einen schönen Tag im Park, hast ein bisschen mit deinen Enkelkindern gespielt und – hattest du nicht heute Morgen sogar den Stricktreff mit Moni und Leni?«, zählte mir mein Sohn meine Vergnügungen des Tages auf. »Alles, worum wir dich bitten, ist, dass du den Kindern Grenzen setzt und sie nicht so verwöhnst. Sonst haben wir hinterher den Schlamassel damit – Felicitas und ich.«

Wie bitte? Ich hatte mich wohl verhört. »Wer bitte setzt den Kindern denn keine Grenzen?«

»Mama, was soll das? Wenn ich von der Arbeit komme, habe ich keine Nerven dafür, die ganze Zeit mit den Kindern zu diskutieren, und mit dir auch nicht.«

Tobias’ blonder Haarschopf erschien im Türrahmen. Er war ebenfalls vor Kurzem ins Haus gekommen und sofort in der Küche verschwunden. »Mama, wo ist denn mein Essen?«

»In der Küche, mein Sohn.«

»Nee, da sind nur Klöße mit Soße. Und mein Schnitzel?«

Das hatte ich vergessen bei dem ganzen mittäglichen Trubel.

»Oh, Mama«, maulte Sohn zwei. »Du weißt doch, dass mir Klöße allein nicht reichen. Ich brauche mein Schnitzel.«

»Dann mach dir halt eins, Tobias«, entgegnete ich.

»Ich komme gerade von der Arbeit!«, empörte er sich.

»Ja, ich auch!«, sagte ich, jetzt schon etwas gereizter.

»Du warst im Park, Mama!«, schaltete Carsten sich ein.

Ich starrte ihn an und sagte: »Mit deinen Kindern. Das ist Arbeit.«

»Das ist Freizeit!«, erwiderte Carsten.

»Und Kochen entspannt doch total«, ergänzte Tobias nachdrücklich.

»Ja, prima, dann könnt ihr euch jetzt auch entspannen«, sagte ich nun sichtlich aufgebracht. »Tobias – das Fleisch findest du im Kühlschrank, du musst es dir nur noch panieren, wenn du möchtest, und dann anbraten. Carsten – deine Kinder sind in deinem Kinderzimmer und bewerfen sich vermutlich gerade mit Legosteinen. Die musst du nur noch einsammeln.«

»Mama! Jetzt hab dich doch nicht so!«, riefen meine Söhne im Chor.

Ich wehrte mit der Hand wedelnd ab und verschwand in meinem Handarbeitszimmer.

Etwas ratlos saß ich nun in meinem alten Sessel. Mein Handarbeitszimmer war mein einziger richtiger Rückzugsort in diesem Haus. Hier hatte ich meine Nähmaschine, meine Körbe voller Wolle und im Regal waren, neben meinen Büchern, auch meine zahlreichen Strick-, Häkel- und Stickhefte verteilt. Die Wände zierten Stickbilder mit Motiven der Toskana, die ich vor einigen Jahren, in einer Phase der Strickmüdigkeit, im Kreuzstichmuster erstellt hatte. Inzwischen fand ich kaum Zeit für solche Motive, da meine Enkelkinder recht schnell aus den Pullovern herauswuchsen, die ich ihnen strickte. Und da Anna stets rosa- und pinkfarbene Modelle einforderte, konnte Finni die Pullover nicht auftragen. Mich hätte es nicht gestört und selbst Finni hätte bis vor Kurzem nichts dagegen gehabt, doch Felicitas bestand darauf, dass rosa und pink keine Farben für einen Jungen waren. Sobald also der Pullover für Anna fertig war, würde ein blauer Pullover in Größe 98 folgen. Ohne Zopfmuster, dafür mit einem Baggermotiv. Von Zopfmustern hatte ich seit heute Vormittag sowieso erst einmal genug. Doch jetzt galt es, nachzudenken, was ich an meinem Leben ändern könnte.

Ich hatte noch nichts Bestimmtes vor, ich wusste nur, dass es so nicht weitergehen konnte. Also erhob ich mich aus dem Sessel und startete meinen kleinen Computer. Doch wo sollte ich mit der Suche anfangen? Als die »alte Krücke«, wie Tobias meinen Computer nannte, endlich das erste Browser-Fenster geladen hatte, hatte ich immer noch keine richtige Idee und so tippte ich erst einmal »Erlangen« in das Feld der Suchmaschine ein. Das erschien mir logisch, denn hier wohnte ich ja. Doch alles, worauf ich stieß, waren allgemeine Informationen über die Stadt. Dass Erlangen in Mittelfranken lag, wusste ich selbst. Den Botanischen Garten wollte ich jetzt auch nicht besuchen. Er war zwar wunderschön, doch ich war in der letzten Zeit oft genug mit meinen Enkelkindern in Parks. Das machte ich ja gerne, wirklich. Doch alle nahmen es als selbstverständlich hin, dass ich hier den Haushalt schmiss, Essen zubereitete oder die Kinder hütete. Sogar für Helmut war es vollkommen normal, dass er jederzeit hereinschneien konnte, um einen Hammer aus dem Keller zu holen oder sonst etwas. Lange hatte niemand mehr gefragt, wie es mir ging. Was ich gerne machen würde. Ich war doch verrückt, dass ich das einfach zuließ. Schluss mit Trübsal blasen, dachte ich und klickte mich weiter. Die Seite der Universität erschien. Ich stöhnte auf. So funktionierte das nicht. Ich musste die Suche irgendwie eingrenzen. Die Suchmaschine schlug mir sogar, ganz von selbst, weitere Suchbegriffe vor. »Anstehende Ereignisse in Erlangen«, das klang doch interessant. Auf die Bergkirchweih musste ich nicht unbedingt. Außerdem hatten wir erst April. Ich stieß auf die Ankündigung einer Lesung am Flugplatz. Doch die Autorin sagte mir nichts und der Termin war längst verstrichen. Wer las denn bitte aus seinem Buch an einem Flugplatz vor? Beim Senioren-Nachmittagscafé der Gemeinde ergab so etwas Sinn oder in einer Buchhandlung, aber doch nicht an einem Flugplatz, oder?

Ich rief mir den Erlanger Flugplatz in Erinnerung. Das war kein großer Flughafen, sondern so ein ganz kleiner Sportflugplatz mit einem Turm und ein paar Hallen. Als Carsten und Tobias noch klein waren, waren wir ab und an dort gewesen und hatten den Flugzeugen zugesehen. Ob das Restaurant noch da war? Einmal hatte meine Familie sogar einen Rundflug gemacht – also, Helmut, Carsten und Tobias. Ich nicht, denn in dem Flugzeug hatte es nur Platz für drei Gäste gegeben. Da hatten meine Männer beschlossen, ein Männerding draus zu machen und ließen mich einfach am Boden zurück. Damals hatte ich mich verständnisvoll gezeigt. Doch ich war nach wie vor nicht geflogen. Warum eigentlich nicht? Wäre das nicht ein Abenteuer, das mich ein wenig ablenken könnte? Ich klickte auf die Seite des Flugplatzes. Es gab dort eine Flugschule. Da konnte man doch bestimmt einen kleinen Rundflug über Erlangen buchen.

Rosa startet gegen den Wind

Подняться наверх