Читать книгу Der Krieg im 20. und 21. Jahrhundert - Malte Riemann - Страница 9
1.1 Kriegsursachentheorien
ОглавлениеNeben der Frage, was der Krieg ist, ist auch die Frage nach den Gründen des Krieges umstritten. Dieser Frage wird in der Kriegsursachenforschung nachgegangen. Es gibt in der Kriegsursachenforschung keine einheitliche Theorie, vielmehr finden sich verschiedene Erklärungsmodelle, auf welche im Folgenden eingegangen werden soll. Kriegsursachen zwischen Staaten können in drei unterschiedliche Analyseebenen unterteilt werden: »das Individuum, die Gesellschaft bzw. der Staat und das internationale System.« (Bonacker/Imbusch 1996, S. 88) In der Kriegsursachenforschung finden sich für jede dieser drei Analyseebenen unterschiedliche Erklärungsmodelle.
1) Auf der Ebene des Individuums stehen zwei Erklärungsansätze im Mittelpunkt.
• Einerseits wird postuliert, dass der Krieg zur Natur des Menschen gehört. »Hier wird der Mensch mit seinen Neigungen, Trieben und seinem Machwillen als Quelle der Gewalt ausgemacht, die die Ursache für Konflikte im allgemeinen und Kriege im Besonderen ist.« (Bonacker/Imbusch 1996, S. 88)
• Ein zweiter individualistischer Ansatz leitet die Kriegsursache von der Natur spezifischer Individuen (z. B. Staatsoberhäupter, religiöse Führer) ab. Dieser Ansatz basiert auf der Annahme, dass die psychologischen und persönlichen Charakteristika von Personen in Führungspositionen die Entscheidung zum Krieg beeinflussen. Kriege, nach diesem Ansatz, wären anders verlaufen oder hätten nicht stattgefunden, wenn ein bestimmtes Individuum keine politische Macht innegehabt hätte. (Tsetsos 2014) So stellt sich hier z. B. die Frage, ob der Zweite Weltkrieg auch ohne Hitlers Ernennung zum Reichskanzler ausgebrochen wäre.
2) Auf der gesellschaftlichen Ebene wird der Ausbruch organisierter Gewalt in der Organisation und Struktur der kriegsführenden Akteure verortet. Der amerikanische Politikwissenschaftler Kenneth Waltz fasste diesen Erklärungsansatz mit der Prämisse »bad states lead to war« (Waltz 1959, S. 122) zusammen. Dieser Prämisse folgend bestimmen die Binnenstruktur eines Staates (politisch-gesellschaftlich), dessen Verfassungsform und die von dieser Verfassungsform maßgeblich geprägte politische Praxis das internationale Verhalten eines Staates. (Waltz 1959) Despotische Unrechtsregime, z. B. tendieren eher dazu, binnen- sowie außenpolitische Konflikte mit Gewalt zu lösen als rechtsstaatlich verfasste Gemeinwesen.
3) Das internationale System bildet den dritten Kriegserklärungsansatz. Diesem liegt eine spezifische Interpretation der internationalen Politik zugrunde, nach der die Struktur des internationalen Systems durch die Abwesenheit einer höheren Autorität gekennzeichnet ist. Durch ihre Abwesenheit finden sich Staaten in einem anarchischen Selbsthilfesystem wieder. Da Anarchie »Zwangsregulierung seitens einer übergeordneten Autorität entbehrt« (Herz 1974, S. 57), zwingt der reine Selbsterhaltungswille die Staaten zum Machtwettstreit; »ihrer eigenen Sicherheit wegen müssen sie, wenn sie nicht den Untergang riskieren wollen, auf Verteidigung gegen einen möglichen Angriff gerüstet sein«. (Herz 1974, S. 57) Dies führt zu einem Sicherheitsdilemma, in welchem Staaten kontinuierlich ihre eigene Sicherheit erhöhen (z. B. durch Aufrüstung), welches gleichzeitig in anderen Staaten ein Gefühl der Unsicherheit hervorruft und diese ebenfalls dazu zwingt, ihre eigene Sicherheit zu erhöhen. Obwohl die Sicherheitserhöhung der Verteidigung dienen soll, wird diese oft als Bedrohung wahrgenommen, welche unter Umständen zum Krieg führen kann. Der internationale Erklärungsansatz betrachtet den Krieg somit als endemische Eigenschaft des Staatensystems, welcher nur durch eine grundlegende Änderung dieses Systems überwunden werden kann. Innerhalb der Disziplin der Internationalen Beziehungen ist dieser Erklärungsansatz jedoch stark umstritten. Die Kritik reicht hierbei von einer Ablehnung der Annahme, dass das internationale System inhärent anarchisch ist (Wendt 1992), das internationale Kooperation den Effekt der Anarchie regulieren kann (Milner 1991) und das Anarchie nur eine diskursive Konstruktion ist. (Ashley 1988)
Neben diesen unterschiedlichen Analyseebenen sind speziell seit dem Ende des Kalten Krieges und dem gesteigerten Interesse an innerstaatlichen Konflikten weitere Gründe für den Ausbruch des Krieges angeführt worden. Eine der prägendsten Wissenschaftlerinnen in dieser Debatte ist die Engländerin Mary Kaldor. Basierend auf einer qualitativen Analyse des Konfliktes in Bosnien und Herzegowina argumentiert Kaldor, dass in den 1980er- und frühen 1990er-Jahren eine neue Art von organisierter Gewalt (Gewalt zur privaten Bereicherung) entstanden ist, die als »Neuer Krieg« bezeichnet werden kann. ( Kap. 5.2) Diese Kriege müssen im Kontext der Schwächung der staatlichen Souveränität durch die Globalisierung verstanden werden, welche zu innenpolitischen Krisen durch die internationale Verflechtung mit anderen globalen Risiken wie der Ausbreitung von Krankheiten, der Anfälligkeit für Katastrophen und Armut führt. (Kaldor 2000) Kennzeichnend für diese Kriege ist eine spezifische Kriegsökonomie. Diese basiert auf Raub und Kriminalität, weshalb Konfliktparteien kein Interesse an einer Beendigung des Konfliktes besitzen, da die Re-Etablierung eines staatlichen Gewaltmonopols negative Auswirkungen auf diese hätte. Neben der Kriegsökonomie wurde auch besonderes Augenmerk auf die Rolle von Ethnizität als Konfliktursache »Neuer Kriege« gelegt. Jüngste Beispiele sind der Völkermord in Ruanda und die Balkankriege. Ethnizität schließt Identitätskonflikte mit ein, bei denen kriegsführende Gruppen aufgrund einer bestimmten Identität (z. B. Stammesverband), Religion oder Sprache politische Machtansprüche stellen. Die beiden wichtigsten theoretischen Diskurse über ethnische oder kulturelle Konflikte sind erstens die primordialistische und zweitens die konstruktivistische Theorie. Der primordiale Ansatz meint, dass ethnische Konflikte in uraltem Gruppenhass und Gruppenloyalitäten verwurzelt sind und dass diese alten Quellen der Feindseligkeit und Erinnerungen an vergangene Gräueltaten kollektives Selbstverständnis und Handeln bestimmen, wodurch Gewalt nur schwer zu vermeiden ist. (Kaplan 1994) Die konstruktivistische Konflikttheorie nimmt an, dass Ethnizität ein soziales Konstrukt ist, welches von Eliten als Instrument zur gewaltsamen Mobilisierung missbraucht wird.
»Die konstruktivistische Perspektive verdeutlicht, dass die Identität jedes Individuums und jeder Gruppe keineswegs nur durch ethnische Merkmale bestimmt wird. Daneben besteht eine Vielzahl weiterer Prägungen: Stand, Dynastie, Religion, Weltanschauung, Klasse, Geschlecht, Alter, Einkommen, Bildung usw.« (Schrader 2012)
Durch den Prozess der »Ethnisierung« werden solche Eigenschaften marginalisiert oder durch ethnische Eigenschaften ersetzt. Kritiker der ethnischen Konflikttheorien argumentieren, dass diese zu monokausal seien und oftmals die politischen und wirtschaftlichen Wurzeln von Konflikten nicht angemessen analysieren. (Stewart 2002) Untersuchungen zur relativen Benachteiligung in Gesellschaften und ihrer Assoziation mit Konflikten kommen zu dem Ergebnis, dass bei einer signifikanten Diskrepanz zwischen dem, was Menschen glauben, das ihnen zusteht, und dem, was sie glauben zu bekommen, die Wahrscheinlichkeit eines (gewaltsamen) Konflikts besteht. (Gurr 1970) Politische Gewalt wird als wahrscheinlicher angesehen, wenn die Bevölkerung glaubt, dass die derzeitige politische Führung und/oder das sozioökonomische/politische System ihre Ansprüche nicht erfüllen kann oder rechtswidrig handelt. (Gurr 1970) Frances Stewart merkt hierzu an, dass Identität, Religion, und Klassenunterschiede Bevölkerungsgruppen entzweien könnten, aber diese Gruppenunterschiede führen nur dann zu Konflikten, wenn es Unterschiede in Bezug auf die Verteilung und Ausübung politischer und wirtschaftlicher Macht gibt. (Stewart 2002) Unterprivilegierte Gruppen könnten Gewalt als Mittel ansehen, um den Status quo zu verändern und ihre eigene Position zu verbessern, während privilegierte Gruppen möglicherweise Gewalt ausüben, um ihre Privilegien zu schützen, wenn sie glauben, dass diese gefährdet sind. Neben wirtschaftlichen, ethnischen und sozio-politischen Erklärungsansätzen hat die Konfliktforschung in neuerer Zeit auch auf die Folgen des Klimawandels als Konfliktkatalysator hingewiesen. Thomas Homer-Dixon argumentiert, dass Klimawandel und Bevölkerungszunahme die Nachfrage nach natürlichen Ressourcen erhöhen und eine Verknappung erneuerbarer Ressourcen wie Ackerland, Wasser und Wälder verursachen werden. Diese Verknappung kann tiefgreifende soziale Folgen haben, die zu ethnischen Zusammenstößen, Aufständen, städtischer Gewalt und anderen Formen von Konflikten führen können, insbesondere in Ländern mit niedrigem und mittlerem Einkommen. Es wird jedoch darauf hingewiesen, dass es schwierig ist, einen direkten Kausalzusammenhang zwischen Umweltveränderungen und Konflikten nachzuweisen. Dieser Kritikpunkt lässt sich gleichwohl auf alle Erklärungsmodelle anwenden, da kein allgemeines Erklärungsmodell alle Ursachen eines so komplexen Phänomens, wie es der Krieg ist, erfassen kann. Andreas Herberg-Rothe drückt diese Problematik wie folgt aus: »Wir haben es mit einem allgemeinen Problem der Sozialwissenschaft zu tun: Wie lässt sich in komplexen gesellschaftlichen Zusammenhängen mit unzähligen Wechselwirkungen und unbeabsichtigten Folgen nach eindeutigen Ursachen forschen?« (Herberg-Rothe 2003, S. 85)