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TOLERANZ
ОглавлениеZur Religionsfreiheit, zu Respekt und Toleranz gegenüber anderen Religionen, zum friedlichen Dialog mit ihnen gibt es vom Zweiten Vatikanischen Konzil her keine Alternative. Überall dort, wo unterschiedliche Überzeugungen, Werte, Lebensstile, kulturelle Eigenarten und Religionen aufeinandertreffen, ist die Tugend der Toleranz für ein friedliches Zusammenleben der Menschen notwendig. Ihre Unverzichtbarkeit und Bedeutung wird deshalb umso größer, je mehr in unserer Welt ganze verbindende Traditionen und Weltanschauungen zu zerbrechen drohen. Toleranz bedeutet aber nicht Selbstaufgabe. Vielmehr ist tolerantes Verhalten nur dort möglich, wo zugleich auch ein eigener Standpunkt, eine eigene Identität vorhanden ist. Wo beides verwirklicht ist, wo man eigene Identität besitzt und behält und wo man doch den anderen nicht unter die eigenen Maßstäbe zwingt, ist Toleranz gegeben. Toleranz besteht für mich darin, sich mit dem anderen und Fremden wirklich auseinanderzusetzen. Sie beinhaltet Interesse am Neuen, Neugier gegenüber dem Fremden und Andersartigen. Sie beinhaltet auch die Fähigkeit, sich in die Situation des anderen hineinzudenken und hineinzufühlen (Empathie), die Welt und auch sich selbst sozusagen mit den Augen des anderen sehen zu können.
Wenn wir „Toleranz“ hören, denken wir an soziale Beziehungen. Der stoische Begriff tolerantia betrifft zunächst das Verhältnis des Menschen zu sich selbst, die Fähigkeit etwa, ein schweres Schicksal zu tragen. Tolerare heißt „durchtragen“.23 Eine soziale Tugend war das noch nicht. Ein Leitbegriff zwischenmenschlichen Verhaltens und von Gemeinschaftsbildung ist Toleranz durch das Christentum geworden.24 „Die Liebe er-trägt alles“ (1 Kor 13,7). „Einer trage des anderen Last“ (Gal 6,2). – Prototyp dieser Haltung ist der leidende Gerechte, der Gottesknecht des Deuterojesaja, den die Christen im Juden Jesus aus Nazaret verehren.
Von Toleranz zu sprechen, wenn man das andere in seiner Vielfalt als Bereicherung erfährt, verharmlost das Wort. Schönes und Bereicherndes aufzunehmen bedarf nicht der Toleranz. Welche Frau würde sagen, sie toleriere ihren Mann? Eher schon, sie liebe ihren Mann, deswegen toleriere sie seine Schlamperei. Die Toleranz steht zwischen Ablehnung und uneingeschränkter Bejahung. Sie hält dazu an, etwas zu ertragen, was eigentlich unerträglich erscheint. Toleranz bedeutet die Fähigkeit, eine andere Überzeugung oder ein anderes Verhalten – mitunter zähneknirschend – auszuhalten, durchzutragen, hinzunehmen.
Das hat eine wichtige Konsequenz: Zwar eröffnet Toleranz einen sozialen Raum, in dem Zusammenleben möglich ist. Aber dieser Raum ist begrenzt. Es ist ein Unding, grenzenlos tolerant zu sein. Eine Gemeinschaft oder Gesellschaft, die keine Grenzen der Toleranz kennt und alles erlaubt, zerstört sich selbst. Das ist zwangsläufig so, weil unbegrenzte Toleranz auch ihren Feinden, nämlich der Intoleranz, der Willkür und der Gewalt freie Hand lassen müsste. Die globale Aushöhlung von verbindlichen Inhalten entpuppt sich immer mehr als Komplizin der Gewalt und der Beliebigkeit. Im Zeitalter des kulturellen Pluralismus neigen nicht wenige dazu, die widersprüchlichsten Auffassungen im Bereich der Ethik oder Religion gelten zu lassen. Es kommt – so der Wiener Kulturphilosoph Günter Anders – zu einer weltanschaulichen Promiskuität. Wer an dieser unterschiedslosen Liberalität, an dieser schlechten Gleichheit Anstoß nimmt, „gilt als kulturell prüde, stur, provinziell, unaufgeschlossen, intolerant, undemokratisch, unkultiviert – und eng sogar auch in moralischer Hinsicht.“25 „Wer alles schön findet, ist nun in Gefahr, nichts schön zu finden. … Kein Blick erreicht das Schöne, dem nicht die Gleichgültigkeit, ja fast die Verachtung gegen alles beigesellt wäre. … Liberalität, die unterschiedslos den Menschen ihr Recht widerfahren lässt, läuft auf Vernichtung hinaus wie der Wille der Majorität, die der Minorität Böses zufügt und so der Demokratie Hohn spricht. … Aus der unterschiedslosen Güte gegen alles droht denn auch stets Kälte und Fremdheit gegen jedes, die dann wiederum dem Ganzen sich mitteilt. Uneingeschränkte Güte wird zur Bestätigung all des Schlechten.“26
Die Wendehälse sind überall dabei, die Widersprüche gehören zum System. Ja und Nein verkommen zu einer Frage des Geschmacks und der Laune, Leben oder Tod wird zur Frage des besseren Durchsetzungsvermögens, Wahrheit oder Lüge eine Frage der besseren Taktik, Liebe oder Hass eine Frage der Hormone, Friede oder Krieg eine Frage der Konjunktur. Die Unterscheidung zwischen Humanität und Barbarei, zwischen sittlichen Prinzipien und verbrecherischen Grundsätzen liegt dann auf der Ebene der bloßen Emotion oder des Durchsetzungsvermögens.27 Die Selbstbeschränkung des Denkens, das sich skeptisch weigert, Entscheidungen zu treffen und nach Gerechtigkeit zu suchen, wird insgeheim zur Komplizin des (Un-) Rechtes des Stärkeren.
Tolerant kann nur sein, wer einen Standpunkt hat. Die Toleranz rät nicht, dass wir im Gespräch mit anderen Religionen und Kulturen Unterschiede kaschieren, sondern dass wir sie aushalten im Respekt voreinander. Sie verlangt Entschiedenheit, verbietet dabei aber jede Form innerer oder äußerer Pression und Gewalt. Deswegen ist es unmöglich, zugleich dem Moloch zu dienen und Gott, dem „Freund des Lebens“ (Weish 12,6). Anything goes (Paul Feyerabend) geht nicht. Fanatische Intoleranz lässt sich nicht durch grenzenlose Toleranz überwinden; die ist entweder blind oder zynisch, sie bahnt faktisch dem Fundamentalismus den Weg. Wenn alles geht, kommt es auf nichts mehr an. Wenn nichts mehr zählt, zählt am Ende nur noch, was sich auszahlt. Auch Toleranz im Sinn dieses Wortes kostet ihren Preis, und zwar für den, der sie übt. Sie schmerzt, daran führt kein Weg vorbei.
Deswegen fordert Papst Benedikt XVI. nicht nur im Hinblick auf den Islam, sondern auch im Hinblick auf Strömungen in der Kirche das Gespräch zwischen Glaube und Vernunft. Der Dialog soll nicht naiv sein, weder fundamentalistisch im Hinblick auf die eigene Glaubensüberzeugung, noch geprägt von einer gleichgültigen und permissiven Toleranz. Der Dialog mit anderen Religionen und Kulturen braucht Klarheit, Klugheit und Vertrauen, die Überzeugung des eigenen Glaubens und das Wissen um die eigene Tradition.28