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SPIRITUALITÄT DES FRIEDENS
ОглавлениеNach der Shoah gingen entscheidende Impulse für die Begegnung zwischen Juden und Christen u. a. von dem jüdischen Historiker Jules Isaac29 aus, einem Mitbegründer der französischen christlich-jüdischen Dialoggruppe Amitié Judéo-Chrétienne (1948). Jules Isaac hatte Frau und Tochter in Auschwitz verloren, nur weil sie Isaac hießen. In seinen bekannten Werken Jésus et Israel (Paris, 1946)30 und L’enseignement du mépris (Paris 1962) zeigt Jules Isaac die jüdischen Wurzeln des Christentums auf und fasst wesentliche Aspekte der antijüdischen Traditionen in den Kirchen als „Lehre der Verachtung“ zusammen. Jules Isaac hat 45 Briefe an Claire Huchet-Bishop31 geschrieben32. In Brief Nr. 39 fordert Isaac die Verurteilung der „Lehre von der Verachtung“, die dem jüdischen Volk durch die christliche Verkündigung zuteilwird. Diese Verurteilung muss von höchster Stelle aus geschehen (durch den Papst bzw. durch ein Konzil). – Statt der jahrhundertelangen „Lehre der Verachtung“ (Jules Isaac) hat eine christliche Theologie des Judentums in der Besinnung auf seinen jüdischen Ursprung in Jesus von Nazaret und den Verfassern der neutestamentlichen Schriften diese jüdischen Wurzeln bzw. diesen jüdischen Stamm (Röm 11,16–18) anzuerkennen, ohne die und ohne den es zum Austrocknen verurteilt wäre. Isaac beschäftigte sich intensiv mit dem Verhältnis von Verachtung und Gewalt. Schrittweise rechtfertigt Verachtung Gewalt und dann den Krieg. Isaac meint, dass die Verachtung in Wertschätzung und Dialog verwandelt werden muss.
In einer Spiritualität des Friedens geht es zunächst um eine Abrüstung des Denkens. Da sollen eigene Verfolgungsängste und Hassgefühle aufgearbeitet, Feindbilder abgebaut und Vorurteile hinterfragt werden. Von da her ist es ihr wichtig, wohl mit den eigenen Grenzen zu leben, mit diesen aber dynamisch umzugehen und so leibliche, biologische und nationale bzw. ethnische Grenzen zu überschreiten.
Die anderen, in der Vergangenheit die Italiener oder die Franzosen, auch die Polen und die Russen, in der Gegenwart Menschen aus der ehemaligen UdSSR, aus Afrika, werden nicht von selbst vertraut. Dies hängt an grundsätzlichen Einstellungen zum Leben bzw. an Lebensentwürfen, die negativ über der eigenen Identität wachen. Unter diesen Vorzeichen steht auch die Gabe der Freiheit des Fremden. Selbstbestimmung und Freiheit wird auf den Kampf gegen Abhängigkeit und Fremdbestimmung, aber auch gegen Bindung und Beziehung reduziert. Freiheit wäre Sich-Losreißen. Das Selbsterhaltungs-Ich zeichnet sich durch Misstrauen, Rationalität, Kontrolle und Kritik aus. In Verhärtungen oder auch in Blockbildungen findet das Individuum nicht sein Heil. Menschliche Identität gelingt nicht in der Gettoisierung oder in einer Festung, nicht durch kämpferische Selbstverteidigung, Verhärtung oder Totalbewaffnung und ist auch nicht machbar.
Abrüstung in den Köpfen wird positiv überwunden durch konkrete Partnerschaften z. B. mit Gruppen aus Tschechien oder Polen, durch Symbolhandlungen wie z. B. die gemeinsame Wallfahrt nach Mariazell beim Mitteleuropäischen Katholikentag im Mai 2004, durch gemeinsame Ferien und Symposien, durch den Gedenkdienst in Auschwitz und in Israel, durch Anwaltschaft für Asylanten und Fremde, Anwaltschaft für Behinderte, Sinti und Roma.
Eine Spiritualität des Friedens muss an die Wurzeln von Konflikten und Kriegen gehen. An der Wurzel von Terror und Barbarei stand nicht selten die Anmaßung absoluter Macht über Leben und Tod, stand die Verachtung des Menschen, in der Nazizeit die Verachtung von Behinderten und Zigeunern, die Verachtung von politischen Gegnern, die Verachtung von Traditionen, die im jüdischen Volk lebten und leben, die Verachtung der ‚anderen‘. Diese Verachtung hat sich aller Kräfte, auch der der Wissenschaften, der Medizin, der Ökonomie und sogar der Religion bedient. Von der Medizin her wurde lebenswertes und lebensunwertes Leben definiert und selektiert, es gab eine ökonomische Kosten-Nutzen-Rechnung im Hinblick auf die Ermordung von Behinderten. Verachtung signalisiert: Du bist für mich überflüssig, reiner Abfall und Müll, den es zu verwerten und dann zu entsorgen gilt, eine Null, ein Kostenfaktor, den wir uns nicht mehr leisten wollen.
Die entsprechende Geisteshaltung skizziert Theodor W. Adorno in den Minima Moralia: „Musterung. Wer, wie das so heißt, in der Praxis steht, Interessen zu verfolgen, Pläne zu verwirklichen hat, dem verwandeln die Menschen, mit denen er in Berührung kommt, automatisch sich in Freund und Feind. Indem er sie daraufhin ansieht, wie sie seinen Absichten sich einfügen, reduziert er sie gleichsam vorweg zu Objekten: die einen sind verwendbar, die anderen hinderlich. … So tritt Verarmung im Verhältnis zu anderen Menschen ein: die Fähigkeit, den anderen als solchen und nicht als Funktion des eigenen Willens wahrzunehmen, vor allem aber die des fruchtbaren Gegensatzes, die Möglichkeit, durch Einbegreifen des Widersprechenden über sich selber hinauszugehen, verkümmert. Sie wird ersetzt durch beurteilende Menschenkenntnis. … Der starr prüfende, bannende und gebannte Blick, der allen Führern des Entsetzens eigen ist, hat ein Modell im abschätzenden des Managers, der den Stellenbewerber Platz nehmen heißt und sein Gesicht so beleuchtet, dass es ins Helle der Verwendbarkeit und ins Dunkle, Anrüchige des Unqualifizierten erbarmungslos zerfällt. Das Ende ist die medizinische Untersuchung nach der Alternative: Arbeitseinsatz oder Liquidation.“33
Ein Dienst am Frieden kann die Kritik an allen Götzen und die Radikalisierung der Gottesfrage sein. Gerade die Verabsolutierung von bestimmten endlichen und begrenzten Werten führt nicht selten zu tödlichen Konflikten. Den Götzen der Herrschsucht, des Übermenschen, des Kapitals, des Nationalismus, des Rassismus, des Militarismus oder des gekränkten Stolzes wurden Millionen von Menschen geopfert. Sogar Werte wie der Friede selbst, wie Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit erzeugen das Gegenteil ihrer selbst, wenn sie gewaltsam universalisiert werden. So wurde die fraternité der französischen Revolutionsheere zur Aggression gegen die Alte Welt, die sozialistische Brüderlichkeit zum Sowjetimperialismus oder eine christliche Ethik zum Kreuzzug gegen die Heiden. Innergeschichtliche Endlösungen, politische Utopien und Revolutionen wurden zum Terror. Zum Götzen kann auch das Sicherheitsbedürfnis werden, z. B. wenn von der Rüstung ein hohes Maß an Intelligenz absorbiert, Kapital gebunden und damit indirekt ein Krieg gegen die Armen geführt wird. Eine Spiritualität des Friedens nimmt Abschied von allen sich selbst rechtfertigenden, sich selbst begründenden, aus sich selbst entwerfenden und damit sich selbst vergötzenden Systemen.