Читать книгу Ich bin normal, nur ... - Manuel Wagner - Страница 14

Mein Stigma

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Ich bin zu Hause und laufe mit freiem Oberkörper herum. Heute vor genau drei Monaten wurde ich niedergestochen. Ja, ich sage es gerne: Ich wurde niedergestochen. Jemand hat einen spitzen Gegenstand genommen und ihn mir in den Bauch gerammt. Fast wäre ich daran gestorben. Wer kann so etwas schon von sich behaupten? Ihr etwa? Natürlich ist mir kalt, aber ich will mich spüren und ich will sie sehen. Ihr fragt euch, was ich sehen will? Meine Narbe natürlich. Glaubt ihr wirklich, es ist jetzt alles wieder wie vor meinem Martyrium.

Das letzte mal war ich außerhalb geschlossener Räume, als ich vom Krankenhaus nach Hause gefahren wurde. Meine Fenster sind die meiste Zeit blickdicht verhangen, sodass ich niemanden da draußen und mich niemand hier drinnen sehen kann. Ärzte müssen zu mir kommen, um mich zu untersuchen. Jedes Geräusch draußen verursacht bei mir Herzrasen und Schweißausbrüche, denn es könnte ja durch einen Menschen verursacht worden sein. Von denen habe ich seit dem Krankenhausaufenthalt endgültig genug. Ich habe dort einfach zu viele Menschen gesehen, und ich habe sie satt. Ich brauche eine menschenleere Aussicht.

Dass ich verloren habe, sehe ich im Spiegel. Mit Wut im Bauch sehe ich mir meine Narbe an. Schaut her! Ihr habt mich markiert! Ihr könnt es nicht ertragen, dass ein schlaues Individuum euer Weltbild durcheinanderbringt oder sagen wir besser es zerstört. Deswegen zerstört ihr lieber mich. Jedes mal, wenn ich die Narbe ansehe, tut sie weh, obwohl mein Arzt sagt, dass sie nicht mehr wehtun kann. Ich starre sie an und nehme den Zeigefinger, um damit über die Konturen der Narbe zu streichen. Suhle ich mich gerade in meinem Schmerz, im Selbstmitleid? Ja, wahrscheinlich tue ich das. Ich tauge halt nicht als Held, als Kämpfer für die Freiheit. Was kann ich denn dafür, wenn das nicht in meinen Genen liegt? Soll ich euch anlügen, weil ihr lieber was von einem Helden lesen wollt, der noch mit ramponierten oder gar komplett ausgerissenen Gliedern kämpfend die Welt verändert? Schämt euch! Ich wende mich angewidert von euch ab. Ihr bekommt mich nicht mehr zu sehen. Ich bleibe hier drin.

Meine Lebensmittel bestelle ich jetzt ausschließlich im Internet. Hündchen bringt mir zudem hin und wieder Sachen vorbei, falls ich etwas sehr schnell brauche, ich etwas vergessen habe oder einfach nur so. Während ich einen schwarzen Filzstift suche, um die Narbe nachzuzeichnen, weil die Narbe zu verblassen beginnt, klingelt es an der Tür. Hündchen hat erntefrisches Tiefkühlgemüse und Milch dabei. Ich bin dankbar, denn ich hasse die quietschende Styroporverpackung, in der die gekühlte Ware vom Lieferdienst ankommt.

Hündchen glotzt mich ziemlich bescheuert an, bis sich seine Lippen endlich bewegen: »Wieso bist du nackt?« Ich bin schon so daran gewöhnt, Oberkörper frei rumzulaufen, dass ich meine teilweise Nacktheit nicht bemerkt habe. Oh, da fällt mir ein, dass ich vielleicht auch dem Postboten so die Tür geöffnet habe, aber der hat natürlich nichts dazu gesagt.

»Komm rein... komm rein... die Tür muss zu! Schnell!« Normalerweise achtet Hündchen darauf. Ich zieh mir lieber schnell was an.

»Wow, ich sollte mir auch so ein Messer in den Bauch rammen lassen. Sieht gut aus.«

Ich laufe schnell zu meinem Sofa, wo sich ein weißes T-Shirt befindet. Ich ziehe es an. »Findest du? Eigentlich konnte ich ewig nicht trainieren.« Da fällt mir ein, dass Hündchen bisher außer auf meinen Armen und mein Gesicht noch nichts von mir nackt gesehen hatte. Dass Hündchen meinen freien Oberkörper sieht, wäre normalerweise eine Katastrophe, aber es stellt sich gerade ein erstaunliches Gefühl von »Es ist mir scheißegal« ein. Ich erkenne mich selbst nicht mehr. Ich bin ein Anderer.

»Darf ich nochmal sehen?« Da habt ihr es. Hündchen will es natürlich nochmal sehen. Was sonst? Hündchen kann seine Erregung nicht verbergen.

»Besser nicht!«

»Doch zeig nochmal, dann erfährst du auch eine Überraschung. Ich habe etwas geheim gehalten vor dir. Ich arbeite schon seit dem ersten Tag deines Unfalls daran.«

»Das mit dem Buch war Überraschung genug und ich war really not amused.« Dabei mache ich eine affektierte Geste. Ich habe Hündchen schon längst verziehen. Schließlich apportiert Hündchen Lebensmittel für mich, die ich zudem nur selten bezahlen muss. Mag ich vielleicht doch Überraschungen? Oder hängt es vielleicht nur von der Art der Überraschung ab? Ich bin unschlüssig. Trotzdem hebe ich kurz mein weißes T-Shirt hoch und nach wenigen Sekunden beziehungsweise nach dem Versuch Hündchens an meiner Narbe zu schnuppern, senke ich mein Shirt wieder. »Dann sag, was du mir mitteilen willst!«

Hündchens Konzentration ist im erregten Zustand eine Katastrophe oder spielt Hündchen das nur? Jedenfalls spricht es ziemlich hastig, aber mit Pausen an den unmöglichsten Stellen. »Oh, sorry... An der Uni... wird jetzt... in deinem Sinne über Sozionormalität... geforscht, es läuft demnächst... eine Reportage über... Sozionormalität im öffentlich rechtlichen Fernsehen. Nur über das... Fernsehen erreicht man die Massen, alle... Generationen. Die Reportage wird... ausschließlich positiv sein. Dafür sorge ich. Und es wird bei einem... großem Sender ein TV-Experiment zu Sozionormalität geben.«

»Ähm... Moment... Das ist jetzt... Das ist jetzt zu viel, viel zu viel.« Ich weiß nicht, ob ich mich freuen oder einfach nur Lügner schreien und Hündchen rausschmeißen soll. Müsste ich jetzt nach Details fragen? Erwartet Hündchen das? Erwartet ihr das? Es klingt zu unglaublich, um wahr zu sein. Aber wieso sollte Hündchen lügen? Sowas wäre doch bestimmt leicht herauszufinden. Relativ emotionslos frage ich: »Wie hast du das geschafft?«

»Ich habe das gemacht, was ich am besten kann.«

»Du hast mit den Verantwortlichen geschlafen?«

»Ich dachte, du sagst jetzt so etwas wie soziale Interaktion oder Psychologie, aber das auch, ja«, antwortet Hündchen etwas verlegen, gespielt verlegen natürlich.

»Seit wann schämst du dich denn bitte für deine... ähm... Fähigkeiten? Ich kann dir nicht so recht glauben. Das klingt zu untypisch... ich meine nicht für dich, aber für diese Welt.«

»Ich dachte eigentlich, dass du mir in die Arme fällst und mich abknutschst. Ich verändere die Welt für dich.«

Ich sehe Hündchen enttäuscht an. Man merkt, dass mein Gesichtsausdruck unerwartet für Hündchen ist. »Kannst du jetzt bitte gehen. Ich muss nachdenken, denn ich wollte all das tun, was du jetzt für mich tust... ich weiß nicht, was ich fühlen soll und ich finde es komisch, dass ein Soziomane, den ich vor kurzem noch gehasst habe...« Ich zögere kurz, versuche Hündchen finster anzusehen, glaube aber nicht, dass mir dieser Blick gelingt. Ich fühle Groll, aber nicht gegen Hündchen. Es hat nicht viel falsch gemacht. Wie hätte es mich denn beteiligen sollen? Ich kann doch sowieso nichts mehr selber machen. Habe ich Hündchen jetzt finster angesehen oder nicht? Hündchen schaut verstimmt. Ich mag Überraschungen anscheinend doch nicht, auch wenn sie gut gemeint sind. Erst das Buch und jetzt die Forschung, die Reportage, eine TV-Show und dann dieses neue Wort s o z i o n o r m a l. Das ist einfach zu viel. Ist das überhaupt gut... Ich will es nicht wissen, jetzt nicht wissen. »Und ich weiß noch immer nicht, was ich über dich denken soll. Bitte geh jetzt, aber das Wort sozionormal anstelle von soziophob finde ich gut, richtig gut sogar.«

Mit dem Begriff »soziophob« habe ich mir unnötig Feinde gemacht, die mich dafür niedergestochen haben. Das ist mir jetzt klar. Der Begriff war bereits (selbstverständlich fälschlicherweise) belegt für eine schwere psychische Erkrankung. Das Wort hat außerdem mit der Endung »phob« einen viel zu abschreckenden Klang, als dass ich damit jemals erfolgreich Werbung machen könnte. Ich danke Hündchen für die verspätete Korrektur mit einem Lächeln. Das reicht dann aber auch.

Hündchen macht sich bereit zu gehen. »Schön, dass du das findest und glaub mir alles andere, ich schwöre, es ist wahr... Ich... ich... li... ach nichts. Ich bin schuld. Ich will es wieder gut machen... Ich... Verstehst du denn nicht?«

Ich schubse Hündchen durch die Tür. »Du machst es gerade noch schlimmer...« Ich schlage die Tür vor Hündchens Nase zu. Draußen hat der Wind die Blätter so komisch bewegt. Womöglich irgend ein Mensch. Ich will Kontrolle. Ich muss von nun an immer wissen, was mich erwartet. Wieso empfinde ich gerade so viel Unbehagen?

Ich bin normal, nur ...

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