Читать книгу Ich bin normal, nur ... - Manuel Wagner - Страница 5

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Klare Gedanken dringen in meinen Kopf. Gerade noch war ich mir sicher, dass ich sterbe. Ich habe keine Ahnung, wie viel Zeit vergangen ist. Ich spüre wieder etwas, aber mein Körper gehorcht mir nicht. Ich versuche, meine Augen zu öffnen. Es dauert eine gefühlte Ewigkeit, bis mir das gelingt. Meine Ohren sind beschlagen.

»Krankenschwester! Krankenschwester! Doktor! Doktor!...« höre ich dumpf, verfremdet und undeutlich, so als wäre die Stimme weit weg, aber ich bin mir nun sicher, dass ich in einem Krankenhaus bin. Wem gehört die Stimme neben mir? ... oh nein… Alles was ich fühle, ist Schmerz. Der Versuch die Augen zu öffnen, ist zu anstrengend. Die Anstrengung gibt mir den Rest. Ich schaffe es nicht.

Als ich erneut das Bewusstsein erlange, habe ich wieder ein Zeitgefühl. Ich muss nach dem vorherigen kurzen Aufwachen ein paar Stunden geschlafen haben. Zuerst ist es ein schmaler heller Fleck verschwommenen Lichts, dann entsteht langsam ein Bild. Keine Wurzeln, kein Moos, keine Bäume, keine Katze: So trostlos wie alles hier erscheint, könnte es sich dieses Mal um die Realität handeln. Überall ist gleißendes Weiß. Nachdem sich meine Augen an das Neonlicht gewöhnt haben, sehe ich zur Abwechslung ein paar blinkende rote, grüne und gelbe Lichtpunkte auf kantigen Geräten. Es riecht scharf nach Desinfektionsmitteln. Ich sehe niemanden, und bin zum ersten mal traurig deswegen. Ich bin schockiert über die vielen Schläuche an und in meinem Körper und über die Geräte neben mir. Mein Körper ist schlapp und verkrampft zugleich. Es fühlt sich an, als würde jemand an meiner Bauchdecke ziehen, aber ich bin noch betäubt genug, deshalb ist es wohl kein richtiger Schmerz. Ich muss meine Gedanken sortieren, vielleicht kommt gleich jemand, und fragt mich was. Wo sind eigentlich die Schmerzen hin, die mich in die erneute Bewusstlosigkeit getrieben haben, die mir der Wolf zugefügt hat? Nein, nein, nein! Das war nicht echt. Die Schmerzen hatten eine andere Ursache. Nur welche?

Damit ich mich bewegen kann, führe ich einen inneren Dialog mit meinen Gliedmaßen. Sie antworten nicht. Dabei würde ich jetzt gern aufspringen und tanzen, weil ich lebe und mich viel besser fühle, als beim ersten Erwachen. Mein Gesicht wirkt weniger taub als der Rest. Es ist nur so betäubt, wie nach einer Zahnarztspritze. Mein »Hallo ist da jemand?«, klingt aber eher wie ein Tiergeräusch von einem Haustier, dass zu recht kurz vor der Einschläferung steht. Plötzlich öffnet sich die Tür. Zu wem gehören die Umrisse? Sind das meine Eltern, andere Verwandte, Krankenpfleger, Ärztinnen? Was ich erkenne, als es näher kommt, verwirrt mich, erregt mich. Ich wusste nicht, dass das erlaubt ist. »Du bist doch kein …?« Tränen schießen in meine Augenwinkel als ich Hündchen erkenne. Es sind keine Tränen der Angst. Es sind auch keine Tränen der Trauer. Es ist etwas anderes. Ich erinnere mich wieder. Es muss der Geruch nach Vanille sein. Der Geruch, den ich als Letztes in meiner Nase hatte. Es war Hündchen. Hündchen muss mich gerettet haben. Hündchen guckt glücklich, wie ein Welpe, der gerade die Milchzitzen seiner Mutter gefunden hat. »Ich mach jetzt etwas, was ich schon die ganze Zeit machen wollte, und ich erkenne an deinen Augen, dass du es auch möchtest.« Hündchen formt Kusslippen, die dann auf meinen halbtauben mit Speichel benetzten Mund treffen. Mein Speichel klebt an Hündchens Unterlippe. Hündchens Pfote wandert durch das für einen Hund ungewöhnlich unbehaarte Gesicht. Unseren ersten Kuss haben wir uns wohl beide anders vorgestellt.

»An deiner Kusstechnik musst du noch ein wenig arbeiten.«

Ich muss lachen. Hündchen schafft es immer mich zum Lachen zu bringen, aber es tut weh. Der Bauch spannt dabei zu sehr an, was nur deswegen problematisch ist, weil mir da vor kurzem eine junge Frau einen spitzen Gegenstand reingerammt hat. Oh, eine neue Erinnerung! Ich schreie laut auf. Der Schmerz lässt nicht nach. Kurz denke ich, ich verliere mein Bewusstsein, aber leider tut mir mein Körper diesen Gefallen nicht. Hündchen holt einen Arzt, der mir innerhalb kürzester Zeit eine Infusion verabreicht. Der Schmerz hört zwar auf, aber ich spüre jetzt fast überhaupt nichts mehr, und habe Mühe, wach zu bleiben.

»Es tuuut… so lei... ei... d. ...hä… hätte... nicht zum La… ...chen bri… ...i… ingen so… ...o… llen… ...len...« In meinem Dämmerzustand fällt es mir richtig schwer, Hündchen zuzuhören, aber ich glaube ich habe verstanden, was Hündchen gesagt hat. Ich weiß nicht, ob mein Blick Freude signalisieren kann, aber ich fand es trotz Schmerz schön zu lachen. Da ich nicht weiß, ob ich sprechen kann, versuche ich Hündchen so fragend anzusehen, wie es mir möglich ist. Entweder ist es Zufall oder Hündchen versteht mich.

»Du wurdest niedergestochen. Du lagst für eine gute Woche im Koma. Die Ärzte dachten nicht, dass du es schaffst.«

Komisch. Jetzt habe ich Hündchen klar verstanden, auch wenn seine Stimme einen starken Hall hat. Ob der Hall echt ist oder in meinem Kopf, weiß ich nicht. Was sind das bloß für Medika… Medika… Hmm... über was habe ich gerade nachgedacht?

Hündchen bekommt plötzlich einen Kloß im Hals. Eine Träne rollt Hündchen über die Wange. Bin ich etwa noch nicht über dem Berg?

»Ich bin da, weil ich gesagt habe, dass ich deine Mutter bin... Oh, Entschuldigung, nicht lachen. Nicht lachen!«

Benebelt wie ich bin, kann ich sowieso nur debil grinsen. »Tut mir leid, ich immer mit meinen blöden Witzen. Ich will dich nur aufheitern, aber das darf ich nicht.«

Ich hoffe mein Blick sagt: »Das musst du doch gar nicht.«

»Ich bin da, weil ich wusste du magst es lieber, mich zu sehen. Du solltest jetzt aber schlafen, denn... ähm...«

Die Infusion entfaltet nun ihre gesamte Wirkung. Ich schlafe ein.

Ich bin normal, nur ...

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