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Systemsprenger

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Wenn ich etwas gar nicht wollte,

dann mich anpassen.

Ich fühlte mich wie in einem Gefängnis.

Bremen, 1970

Eines der wenigen Fotos aus meiner Kindheit zeigt mich am Tag meiner Einschulung im Jahr 1970 mit einer Zuckertüte in der Hand. Dass ich überhaupt das Jahr meiner Einschulung kenne, liegt nur an diesem datierten Foto. Ansonsten besitze ich nichts aus dieser Zeit, keine Zeugnisse, kein Poesiealbum wie andere Kinder, keine Erinnerungsstücke.

Wenn es hochkommt, bin ich alles in allem sieben Jahre lang zur Schule gegangen, zuletzt besuchte ich die Hauptschule. Ich habe nichts. Keinen Abschluss, nichts. Irgendwann bin ich einfach nicht mehr zum Unterricht gegangen. Das Problem war, dass ich mit der Prostitution – auf der Schwelle vom Kind zur Jugendlichen – schon so viel Geld verdiente, dass ich keinen Sinn darin sah, meine kostbare Zeit mit Lernen zu verplempern.

Mein Sohn hatte einen komplett anderen Start ins Leben. Als Sohn einer Domina war es für ihn natürlich nicht immer einfach. Aber er hatte eine geregelte Kindheit, wurde aufrichtig geliebt und konnte schließlich seine Interessen frei entfalten, seine Stärken kennenlernen. Er hat als Kind immer gerne gelesen, war wissbegierig, interessierte sich für Natur- und Umweltthemen.

Einmal saßen wir im Auto, da fragte er mich, das werde ich nie vergessen: „Mama, wie groß werden eigentlich Mammutbäume?“ Wie kommt er denn jetzt darauf, fragte ich mich. Seine Frage konnte ich natürlich nicht beantworten. Am nächsten Tag ging ich in einen Buchladen und kaufte mir ein Buch mit den tausend seltensten Fragen, irgendwie so hieß das, nur damit ich ab sofort gewappnet war, seine Fragen beantworten zu können, was natürlich Quatsch war, weil ich nie wusste, was ihm als Nächstes durch den Kopf ging. Denn er hatte Fragen, immerzu, das war unvorstellbar. Wo er die nur herhatte, wie er überhaupt auf diese Gedanken kam, fragte ich mich. In der Schule war mein Sohn kein Überflieger und auch kein Streber. Er hatte gute und weniger gute Phasen. Ich habe ihn unterstützt, wo ich konnte. Letztlich aber hat er seinen eigenen Weg gemacht – und das Abitur.

Mein Weg führte mich in die entgegengesetzte Richtung: mit nur wenigen Abstechern direkt von Bremen nach Hamburg, vom Babystrich auf die Reeperbahn und rein in die Herbertstraße.

Heute weiß ich, dass das kurzsichtig und dumm war, damals war es mir egal. Es gab Tage, an denen verdiente ich mehrere Hundert D-Mark. Einfach so, ein Vermögen für mich. Ich ließ die Puppen tanzen, kaufte ohne Ende Klamotten, jeden Tag neue Sachen. Ich ging feiern und dachte: Was solls? Ich arbeite, ich habe Geld. Mir geht es gut. Ich will die Schuld an meinem Schulversagen auf niemanden abwälzen, aber ich hatte keine Vorbilder und leider schafften es weder Lehrer und Erzieher noch mein Vormund, mir die Schule auch nur ein bisschen schmackhaft zu machen.

Noch während der Grundschulzeit kam ich auf eine Sonderschule. Weil ich schwierig war, lernunwillig. Keiner kam an mich heran und ich ließ mir nichts gefallen. Alles war wie immer, ich war wie immer. Ich provozierte meine Lehrer permanent, beschimpfte sie und machte auf „egal“, auch wenn man mir mit Strafe drohte. Man dachte, in einer kleineren Klasse einer Sonderschule, in der ich mehr Aufmerksamkeit bekäme, würde ich meine Passivität in Bezug auf das Lernen und meine Aggressivität gegenüber Lehrern und Mitschülern ablegen oder mich wenigstens anpassen. Das Gegenteil war der Fall. Vielleicht wollte ich unbewusst nur zurück zu meinen Eltern, auch wenn es die schon längst nicht mehr gab. Weil ich mich nirgends zugehörig fühlte, drängelte ich mich überall hinein. Angenommen, fünf Kinder spielten zusammen, sprang ich einfach dazwischen und bestand darauf, mitzumachen. Wenn sie mich wegschickten, wurde ich bockig, sagten sie „Hau ab!“, schlug ich um mich. Ich hatte eh das Gefühl, mich mag ohnehin keiner. Egal wo ich war. Anstatt auf andere zuzugehen, kompromissbereit zu sein oder einfach mit den anderen zu reden, versuchte ich es mit Drohungen: Du hast mich zu mögen! Du hast das zu machen, was ich will und nicht was du willst. Das mache ich jetzt nicht. Du magst die viel lieber, mich magst du gar nicht! All so was.

Fachleute würden sagen, ich war ein Systemsprenger.

Jahre später – mein Sohn war schon auf der Welt – gab es ein Ehemaligentreffen mit den Heimbewohnern. Ich war Hure geworden, die anderen hatten normale Berufe ergriffen, Familien gegründet. Eine hatte vier Kinder bekommen, eine andere war zum dritten Mal verheiratet. Ein anderer, den ich eigentlich ganz gerne mochte, hatte sich inzwischen das Leben genommen. Wir sahen uns also nach Jahren das erste Mal wieder, aber ich gehörte trotzdem weiterhin nicht dazu, war aus ihrem Kreis immer noch ausgeschlossen. Ich spürte, auch wenn sie es nicht aussprachen, dass sie mich nicht mochten, obwohl sie nichts von meinem Beruf wussten.

Es gibt nur wenige Menschen, die ich aus meiner Zeit im Heim in positiver Erinnerung habe. Frau L., meine Lehrerin an der Sonderschule, gehört dazu. Sie wurde eine Art Vertrauensperson für mich und war die Einzige, zu der ich dort eine gute Beziehung hatte. Sie kümmerte sich um mich, sie mochte mich und zeigte mir das auch. Manchmal durfte ich sogar bei ihr übernachten. Wenn die anderen Kinder aus dem Heim an den Wochenenden abgeholt wurden, blieben mit mir noch ein oder zwei andere übrig. Dann nahm mich Frau L. ab und an zu sich. Ich würde nicht so weit gehen zu sagen, sie sei so etwas wie eine Ersatzmutter gewesen, aber es fühlte sich gut an, bei ihr zu sein. Wenn ich bei ihr war, sah ich „normales“ Leben, einen Alltag, den ich so nicht kannte. Bis dahin hatte sich alles in meiner Kindheit gegen mich gestellt. Alles war ein einziges Durcheinander. Ich glaube, Frau L. hatte einen guten, besänftigenden Einfluss auf mich. Ich war glücklich. Zumindest phasenweise.

Davon abgesehen lief es im Heim selten gut für mich. War ich renitent, gab es Stubenarrest oder mir wurde das Taschengeld gestrichen, was mich noch mehr auf die Palme brachte. Ein Teufelskreis. Wir waren etwa 60 Kinder und Jugendliche in dem Heim, aufgeteilt in Gruppen. Pro Etage eine Gruppe, immer zwei Kinder auf einem Zimmer, auf verschiedene Gebäude verteilt. Es gab ein Haupthaus mit einer Küche, in der das Essen ausgegeben wurde. Als Kind hatte ich immer einen riesigen Hunger, stopfte alles in mich rein, das war eine maßlose Gier. Natürlich aß ich nur, was mir schmeckte. Käse ekelte mich an. Es hieß aber, was auf den Tisch kommt, wird aufgegessen. Aus Protest oder Wut schnitt ich mir den Stinkekäse extra fingerdick aufs Brot und aß alles auf, obwohl mir dabei übel und ich anschließend richtig krank wurde. Zur Strafe bekam ich die nächsten Tage nur diesen Käse vorgesetzt. Mit Käse kann man mich heute noch jagen.

Mit den anderen Heimbewohnern hatte ich ständig Reibereien. Wie gesagt, ich wollte endlich einmal irgendwo dazugehören, irgendetwas wollte ich an mir haben, damit die anderen mich mögen, egal was, ich hätte alles gemacht. Einmal, als wir Indianer spielten, ließ ich mich deswegen freiwillig an einen Baum fesseln und von den anderen mit Pfeilen beschießen. Einer traf meinen Fuß. Die Narbe habe ich heute noch. Im Park, der hinter dem Heim lag, wurden zwei Ponys gehalten, ein weißes und ein schwarz-weißes, Beatle und Monky. Beatle trat immer aus, weshalb sich ihm niemand nähern wollte. Ich aber ging zu ihm auf die Weide, um zu zeigen, wie mutig ich war. Hauptsache, es mochte mich endlich jemand, dachte ich. Ich habe damals viel Zeit mit den Ponys verbracht. Das Rumjuckeln auf ihnen, das Reiten, fand ich richtig gut.

Ich muss zugeben, dass es im Heim hin und wieder auch Lichtblicke gab, zumindest bemühten sich manche Erzieher und Erzieherinnen darum, mich besser zu integrieren. Sie versuchten zum Beispiel, mir das Theaterspielen schmackhaft zu machen, damit ich etwas Aktives mit anderen Menschen unternahm und brachten mich in einer Theatergruppe in Bremen unter. Ich bekam eine Minirolle in Mutter Courage und ihre Kinder – es spielen in dem Stück viele Kinder mit. Anfangs machte ich mit, aber schon nach den ersten Proben schmiss ich hin, weil ich mich langweilte. Ich erinnere mich auch gerne an unsere kleinen Raubzüge. Mit ein paar anderen Kindern kletterte ich nachts aus dem Fenster unseres Schlafsaals, dann klauten wir Äpfel in den benachbarten Schrebergärten und alles, was wir zu Geld machen konnten. Ich ließ mir immer etwas einfallen, um etwas zu „verdienen“, pflückte Blumen im Garten fremder Leute, klingelte anschließend an ihrer Haustür und fragte mit unschuldiger, süßer Miene, ob sie die nicht kaufen wollten. Ich klaute, wo immer sich eine Gelegenheit bot, in Geschäften, aber auch in der Schule. Ich hatte kein Unrechtsbewusstsein. Wenn ich mit den Worten „Raus, vor die Tür!“, von den Lehrern des Klassenzimmers verwiesen wurde, freute ich mich, weil ich ungehindert die Taschen der anderen durchwühlen konnte. Wegen einer Prügelei, die ich mit einem anderen Mädchen angezettelt hatte, bekam ich richtig Ärger und sogar eine Abmahnung.

Freitags war im Heim immer Wäschetag, dann mussten wir unsere schmutzigen Sachen ordentlich zusammenlegen, uns in einer Reihe vor dem Wäscheraum anstellen und aufzählen, was wir abgaben. Die Erzieherin führte eine Liste und hakte ab. Meine Schmutzwäsche war weder sortiert noch machte ich Anstalten, mich in die Schlange vor der Wäscherei zu stellen. Ich hatte ohnehin nie das Gefühl, dass etwas „meins“ war, ich war in jeder Beziehung unordentlich und unsortiert, in meinen Gedanken ebenso wie mit meinen Klamotten. Einfach schlampig, was man sich heute nicht mehr vorstellen kann, heute bin ich das komplette Gegenteil.

Ich tanzte also auch diesmal aus der Reihe, blieb einfach in meinem Zimmer. Die Haupterzieherin, die für meine Gruppe verantwortlich war, flippte aus und zog mich an den Haaren aus dem Zimmer durchs Treppenhaus bis hin zur Wäschestelle. Danach sperrte sie mich im Keller ein, ein kahler Raum mit Betonwänden, dort ließ sie mich für mehrere Stunden allein im Dunkeln zurück. Das war gruselig. Manchmal denke ich, da habe ich auch einen Knacks wegbekommen. Ich kann heute noch nicht gut in geschlossenen Räumen sein, allein in einem dunklen Zimmer drehe ich durch.

Auf Dauer funktionierte nichts richtig mit mir. Weil die Erzieher irgendwann kapitulierten, musste ich weg aus dem Heim und man steckte mich in eine Wohngruppe.

Ich bin mir sicher, ich hätte mehr aus meinem Leben machen können. Ich war nicht zu dumm oder zu blöd. Ich wurde auf der Schule mal getestet, wozu ich überhaupt fähig sei, wie hoch mein IQ war. An das Ergebnis erinnere ich mich nicht im Einzelnen. Nur daran, dass alle positiv überrascht waren. Vielleicht hätte ich auch Richterin werden können …

Herbertstraße

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