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Sie ließ mich einfach liegen
ОглавлениеIrgendwas muss noch passieren im Leben,
irgendeine Befriedigung muss noch kommen.
Bremen, 1964
Ich gebe zu, auch wenn ich auf den ersten Blick ruhig und ausgeglichen wirke, bin ich ein Mensch, der schnell ausflippt. Ich kann ziemlich aggressiv werden, wenn mich irgendetwas oder irgendjemand so richtig nervt. Dann bin ich in einer Sekunde von null auf 180. Ob das damit zu tun hat, wie ich aufgewachsen bin und was mich in der Kindheit geprägt hat, können Psychologen besser beurteilen. Ich lernte jedenfalls nie so etwas wie ein behütetes Elternhaus kennen. Und was sich hinter dem Begriff „intaktes Familienleben“ verbirgt, kannte ich nur aus der Beobachtung bei anderen. Geborgenheit habe ich als Kind so gut wie nie erlebt. Weshalb es für mich später auch nicht immer leicht war, als ich selbst eine Familie gründen wollte. Woran sollte ich mich orientieren, um es besser zu machen? Aber was nützt es, sich jetzt zu beklagen. Hätte, hätte, Fahrradkette. Ich lebe nicht im Hätte.
Zur Welt kam ich am 28. April 1964, an einem trüben, kühlen Dienstag, im St. Jürgen-Krankenhaus, dem heutigen Klinikum Bremen-Mitte. Fast in Spucknähe davon befindet sich der Ortsteil Steintor, der für mein späteres Leben noch eine zentrale Rolle spielen sollte. Steintor, das weiß jeder in Bremen, steht für Rotlicht, hier ist der Drogenstrich. Von den Umständen meiner Geburt erfuhr ich erst, als ich etwa zwölf Jahre alt war. Zu dem Zeitpunkt stand ich schon mit einem Bein im Milieu.
Zurück ins Jahr 64. Der Vater unbekannt. Die Mutter flüchtig. Nicht im strafrechtlichen Sinne, denke ich. Nachdem sie mich entbunden hatte, ich war zwei Tage alt, verließ sie heimlich das Krankenhaus – ohne mich, ihr Baby. Alles, was mir von meiner Mutter blieb, das war mein Name. Nachname: Freitag. Vorname: Manuela. So hatte sie es im Krankenhaus noch angegeben, bevor sie sich aus dem Staub machte. Bis ich die Wahrheit über die Frau, die mich geboren hatte, erfuhr, sollten noch viele Jahre vergehen.
Ich hatte Glück im Unglück, denn es fand sich ein Ehepaar, das mich zur Pflege aufnahm. Die beiden hatten selbst keine eigenen Kinder, mit mir wollten sie sich den lang gehegten Wunsch einer kleinen Familie erfüllen. Ich blieb ein Einzelkind. Meine Eltern, so nenne ich sie der Einfachheit halber, gaben sich redlich Mühe mit mir, das muss ich zugeben. Es wäre ungerecht, etwas anderes zu behaupten. Das Elternsein aber, das weiß ich heute, lag ihnen nicht wirklich. Daran hatte ich meinen Anteil, ich war kein pflegeleichtes Pflegekind, sondern schwierig, aufmüpfig, nervig. Und dennoch: Alles, was ich an Eltern jemals kannte, das waren diese beiden.
An die ersten Jahre meiner Kindheit habe ich, wie die meisten, nur bruchstückhafte Erinnerungen. Meine Eltern waren als Gastronomen tätig, sie betrieben mal hier, mal da Gaststätten im Bremer Raum. Warum sie so unstet waren, kann ich nicht sagen. Es hatte aber zur Folge, dass wir ständig umziehen mussten und nie richtig sesshaft wurden. Weshalb ich zum Beispiel auch keinen Kindergarten besuchte und keine Chance hatte, Freundschaften zu anderen Kindern zu schließen. Meine Eltern wiederum hatten kaum Zeit für mich, weil sie sich rund um die Uhr um ihre Kneipe kümmern mussten. Folglich war ich auf mich allein gestellt. Ich erinnere mich an die Situation, dass ich nachts wach wurde und weinte, weil niemand da war. Ich ging nach unten in die Kneipe (unsere Wohnung lag im ersten Stock) und suchte meine Eltern. Statt Trost gab es einen Riesenanschiss und ich wurde zur Strafe ins Badezimmer eingesperrt. Stundenlang, bis meine Eltern irgendwann am Morgen, wenn die Kneipe geschlossen war, ins Bett gingen. Wahrscheinlich wussten sie sich nicht anders zu helfen, wenn ich herumwütete. Ich war nicht das liebe Mädchen, das sie sich vielleicht gewünscht hatten. So wurde es mir jedenfalls erzählt. Ich war wohl rebellisch, gegen alles und jeden, wollte mit dem Kopf durch die Wand und machte einen verwahrlosten Eindruck, weil ich darauf bestand, in langen Walla-Walla-Kleidern und mit wilder Mähne, die Haare bis zum Po, durch die Gegend zu laufen. Ich machte mir einen Spaß daraus, andere zu provozieren und zu erschrecken. Manchmal ging ich in meiner Pippi-Langstrumpf-Aufmachung auf den Friedhof, wenn dort gerade eine Beerdigung stattfand, um dem Trauerzug wie eine Verrückte hinterherzutanzen. Ich kannte keine Grenzen, aber mir wurden auch keine aufgezeigt – mal davon abgesehen, dass man mich gelegentlich ins Bad einschloss.
Ob es an dem beruflich bedingten unsteten Lebenswandel meiner Eltern lag, an ihrer Überforderung mit mir und ihren damit einhergehenden rabiaten Erziehungsmethoden, das Jugendamt hatte immer ein Auge auf uns. Regelmäßig schauten Sozialarbeiter bei uns vorbei, um sich ein Bild davon zu machen, wie wir lebten und wie es mir ging. Sie stellten mir sicherlich auch viele Fragen. Was genau sie wissen wollten, kann ich nicht mehr sagen. Bis dahin glaubte ich übrigens immer noch, meine Pflegeeltern seien meine leiblichen Eltern.
Und dann, ich war fünf Jahre alt, klingelte es eines Tages an unserer Tür. Das war der Moment, in dem meine kleine Welt zum ersten Mal zusammenbrach.