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Herausgerissen

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Ich bin eigentlich ein einsamer Mensch, mein

ganzes Leben schon. Und die Einsamkeit hat mich natürlich geprägt.

Bremen, 1969

Ich war fünf Jahre alt, da holte mich das Jugendamt bei meinen Pflegeltern ab. Von dem Tag an begann für mich eine jahrelange Odyssee durch Kinderheime und Wohngruppen. Es ging alles ganz schnell. Vor unserer Tür standen ein älterer Mann und eine junge Frau vom Jugendamt und sagten, sie würden mich jetzt mitnehmen. Ich verstand überhaupt nicht, was da gerade mit mir passierte. Weil mir auch kein Mensch etwas erklärte. Diese wildfremden Menschen sagten nur, sie würden mich in ein Heim bringen, wo ich von nun an leben sollte. Dann wurden meine Sachen zusammengepackt. Meine Eltern unternahmen nichts, standen tatenlos daneben. Ich weinte. Was blieb mir anderes übrig, als mich zu fügen. „Du kommst bald zurück und kannst deine Eltern besuchen, mach dir keine Gedanken“, trösteten mich die Fremden und dann stieg ich mehr oder weniger freiwillig in ihren Wagen ein. Sie brachten mich in ein Bremer Kinderheim. Mein neues Zuhause für die nächsten Jahre. Heute weiß ich, also, ich vermute, dass der ständige Wohnungswechsel meiner Eltern das Jugendamt veranlasst hatte, mich andernorts unterzubringen. Ich hatte nie einen Kindergarten besucht, war so gut wie gar nicht mit anderen Kindern sozialisiert, bald stand die Einschulung an. Man traute meinen Eltern wohl nicht zu, dass sie in der Lage seien, sich so um mich zu kümmern, wie es für ein kleines Kind nötig gewesen wäre, geschweige denn, dass sie mir so etwas wie stabile Verhältnisse bieten könnten. Das Amt wollte wahrscheinlich nur mein Bestes, aber sie nahmen mir dennoch die einzige Familie, die ich jemals hatte. Stattdessen bekam ich einen Amtsvormund.

Erst nachdem ich schon ein paar Wochen im Heim lebte, durfte ich, wie versprochen, meine Eltern besuchen. Die Wochenenden in meinem früheren Zuhause habe ich tatsächlich in guter Erinnerung, denn meine Eltern taten alles, damit ich mich wohlfühlte. Sie ließen mich Schokolade essen, bis ich fast platzte und fernsehen, solange ich wollte. Die gemeinsame Zeit sollte eine schöne Zeit für mich sein. Vielleicht taten sie das alles aus schlechtem Gewissen, vielleicht aber auch aus echter Liebe. Für mich blieben sie weiter Mama und Papa und ich freute mich, bei ihnen zu sein, wenn auch nur für kurze Zeit. Jahre später, als ich selbst schon Mutter war, dachte ich oft an diese Zeit zurück und daran, was das Herausreißen aus meiner Familie mit mir gemacht hatte. Ich sagte mir, mein eigener Sohn würde niemals so etwas erleben, er sollte eine glückliche Kindheit verbringen, seine Erinnerungen sollten ausschließlich positive sein. Und er sollte wissen, dass ich alles für ihn tun würde. Auch wenn es schwer war. Die meiste Zeit war ich alleinerziehend, ich musste Geld nach Hause bringen, der Spagat Job und Kind war kräftezehrend. Dennoch versuchte ich, mit meinem Sohn in meiner freien Zeit immer etwas zu unternehmen. In den Schulferien verreisten wir, oft ins Ausland, übernachteten in teuren Hotels. Ich hatte den Anspruch, ihm etwas zu bieten. Anders als in meiner Kindheit sollte es ihm an nichts mangeln, weder an Liebe und Geborgenheit noch an Geld. Um das zu ermöglichen, musste ich hart arbeiten.

Nach ein paar Monaten im Heim hörte ich immer weniger von meinen Eltern, ich denke, es lag daran, dass sie mit ihrer Gastronomie wieder sehr eingespannt waren. Auch wurden meine Wochenendbesuche bei ihnen seltener, bis sie ganz aufhörten, weil die beiden aus Bremen wegzogen. Der Kontakt brach schließlich ganz ab. Ich muss zugeben, darunter litt ich sehr. Vor Augen geführt wurde mir mein Alleinsein an jedem Wochenende, immer, wenn ich sah, wie die anderen Kinder abgeholt wurden und am Sonntagabend vollbepackt mit Süßigkeiten und Spielzeug zurückkamen. Was aus meinen Eltern wurde, habe ich nie erfahren. Später suchte ich sie, ohne Erfolg. Ich wälzte Telefonbücher, rief das Einwohnermeldeamt an, aber ich hatte keine Unterlagen, die mich legitimiert hätten, etwas offiziell in Erfahrung zu bringen. Deswegen verlief das alles im Sande. Ich hätte sie gerne noch einmal wiedergesehen und hoffe, dass es ein gutes Ende mit ihnen nahm.

Das Heim war insofern eine völlig neue Situation für mich, weil ich zum ersten Mal intensiven Kontakt zu Gleichaltrigen hatte und in einer „kindgerechten“ Umgebung lebte. Wir waren eine Gruppe von etwa 20 Kindern. Unser Schlafsaal lag unterm Dach, es gab Spielzeug, Puppen und ein Puppenhaus (das liebte ich besonders), wir bauten uns Höhlen aus Decken. Das alles empfand ich anfangs als ein großes Abenteuer. Was auch eine völlig neue Erfahrung für mich war: Es gab einen festen Tagesablauf. Wir standen morgens immer zur gleichen Zeit auf, dann frühstückten wir gemeinschaftlich, dann wurde gespielt, wieder gegessen, Mittagsschlaf gehalten und so weiter. Mein Leben bekam erstmals Struktur. Trotzdem blieb ich eine Einzelgängerin. Es gab zwar ein Mädchen in meinem Alter, mit dem spielte ich öfters, aber ich kann mich nicht daran erinnern, dass ich mich mit anderen wirklich angefreundet habe. Letztlich blieb jeder für sich, wir waren halt Heimkinder. Im Heim war es nicht anders als vorher, auch hier reizte ich Situationen aus und testete, wie weit ich gehen konnte. Dadurch machte ich mir das Leben nicht gerade einfacher. Irgendwann hatte ich eine richtig dumme Idee. Aus der Zeit mit meinen Eltern besaß ich nur ein einziges Foto, darauf waren Mama, Papa und ich zu sehen. Dieses Bild hütete ich wie einen Schatz und schaute es mir immer wieder an. Ein bisschen mit Wehmut und Sehnsucht. Die dumme Idee war eine Mutprobe – und zwar mit mir selbst. Sie bestand darin, das Foto, das mir so heilig war, zu zerstören. Ich wollte herausfinden, was ich dabei empfinden würde. Völlig verrückt. Ich zerriss das Foto voller Wut in immer kleinere Stücke, bis nur noch ein Papierhaufen vor mir lag. Erst da ging mir auf, wie bescheuert meine Aktion war. Und was ich empfand, das war Reue. Wie konnte ich nur? Jetzt war der letzte Rest von Familie aus meinem Leben verschwunden. Nicht einmal mehr anschauen konnte ich meine Eltern jetzt noch. Irgendwann vergaß ich, wie sie aussahen.

Als ich später von meinem Vormund erfuhr, dass meine Eltern nicht meine richtigen Eltern waren, löste dieses Wissen schon kaum noch etwas in mir aus. Es spielte einfach keine Rolle, weil meine Eltern sich längst aus meinem Leben verabschiedet hatten. Es fällt mir leider schwer, die Ereignisse von damals einer Jahreszahl oder meinem Alter genauer zuzuordnen. Es ging immer alles so schnell vorbei und es ist so unfassbar viel geschehen, es fehlen mir auch Orientierungen wie Fotos oder Dokumente aus der Zeit. Es gibt auch niemanden mehr, den ich heute fragen könnte, wie das damals eigentlich gewesen ist.

Herbertstraße

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