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Ich wurde nie aufgeklärt

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„Komm, ich nehm dich mit nach Hause,

dann kannst du bei mir schlafen.“

Er war nett, ich ließ mich einlullen, ich glaubte ihm.

Bremen, 1973

Eines Tages, ich war etwa acht oder neun und wohnte schon mehrere Jahre im Heim, hieß es dort plötzlich Abschiednehmen: „Du kommst jetzt mal woanders hin. Hier hat das für dich keinen Sinn mehr“, sagte die Heimleitung. Ich weinte bitterlich, denn obwohl ich mit den anderen Kindern nicht gut auskam und wir ständig stritten, hatte ich mich im Heim irgendwie auch gut eingerichtet und wollte da nicht weg. Es war mein Zuhause geworden. Ich konnte rumbutschern, ich wusste genau, wie die Tage abliefen, wie ich die Regeln umgehen konnte, um mein Ding durchzuziehen. Aber ich hatte keine Ahnung, was in einer Wohngruppe auf mich zukommen würde.

Im Laufe der nächsten Zeit – etwa bis zum zwölften Lebensjahr – lernte ich insgesamt drei Wohngruppen im Raum Bremen kennen. Immer dann, wenn es mit mir in einer nicht mehr klappte, wurde ich weitergereicht in die nächste Gruppe. Ich blieb im Schnitt etwa ein Jahr in einer Gruppe. Mein Umfeld änderte sich, ich aber blieb mir treu. Eine Wohngruppe bestand aus acht bis zehn Kindern und Jugendlichen und etwa drei Erziehern, die abwechselnd mit uns zusammenlebten und auf uns aufpassten. Kleine Gruppe bedeutete auch: mehr Kontrolle. Ich nehme mal ein Beispiel. Unsere Wohngruppe war in einem Haus mit Garten untergebracht, alles war nett anzusehen, sehr gepflegt. Man hätte sich da wohlfühlen können. Was mich nur kolossal nervte: Ständig musste jedes Fitzelchen besprochen und ausdiskutiert werden. Einmal die Woche setzten wir uns zu diesem Zweck zusammen, um zu bereden, was gut lief und was nicht. Warum verhältst du dich so, Manu? Warum hast du dies oder das getan? Findest du das richtig? Bla, bla, bla … Für mich war das nur Psychogequatsche. Und dann, zu allem Überfluss, durften wir nur eine Stunde lang am Tag fernsehen. Dabei liebte ich es fernzusehen, Krimis, Filme, was weiß ich. Schon im Heim hatte ich mich abends hinter einem Vorhang versteckt, um heimlich Tatort zu sehen, was nur den älteren Heimkindern erlaubt war.

Eine Wohngruppe sollte wie eine Familie funktionieren, wir sollten Familie „lernen“. Die Erzieher waren nun aber nicht unsere Eltern und wir Kinder keine Geschwister, noch nicht einmal Freunde waren wir. Altersmäßig klafften wir weit auseinander, der Älteste war 16, die Jüngsten acht oder neun. Im Grunde wurde dort bloß Großfamilie gespielt. Ich wollte bei diesem Theater nicht mitmachen und schlug aus Protest am Anfang gleich mal mein Zimmer kurz und klein, trat den Schrank kaputt, warf alle Sachen auf den Flur. Ich fühlte mich dort einfach nicht wohl. Dabei gab ich mir manchmal sogar richtig Mühe, mich ein bisschen einzugliedern. In diesen Phasen (die nur von kurzer Dauer waren) ging ich brav zur Schule, muckte nicht auf, passte mich an den Wohngruppenalltag an, aber lange hielt ich das nicht aus. Dann war ich wieder an dem Punkt, dass ich keinen Bock mehr hatte, ich schwänzte wieder den Unterricht, schlich mich abends aus dem Haus und hing in Diskotheken und Nachtclubs rum. Und irgendwann fing es an, dass ich regelmäßig ausbüxte. Jedes Mal wurde ich wieder aufgegriffen, musste zurück in die Wohngruppe und alles ging wieder von vorne los.

Wenn ich – vor allem während meiner Ausreißer-Touren – Sachen brauchte, habe ich sie geklaut, Schuhe, Klamotten, Essen, egal was. Und hatte dabei nicht das Gefühl, etwas Unrechtes zu tun. In meinem naiven Verständnis nahm ich mir nur das, was ich gerade brauchte, weil ich in eine Notlage gerutscht war und kein Geld besaß für Essen oder auch Kleidung. Ich brauchte schließlich frische Unterwäsche, gerade wenn ich zeitweise auf der Straße lebte, wo tägliches Duschen nicht angesagt war. Ich klaute überall dort, wo ich gerade Bedarf hatte, meistens in größeren Geschäften oder Kaufhäusern. Ich hatte so meine Tricks. Meine alten Schuhe ins Regal stellen, mit den neuen Schuhen selbstbewusst rausmarschieren. Slips steckte ich mir einfach in die Tasche.

Oder ich zog mir in der Ankleide die neuen Klamotten unter meine alten und verließ so das Geschäft. Meistens war ich geschickt genug und fiel nicht weiter auf. Na ja, es klappte nicht immer. Es kam vor, dass ich erwischt wurde. Dann wurde die Polizei gerufen, ich bekam eine Anzeige und mein Vormund wurde in Kenntnis gesetzt, der mich abholte und zurück in die Wohngruppe brachte. Selbst wenn ich angezeigt worden war, hatte das keine gravierenden Konsequenzen für mich. Außer einer Standpauke. Bei all dem dachte ich mir nicht viel. Ich glaube, es war einfach jugendlicher Leichtsinn. Übermut. Die Dreistigkeit siegte, das Unüberlegte. Ohnehin war ich planlos, was mein Leben betraf. Wie es dann weiterging, fügte sich aber doch ziemlich schnell, als ich die Anschafferei als meine Geldquelle entdeckte.

Vieles von damals ist in meiner Erinnerung verschwommen, vergessen, verdrängt, diese Jahre zwischen Heim und Wohngruppen. Das ständige Weitergereichtwerden an die Nächsten, die es mit mir versuchen sollten.

Ein Erlebnis aber hat sich mir eingebrannt, auch wenn mir erst viel später klar wurde, wie prägend es tatsächlich war. Der Leiter einer der Wohngruppen, in denen ich untergebracht war, hatte ein Auge auf mich geworfen. Er kam ursprünglich aus einem anderen Bundesland, wo er noch eine Wohnung unterhielt. An den Wochenenden fuhr er meistens dorthin. Einmal fragte er mich, ob ich nicht mal mitkommen wolle. Das wäre doch ein schöner Ausflug für mich, eine kleine Abwechslung. Ich war zu dem Zeitpunkt gerade mal zwölf und sagte ihm, ich sei einverstanden. Denn ich fand ihn irgendwie toll, für mich war es auch etwas Ungewohntes, dass mir jemand so viel Aufmerksamkeit schenkte. Ich wusste damals kaum etwas über Sexualität. Ich wurde auch nie wirklich aufgeklärt. Als wir dann in der Wohnung des Erziehers ankamen, fühlte ich mich wohl. Und auch als klar war, dass wir nachts zusammen in seinem Bett schlafen würden, machte ich mir darüber keine Gedanken. Dort ging es damit los, dass er an mir herumfummelte. Na ja, dann hatte er Sex mit mir. Es war mein erstes Mal. Ich nahm es hin, es fühlte sich für mich in dieser Situation nicht als etwas Gewalttätiges an. Er hatte mich nicht geschlagen oder gesagt, ich müsse das jetzt tun. Ich dachte, das gehört dazu, wenn man jemanden mag. Ich wusste es nicht anders.

Heute weiß ich, dass mich dieser Erzieher sexuell missbraucht hat. Inwieweit diese Erfahrung meinen weiteren Werdegang beeinflusste, kann ich nicht sagen. Ich glaube, auch ohne den Missbrauch wäre alles so gekommen, wie es kam. Aber wer weiß das schon. Natürlich hat das etwas in mir kaputtgemacht, aber in dem Moment spürte ich es nicht. Erst jetzt, da ich meine Geschichte aufschreibe, kommt vieles wieder hoch und wird mir erst wirklich bewusst. Erlebnisse, die verschüttet waren. Damals hatte ich keine Zeit zu überlegen, weil ich überleben musste. Ich lebte von heute auf morgen.

Mein Misstrauen gegenüber Menschen, das Gefühl nicht gewollt zu sein, das zieht sich durch mein Leben. Und der Missbrauch fühlte sich für mich an wie ein Gewolltwerden. Ich hatte immer wieder Beziehungen, aber keine davon hat lange gehalten. Weil ich oft hintergangen wurde, wuchs mein Misstrauen im Laufe der Jahre an. Es gab Männer, die mir die Welt zu Füßen legen wollten. Aber wenn für mich Ende ist, ist Ende. Da kann auch einer mit einer Million kommen. Ich meine, ich liebe das Geld, aber so sehr auch nicht. Man kann sich im Leben nichts erkaufen und meine Liebe sowieso nicht.

Herbertstraße

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