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100 Meter Prostitutionsgeschichte

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Verrückt, einzigartig, durchgeknallt.

Das alles ist die Herbertstraße.

Den Möglichkeiten sind hier keine Grenzen gesetzt.

Ich bin auf dem Weg zu meiner Schicht und parke, wie meistens, meinen Wagen auf der Davidstraße, die von der Reeperbahn bis zur Hafenstraße verläuft. Schaut man von deren Mitte aus in Richtung Elbe, sieht man die hoch aufragenden, imposanten Kräne im Hafen, deren Lichter in der Dunkelheit leuchten. Vorne zur Reeperbahn hin liegt an der Ecke das Polizeikommissariat 15, ein Rotklinker, besser bekannt als Davidwache, die berühmteste Polizeiwache der Republik. Ich stelle mir gerne vor, dass ihre Nähe meinen Wagen vor Autodieben schützt. Bislang jedenfalls ist noch nichts passiert. Zu den Beamten der Davidwache hatte ich immer einen ganz guten Draht, ehrlicherweise habe ich die Wache nicht nur einmal von innen gesehen. Gerne denke ich an Margot Pfeiffer, die Bürgernahe Beamtin der Davidwache. Kaum eine kennt den Kiez und seine Frauen so gut wie sie. Sie war auch ewig dabei, ist aber kürzlich in Rente gegangen. „Ach dich gibt es auch noch, Manuela“, sagte sie, wenn sie an mein Fenster kam – sozusagen von Urgestein zu Urgestein.

Auf halber Höhe der Davidstraße biege ich jetzt in die Herbertstraße ein. An beiden Enden der schmalen, nur für Fußgänger zugänglichen Gasse werden die Eingänge jeweils von einem hohen Sichtschutz begrenzt. Darauf kleben Bilder von Frauen in knappen Bikinis – die Werbung für eine Internetplattform, die Seitensprünge vermittelt. Genau dort, an der Ecke Davidstraße und Herbertstraße, vor der Kneipe Zum Anker, fing alles für mich an. Mein „Dilemma Reeperbahn“, wie ich es scherzhaft nenne. Genau an dieser Stelle befand sich mein erster Standplatz auf dem Hamburger Straßenstrich, das war in der Phase, bevor ich zur Domina wurde. Heute sind an dieser Ecke keine Mädchen mehr, der Straßenpuff „Haus 11“, in dem ich in der Davidstraße gearbeitet habe, existiert nicht mehr.

St. Pauli, die Hamburger Rotlichtszene, ist eine Welt für sich, mit ihren eigenen Gesetzen, ihren Geschichten und Gesichtern. Und die Herbertstraße ist eine Welt in dieser Welt, die Essenz dessen, was viele mit Verruchtheit und schmutzigen Geheimnissen verbinden. Die Herbertstraße ist ein Mythos. Von dem leben wir, ihre „Bewohner“, sehr gut. Immer noch, auch wenn sich vieles verändert hat im Vergleich zu meinen ersten Jahren hier. Die Herbertstraße ist aber auch ein geschichtsträchtiger Ort, ein Spiegelbild dessen, wie sich das Ansehen unseres Gewerbes im Laufe der Jahrhunderte verändert hat. Bei aller Toleranz und allem Liberalismus der heutigen Gesellschaft, machen wir uns nichts vor, ich weiß die Blicke zu deuten, wenn ich Fremden erzähle, womit ich mein Geld verdiene. Bevor ich die Historikerin gebe, halte ich mich an dieser Stelle an diejenigen, die alles (besser) wissen. Wikipedia schreibt im Sommer 2021 sinngemäß:

Die Herbertstraße, bis 1922 hieß sie noch Heinrichstraße, die seit Beginn der Bebauung im 19. Jahrhundert zur Prostitution von heute rund 250 Frauen genutzt wird, ist etwa 100 Meter lang, in den Häusern sitzen die Prostituierten auf Hockern in den Fenstern, sie kobern, präsentieren sich und warten auf Freier, sprechen die männlichen Passanten bei geöffnetem Fenster an. Die Straße ist nicht nach einer speziellen Person benannt, sondern Teil eines Konzeptes, männliche Vornamen mit alphabetisch fortschreitenden ersten Buchstaben zu verwenden, genau wie bei der benachbarten Davidstraße. Während der NS-Zeit herrschte ein Verbot von Prostitution. Da dies auf St. Pauli nicht konsequent durchgesetzt werden konnte, wurden diese Tätigkeiten nur in einer Gasse geduldet – in der Herbertstraße. Damit niemand im Vorbeigehen sehen konnte, was nicht sein durfte, ließ die Gauleitung 1933 Sichtblenden an beiden Enden der Straße errichten. An diesen Barrieren sind seit den 70er-Jahren Schilder angebracht, die Minderjährigen und Frauen den Zutritt zu verbieten versuchen. Diese Schilder wurden von der Polizei zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und auf Bitten der Prostituierten angebracht. Juristisch ist die Herbertstraße allerdings ein öffentlicher Weg und darf von allen betreten werden.

Auch wenn Passantinnen der Zutritt zur Herbertstraße also gar nicht verwehrt werden darf, die Mär des Verbots hält sich in den Köpfen der Menschen und macht die Straße natürlich noch interessanter. Gern gesehen werden flanierende Frauen von denjenigen, die hier arbeiten, dennoch nicht. Ich persönlich mag es auch nicht, es ist nicht gut fürs Geschäft, weil die Gäste gehemmt sind, sie fühlen sich beobachtet. Wenn früher eine Frau durch die Straße ging, war echt was los, dann bin auch ich manchmal raus aus dem Fenster und pöbelte sie an. „Verpiss dich, gaff nicht rum!“ Wenn die erste Hure anfing zu keifen, setzte sich das Gezeter von Haus zu Haus fort, bis die ganze Straße in den Reigen eingestimmt hatte. Auch kippte man Kaffee oder Wasser auf die unerwünschten Besucherinnen, manchmal traf man dabei aus Versehen einen Gast. Paul, mein langjähriger Mitarbeiter, von dem ich noch berichten werde, schob und scheuchte sogar einmal eine Touristin aus der Straße, indem er sie mit ausschweifenden James-Last-Dirigierbewegungen vor sich hertrieb und währenddessen mit rollendem R „Rrrrrraus hier, jetzt aber rrrrrraus!“ skandierte. Eine Szene zum Niederknien. Also, es war alles andere als eine freundliche Begrüßung, die eine Frau bei uns Frauen erwartete. Heute ist es harmloser, wir sehen alles etwas lockerer. Lass die Olle doch durchflitzen, denke ich. Manchmal kommen Frauen ja auch mit ihren Männern in die Herbertstraße. Ich selbst hatte schon Ehepaare auf dem Zimmer.

Ich betrete die Herbertstraße durch die eisernen Sichtblenden. Es ist für mich viel mehr als nur der Gang zu meiner Arbeitsstelle – diese Gasse ist schon lange so etwas wie mein zweites Zuhause. Weil ich jeden Pflasterstein kenne, die meisten der Frauen, die kamen und gingen und viele von denen, die heute hier arbeiten. Ich weiß – bei aller Distanz und Konkurrenz, die es unter uns gibt – von ihren Sorgen und Nöten.

18 Häuser und eine Einzelschotte (hier sitzt nur eine Frau) säumen die Herbertstraße, in fünf von ihnen habe ich gearbeitet. Am längsten in der 7a, meinem aktuellen Arbeitsplatz, seit 20 Jahren bin ich hier, so lange wie nirgends zuvor. Ich wohnte auch nie so lange in einer Wohnung, wie ich jetzt schon in meinem Dominastudio bin. Zuhause – dieses Wort trifft es also ziemlich gut, wenn ich an die Herbertstraße denke.

Am liebsten gearbeitet habe ich – bevor ich in die 7a kam – im sogenannten French Quarter, ein Ensemble von drei nebeneinander liegenden Häusern, die heute innen miteinander verbunden sind und außen durch die pinkfarbenen Plastikmarkisen über den einzelnen Fenstern besonders auffallen. Die Herbertstraße ist in jeder Hinsicht ein bunter Ort. Die Häuser, ein- zwei-, maximal dreistöckig, sind blau, rot, pink, gelb, grün gestrichen, alle mit viel Patina. Gäbe es nicht die Fenster auf Fußgängerebene, in der wir Frauen sitzen, würde die Gasse fast dörflich anmuten. Mein

erstes Fenster befand sich ebenfalls in einem Hinterhof. Es war damals ein Riesenglück, dass ich überhaupt in die Herbertstraße wechseln konnte, weil gerade ein Platz frei geworden war. Zu dem Zeitpunkt arbeitete ich noch als „normale“ Prostituierte. Mit mir im Hinterhof saß damals eine Frau auf Stiefeln. Ich beobachtete sie und bekam schnell mit, dass das Geschäft bei ihr immer brummte. Dominant zu arbeiten, dachte ich, war eine Vorstellung, die mir gefiel. Aber: Ein Haus, eine Domina, so war die Regel. Die musste ich akzeptieren. Bis, ja, bis diese Domina irgendwann Urlaub machte und ich meine Chance bekam …

Während ich noch die letzten Meter durch die Herbertstraße laufe, bevor ich in meinen Hinterhof einbiege, grüße ich links und rechts die wenigen Frauen, die zu dieser späten Stunde noch arbeiten. Ich frage, wie es ihnen geht, wie das Geschäft heute Nacht läuft. Manchmal können die anderen mich auch nerven, aber seit dem ersten Lockdown der Coronapandemie sehe ich vieles anders, da freue ich mich, sie zu sehen. Denn damals war die Stimmung richtig gruselig. Die Straße war so leer, eine wirklich schwierige Zeit für uns alle. Ich war nur noch traurig und dachte an die Hoch-Zeiten der Herbertstraße, als es noch kein Onlinedating gab. Damals war die Straße immer proppenvoll, am Tag genauso wie in der Nacht. Das kann man mit heute gar nicht vergleichen. Ob Montag, Dienstag, Mittwoch, Donnerstag, Freitag und erst recht am Wochenende – immer war die Hölle los und ich konnte mir die Gäste aus der Masse herausfischen. Konnte meine Angel aus dem Fenster werfen und hatte jedes Mal einen dicken Fisch am Haken. Diese Zeiten sind endgültig vorbei.

Jetzt bin ich in der 7a angekommen, es ist so weit. Meine Schicht beginnt. Und ich verwandle mich.

Herbertstraße

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