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2 Die wunderbare Lichtung, Sommer 2003
ОглавлениеWas nun? Unschlüssig stieg ich vom Rad. Der Weg gabelte sich an dieser Stelle. Welchen sollte ich nehmen? Den rechten oder den linken? Ich atmete ein paar mal tief durch und genoß die würzige Waldluft. Mit einem Griff vergewisserte ich mich, ob die Decke, und mein Rucksack auf dem Gepäckträger hielten. Ich blickte erneut die beiden Wege entlang. Der rechte lud ein, denn ein Schild kündigte einen See an. Trotzdem entschied ich mich für den linken. Möglicherweise lag es an den Sonnenstrahlen, die gebündelt durch das dichte Blattwerk der Buchen fielen und am Ende den Weg erleuchteten.
In diesem ungewöhnlich großen, unbesiedelten Waldgebiet fand ich sicherlich was ich suchte, Ruhe und Zufriedenheit, Abstand vom betriebsamen Alltag und dem Lärm der Stadt. Manchmal glaubte ich selbst in der Kleinstadt noch fehl am Platz zu sein, da mir die Natur viel näher war. Ich stieg wieder auf mein Rad und fuhr los. Wie um meine Gedanken zu strafen flog in diesem Augenblick ein Düsenflieger über mich hinweg. Ich zuckte zusammen, doch zum Ohren zuhalten kam ich nicht mehr. Er flog so tief, daß er beinahe die Baumkronen berührte. Ich blickte ihm böse hinterher.
Während der Fahrt, unter den hohen Buchen, genoß ich den kühlen Schatten, den sie spendeten. Buchen schafften Klarheit, wo gedankliches Durcheinander herrschte. Ein bißchen besserte sich meine Laune tatsächlich. Ich dachte nicht mehr ständig an diesen dummen Verleger, der meine Bilder und Geschichten nicht mehr wollte und mir grundlos gekündigt hatte. Eine bodenlose Frechheit. Mir wurde flau im Magen als ich an seine plumpen Versuche dachte, mich in sein Bett zu bekommen, indem er mir eine Vertragsverlängerung anbot. Von wegen. Und dabei waren meine Comics gut. Klar nicht jedem lag das Mittelalter, doch brachten die Bildergeschichten den heutigen Menschen die alte Zeit näher, und waren gleichzeitig unterhaltend. Mir gefielen sie jedenfalls und meinen Lesern auch.
Der Buchentunnel kam mir gerade recht, da selbst der Fahrtwind, der mir lauwarm durch mein rotes Baumwollkleid strich, keine Kühlung brachte. Schon seit Wochen hielt das warme Wetter an. Warm? Ach was, das beschrieb nicht annähernd die Wahrheit, es war brütend heiß. Nach einigen hundert Metern Fahrt endete der Buchentunnel unvermutet. Ich spürte, wie die Sonnenstrahlen an Kraft gewannen; denn als ich den Schattenkreis der Bäume verließ, wärmten sie mich wieder.
Nach etwa einem Kilometer Fahrt sah ich plötzlich linker Hand einen Hohlweg liegen. Beinahe wäre ich daran vorbeigefahren, ohne ihn zu bemerken. Ich stoppte meine Fahrt, stieg ab und schob mein Rad das kleine Stück zurück.
Ohne ersichtlichen Grund atmete ich mit einem Mal flach. Ich meinte, eine Stimme zu hören die meinen Namen rief und fühlte mich unweigerlich von diesem Pfad angezogen.
Er führte bergab, begrenzt von großen Eichen und dichtem Gebüsch. Ein seltsames Licht schimmerte innerhalb des Weges. Die Sonne versuchte ohne Erfolg, ihre Strahlen durch das dichte Geäst der Büsche und Bäume hindurchzuzwängen, trotzdem leuchtete der Pfad in einem weißlichen Licht. Er lockte mich, den ersten Schritt zu wagen. Trotz meiner seltsamen Empfindungen, und obwohl sich etwas in meinem inneren sträubte, stellte ich mein Rad an einer kleinen Birke außerhalb des Hohlweges ab, nahm meinen Rucksack und die Decke und wagte diesen ersten Schritt. Er war leicht, auch der nächste und übernächste. Was erwartete ich auch? Daß mich eine Raubkatze ansprang? Ich folgte, grundlos außer Atem, den Windungen des Pfades, bis mich eine wild gewachsene Buschhecke am Weitergehen hinderte. Sollte dieser wundervolle Weg eine Sackgasse sein? Mit den Augen suchte ich in dem knorpelig gewachsenen Gebüsch eine Öffnung und entdeckte tatsächlich eine Lücke. Gerade so groß, daß ich hineinpassen würde. Ohne weiter über das seltsame Gefühl in meiner Magengegend nachzudenken, zwängte ich mich hindurch und richtete mich schwer atmend auf der anderen Seite wieder auf, um im selben Augenblick die Luft anzuhalten.
Ich glaubte zu träumen, denn ich stand auf einer von Laub- und Nadelbäumen und der dichten Hecke umsäumten Lichtung. Jegliche Sicht nach außen war verwehrt. Ich konnte mich nicht erinnern, schon einmal Wundervolleres als diese Lichtung gesehen zu haben. Auf der Wiese wuchsen wilde Blumen, leuchteten bunt aus den vielfältigen Grüntönen der Gräser. Schmetterlinge, Bienen, Hummeln und vielerlei Kerbtiere und Käfer tummelten sich darauf.
In der Mitte der Lichtung lag ein Steinkreis, wie gewollt niedergelegt, bestehend aus zwölf Steinen ungleicher Gestalt und Farbe. Und in der Mitte des Steinkreises stand eine Linde: riesig, uralt und überirdisch schön.
In den Bäumen rund um die Lichtung zwitscherten die Vögel, und hoch über mir, über der Linde, sang eine Lerche ihr schwermütiges Loblied. Seltsam, in der Linde selber konnte ich keinen einzigen Vogel entdecken. Ich fühlte mich überwältigt. Bezaubert. Alles wirkte vollkommen, und doch unwirklich. Als wäre die Lichtung nicht von dieser Welt. Fehlte nur, daß ich eine Elfe auf einer der Blumen sitzen sah, oder einen Zwerg um einen der Bäume blickend. Verzaubert ging ich weiter und stellte mich unter die Linde. Mir wurde unheimlich zumute. Ich glaubte, diese starke Kraft des Baumes kaum ertragen zu können. Überwältigt von dem Gefühl, schluckte ich schwer. Es gab keinen Zweifel, ich befand mich an einem heiligen Ort, einer Kraftquelle. Einer Verbindung zwischen Himmel und Erde.
Offensichtlich war ich seit langem der einzige Besucher, denn menschliche Spuren sah ich nirgends. Das erschien mir allerdings mehr als seltsam. Wie konnte solch eine Lichtung keine Beachtung finden? An diesem Ort gab es heilige Kraft. Ich legte meine Sachen nachdenklich auf den Boden, trat dicht an die Linde und wagte es, den Baum zu umarmen. Ich spürte die raue Rinde an meiner Wange, während ein leiser Wind durch die Blätter rauschte.
Mir war, als hörte ich ein Lied, und es klang verrückt, als käme in diesem Lied mein Name vor. Gefühle von Freundschaft, Liebe und Verbundenheit mit der Erde, dem All, überwältigten mich so heftig, daß mir die Tränen kamen. Ich glaubte, die Lebensader des Baumes zu fühlen. Eine Kraftwelle erfaßte mich, trug meinen Geist in schwindelnde Höhen, hinauf in die Lindenkrone. Einer Ohnmacht nahe, schloß ich die Augen, drückte mich fester an den Stamm, um nicht zu stürzen. In meinem Kopf wirbelten Lichter und Farben durcheinander. Ich hatte das Gefühl, mein Blut kochte über, derweil das Lied immer mehr drängte. Erschrocken schaffte ich es, einige Schritte vom Baum wegzutreten. Diese ungeheure Kraft war zu stark für mich. Es dauerte eine Weile, bis ich mich wieder gesammelt hatte.
Um mich abzulenken, schaute ich mich erneut auf der Lichtung um. Erst jetzt entdeckte ich, daß diese von weiteren Tieren bevölkert wurde, als wären sie aus dem Nichts aufgetaucht. Kaninchen saßen im Gras, blickten kauend zu mir herüber und in einiger Entfernung lag ein zusammengerolltes Rehkitz, dicht bei ihm döste die Mutter in der Sonne. Eichhörnchen kletterten ohne Scheu in den Ästen der Hecke umher, und Haselmäuse tummelten sich zwischen den Gräsern. Zwei spielende Füchse versetzten mich in maßloses Erstaunen. Sie tollten umher, doch nicht eines der anderen Tiere schien über ihre Anwesenheit im Geringsten beunruhigt. Die Füchse ihrerseits kümmerten sich nicht um sie. Herrschten hier andere Gesetze? Wo waren die Tiere zuvor gewesen? Wie hatte ich sie übersehen können? Zumal keines Angst vor mir zeigte. Ich bückte mich vorsichtig und streichelte zaghaft, mit einem Finger eine Maus, ehe diese geschäftig und ohne Angst, davoneilte. Ich konnte es nicht fassen.
Noch immer stand ich unter der riesigen Linde und schaute verwirrt, als Winzling diesem Riesen in die Krone. Kopfschüttelnd breitete ich meine Decke aus und ließ mich darauf nieder, denn ich fühlte mich seltsam, dabei angenehm müde. Ich holte meine Wegzehrung, den Zeichenblock und die Bleistifte aus dem Rucksack. Die Äpfel lachten mich an, ich entschied mich jedoch, zuerst auf Papier zu bringen, was ich sah. Als ich das Deckblatt meines Blockes öffnete, stieg der Ärger wieder in mir auf. Bloß weil ich nun keine Arbeit mehr hatte, konnte ich die Verwirklichung meines Traumes vergessen. Trotzdem konnte ich den Gedanken, mir die Truhe bauen zu lassen, die ich einem inneren Bild zur Folge aufgezeichnet hatte, nicht ohne weiteres abschieben. Ursprünglich wollte ich ja einen Schauplatz für meine neue Geschichte zeichnen, da sah ich die Truhe vor meinem geistigen Auge stehen. Keltische Laufmuster zierten sie, und selbstredend hatte sie ein Geheimfach. Der Wunsch, sie in meiner kleinen Wohnung stehen zu haben, war übermächtig. Ich sollte schnellstens wieder einen Verlag finden, der sich für mittelalterliche Comics begeisterte und ich mußte gleich morgen bei der Burgschreinerei anrufen, denn meine Rohzeichnungen mit der Bestellung würden sicherlich inzwischen dort angekommen sein. Diese Angelegenheit hatte zu warten, dafür hatte ich im Augenblick wirklich kein Geld übrig.
Entschlossen, meinen Grübeleien ein Ende zu setzen, blätterte ich weiter bis zum nächsten leeren Blatt. Wenn es mir gelang, dieses unglaubliche Bild mit der Linde auf der Lichtung einzufangen, konnte ich die Zeichnungen gegebenenfalls ausstellen und fand sogar einen Käufer. Meine Hand flog nur so über das Papier. Es war unheimlich, als führte sie ein anderer, so schnell ging es.
Nachdem ich die letzte Zeichnung beendet hatte, verstaute ich den Zeichenblock und die Stifte wieder in meinem Rucksack. Nun konnte ich in Ruhe essen. Genüßlich biß ich in eine Scheibe Brot, während ich einen gold schimmernden Käfer beobachtete, der sich auf meine Decke verlaufen hatte. Auf der anderen Seite lief eine Kreuzspinne, die im Eilschritt versuchte, von den fusseligen Fasern der Decke herunterzuflüchten. Der Wind rauschte sacht in den Lindenblättern über mir. Mir wurden die Lider schwer.
Die Naturgeräusche, das Brummen und Surren der Käfer und Bienen, der Vogelgesang, die Lerche hoch oben, das Rauschen des lauwarmen Windes in den Blättern, das Zirpen der Grillen und die heißen Sonnenstrahlen ließen mich zufrieden und schläfrig, die Augenlider schließen. Ich fühlte ein Lächeln auf meinen Lippen, als ich mich auf den Rücken legte. Während ich die Arme unter meinem Nacken kreuzte, spürte ich wie sich mein Haarknoten löste und die Haare sich fließend auf der Decke ausrollten. Ich öffnete die Augenlider wieder und schaute in den Lindenbaum. Es fiel mir jedoch immer schwerer sie geöffnet zu halten, obwohl in meinem Kopf die Gedanken tobten.
Das mittelalterliche Lied Unter den Linden von Walter von der Vogelweide, kam mir in den Sinn. Leise summte ich es vor mich hin und verdrängte dadurch, für einen Augenblick, das seltsam lockende Summen der Lichtung und der Linde. Doch immer mehr driftete mein Geist ins Land der Träume ab, es war so unendlich schwer, sich zu sammeln. Die Geräusche verschwammen immer mehr, wurden leiser. Das Lied, das mich rief, wurde stärker, drängender. Ab und zu blinzelte die Sonne durch eine Lücke der Lindenblätter und der Sommer erfüllte die Luft. Das Sonnenlicht drang durch meine geschlossenen Augenlider. Ich hörte erneut meinen Namen, leise und eindringlich, keinen Widerspruch duldend. Dann ließ ich mich fallen. Ich hörte auf, dagegen anzukämpfen. Ich folgte dem Ruf und schlief ein.
Augenblicklich träumte ich: Mein Geist wanderte zur Linde, durch den Stamm hindurch arbeitete ich mich bis zum Kern des Lindenbaumes vor. Ich sah die Jahre des Baumes an mir vorbeiziehen, als blickte ich entgegen der Fahrtrichtung aus einem Zugabteil. Am Ende befand ich mich mitten in der Linde und verschmolz mit der Seele des Baumes. Ich konnte wie die Linde fühlen. Empfand Liebe zu allen Wesen. Ich wußte, die Linde hatte mich gerufen, wußte für Augenblicke alles, ...ehe die Ewigkeit mich umfing.