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4 Das Erwachen

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Etwas stimmte nicht, dessen war ich mir bewußt noch bevor ich meine Lider öffnete. Ich zitterte am ganzen Körper. Als ich die Augen aufschlug, suchte ich sofort einen Anhaltspunkt in der Lindenkrone, doch mein Blick irrte wild suchend umher. Die Linde war nicht mehr da! Jedenfalls nicht in der gleichen Art wie zuvor. Die Linde, unter der ich jetzt lag, war ein höchstens dreißig, möglicherweise vierzigjähriger Baum. Ein unangenehmer, kalter Wind, der einen eisigen Regen vor sich herpeitschte, riss an seinen Ästen und an mir. Mit einem Ruck sprang ich auf die Beine. Ich fror so erbärmlich, und der Wind drückte mir das nasse Kleid an den Körper. Entsetzt stellte ich fest, daß ich zwar auf einer Lichtung stand, außer den angeordneten Steinen jedoch nichts der anderen Lichtung glich. Oder handelte es sich womöglich doch um dieselbe? Nur viel jünger! Die Hecke und die Steine glichen den anderen. Gleiche Anzahl, gleiche Farben und Gestalt der Steine.

Aber wo waren die Tiere? Ein leises Kribbeln wanderte meine Wirbelsäule hinunter. Ich näherte mich ungewollt einer übermächtigen Angst. Abgesehen von diesen erschreckenden Erkenntnissen, drang allmählich in mein Bewußtsein, daß der Hochsommer von einem kalten, regnerisch ungemütlichen Herbsttag abgelöst worden war. Die Blätter der Bäume leuchteten rot, gelb und braun, während sie von dem eisigen, starken Wind gebeutelt, wild tanzend auf die Erde nieder fielen.

Schlotternd flocht ich meine schweren, nassen Haare zu einem Zopf, zu dumm daß ich kein Gummi zum zusammenbinden mit hatte. Das konnte doch nur ein Alptraum sein, ein äußerst wirklichkeitsnaher allerdings, räumte ich mir ein. Ohne weiter auf meine klappernden Zähne zu achten und auf die Kälte, die mir durch Mark und Bein drang, dachte ich nach. Mit Vernunft mußte ich dem Spuk doch auf den Grund kommen und ihm ein Ende bereiten können. In der Hoffnung, mich damit wärmen zu können, hob ich meine Decke auf, doch meine Erwartung wurde jäh zerstört, denn sie hing bleischwer und naß in meiner Hand. Ich ließ sie fallen. Das war doch lächerlich! Ärgerlich nur, daß mir nicht nach Lachen zumute war. Ich nahm meinen Rucksack und schaute hinein. Er hatte Gott sei Dank dicht gehalten. Zufällig berührten meine Finger den Zeichenblock. Was fand ich wohl, wenn ich hineinsah? Vorsichtig, damit der Regen nicht auf die Papierblätter fiel, öffnete ich den Block und schaute nach. Ich hatte mich nicht getäuscht: Die Zeichnungen der Lichtung, der Tiere, das Selbstbildnis und die Zeichnungen der Truhe waren noch da. Ich lachte wider Willen.

„Ich habe doch nicht ein halbes Jahr verschlafen?“ Ich schnitt mir selber eine Grimasse. Was war denn jetzt Traum, was Wirklichkeit?

„Verdammt, wo ist denn hier die Vernunft?“

Im meinem Hinterkopf sang Herbert Grönemeyer, mich auslachend: „Was soll das?“

Ich mußte unbedingt zu meinem Rad, um ins Dorf zu fahren und andere Menschen zu sehen, sonst drehte ich durch. Gedankenversunken legte ich meine Decke zusammen, befestigte sie an meinem Rucksack und hängte ihn mir um. Ich versuchte mich zu sammeln, doch das Gefühl, neben mir zu stehen, ließ sich nicht vertreiben. Und wenn es doch bloß nicht so kalt wäre. Verzweifelt machte ich mich auf die Suche nach meinem Rad. Ich mußte so schnell wie möglich mit einem vernünftigen Menschen reden. Einem, der mir sagte, daß mein Erlebnis völlig alltäglich sei, und der für die seltsamen Ereignisse eine verständliche Erklärung verfügbar hatte.

Bestimmt war dies nur wieder ein Versuch der Mächtigen und Wissenschaftler, das Wetter der Welt zu beherrschen, welcher dieses Mal geglückt oder auch mißglückt war. Und diese riesige, uralte Linde? Die war ein Trugbild, Kraft meines Wunsches, eine solche einmal zu sehen, tatsächlich jedoch gar nicht vorhanden.

Die Linde! War es ihr betörender Duft, der mir die Trugbilder in den Kopf pflanzte? Am Ende bewahrheiteten sich die Geschichten von den Menschen, die nach einem Schläfchen unter einer Linde Wahnvorstellungen bekamen, oder gar nicht mehr aufwachten! Ich bekam Angst und je mehr Angst sich meiner bemächtigte, umso mehr fror ich. Fest drückte ich meine Arme an mich, als könnten sie mir Halt geben. Die Angst im Nacken, begann ich zu laufen. Ich lief in die Richtung, aus der ich glaubte, gekommen zu sein. Tatsächlich fand ich die Lücke wieder. Sie hatte sich ebenfalls verändert. Nachdem ich hindurchgeschlüpft war, verlor ich gänzlich den Weg. Kein Baum glich in Größe oder Aussehen denen, die ich zuvor gesehen hatte. Ich fand weder den Hohlweg, noch mein Fahrrad. Wurde es gestohlen? Es mußte doch hier sein!

So blieb mir also nur, zu Fuß zum Dorf zu laufen. Es lag nur wenige Kilometer entfernt von hier. Ein Schauer durchlief mich. Die Angst, das Dorf könnte sich nicht mehr an der Stelle befinden, wo ich es vermutete, ließ mich schneller laufen. Dem Himmel sei Dank, hörte der Regen auf.

Ich lief und lief so weiter, dennoch, die Gegend sah so anders aus. Wo waren die Wege? Wo die Kreuzung? Ich erkannte nichts wieder. Mein Magen krampfte sich zusammen. Ich glaubte, eine sich windende Schlange darin zu fühlen. Ein Gutes konnte ich meinem schnellen Lauf abgewinnen: Mein Kleid und meine Haare, die sich wieder gelöst hatten, trockneten, und mein Körper erwärmte sich. Dafür schnürte ein eisiges Band mein Herz ein. Wie eine Klammer, welche mir die Luft zum Atmen nahm. Immer öfter flog mein Blick nun hinter mich, da ich das Gefühl nicht los wurde, daß mir jemand folgte. Das Gegenteil jedoch war der Fall, ich sah keine Menschenseele. Der Wald wollte und wollte kein Ende nehmen. Ich fand weder das Dorf, geschweige einen Menschen. Unbewußt hatte ich schon damit gerechnet, aber ich wollte die Hoffnung nicht aufgeben.

Nach meinem Gefühl mußte ich wohl mindestens eine Stunde gelaufen sein, vermutlich länger, als ich, verzweifelt und erschöpft, am inzwischen erreichten Waldrand eine Pause einlegte. Ich ließ mich schwer auf die Erde fallen und lehnte mich matt an einen Baumstamm. Da entdeckte ich sie. Die fünf Jungen liefen, Fangen spielend, den Hang hinauf. Der heftige Regenguß vor etwa einer Stunde war von einem wärmenden Sonnenschein abgelöst worden. Wild stoben sie durch das Herbstlaub der vereinzelt stehenden Eichen und Buchen.

Überraschend blieb Bennet stehen. Die vier Nachfolgenden liefen auf, da sie ihre Köpfe gesenkt hielten um nach Eicheln auszuschauen. Ärgerlich blickten sie auf, um über Bennet ein Donnerwetter loszulassen, als auch sie den Grund seines unerwarteten Stehenbleibens entdeckten.

Eine Frau kam auf sie zu. Sie war keine gewöhnliche, denn sie trug einen Hauch von Stoff an ihrem Körper, der wie Feuer zu lodern schien. Ihre dunkelroten Haare wehten wild. Mit ihren schwarzen Augen starrte sie jeden einzelnen von ihnen an. Die Sonne schien sie von hinten in Brand zu setzen. Ihr Blick war wild und gehetzt. Sie schien erstaunt und blieb stehen. Bennet trat einen Schritt zurück, mitten auf Dub‘s Füße, da dieser geradewegs hinter ihm stand. Die Frau sprach sie an, oder doch nicht?

„GottseiDank, daßicheuchhiertreffe. Könntihr mirhelfen? Ich habemichirgendwieverlaufen!“

Bennet verstand kein Wort. Womöglich sprach sie gerade eine Beschwörung über sie? Angst griff wie eine Klaue nach seinem Herzen. Weg, sie mußten hier weg, und zwar sofort. Weg von dieser wilden Wicka der schwarzen Seite, die vermutlich nur darauf wartete, unschuldige Knaben zu opfern!

„Bestimmt verflucht sie uns gerade!“ Bennet sprach aus, was auch die anderen dachten. In wilder Aufregung stoben sie den Abhang hinunter.

Ich konnte es nicht fassen. Endlich hatte ich Menschen gefunden. Anstatt mich jedoch mit ihnen unterhalten zu können, flohen die Jungen vor mir. Weshalb hatten sie mich so angestarrt? War denn mein Anblick so schrecklich? Ich sah die Kinder den Hang hinunterhetzen. Es blieb keine Zeit weiter darüber nachzudenken, ich mußte hinterher. Schon zulange irrte ich in diesem Wald umher, ohne die geringste Spur oder einen Anhaltspunkt zu finden, der auf eine Stadt oder ein Dorf hinwies. Nicht nur, daß ich das Gefühl hatte, mich in einem anderen Wald zu befinden, denn dieser war viel wildwüchsiger und ursprünglicher als der andere, sogar die Beschaffenheit der Pflanzen schien mir fremd. Die Luft, die ich atmete, war rein und klar, schmeckte beim Luftholen gut. Die Bäume strahlten Gesundheit und Kraft aus. Dichtes Unterholz hatte mir ständig das Laufen erschwert, und ich hatte solch einen urwüchsigen Wald nie zuvor in meinem Leben gesehen. Ja, selbst die Kinder kamen mir fremdartig vor. Eher kleinwüchsig von Statur, doch gesund, stämmig und stark. Sie strahlten eine Leistungsfähigkeit aus, die nur in einer gesunden Umwelt zu erlangen war. Wüßte ich es nicht besser, ich glaubte, mich im Mittelalter zu befinden. Wußte ich es denn besser? Mein Unterbewußtsein nagte zweifelnd an meinem Schutzschild. Die Kleidung der Jungen ließ darauf schließen... ihr Gehabe... der Wald... Lächerlich, in welche Bahnen sich meine Gedanken verirrten. Wahrscheinlich spielten die Jungen gerade Robin Hood und schreckten vor mir zurück, weil sie niemanden erwartet hatten. Es schien hier auch recht einsam zu sein. Wie um alles in der Welt hatte ich mich derart verlaufen können? Ich erkannte nichts wieder, und das Dorf schien wie vom Erdboden verschluckt. Ich fühlte mich wie in einer meiner eigenen Bildergeschichten. War es möglich, daß sich jemand einen solch grausigen Scherz mit mir erlaubte und mich im Schlaf an einen anderen Ort gebracht hatte? Aber wer? Das war hirnrissig! Mein Schlaf war leicht, und meinen Freunden traute ich solch eine Gemeinheit nicht zu. Und was geschah dann? Da war sie wieder, die Angst, ohne Vorwarnung.

Ich lief hinter den Jungen her immer den gleichen Abstand haltend. Ich sah, daß die Kinder ihren Lauf beschleunigten, als sie merkten, daß ich ihnen folgte. Mein Herz klopfte bis zum Hals hinauf, und das Gefühl, daß hier nichts stimmte, verließ mich nicht mehr.

Schließlich erblickte ich vor mir ein paar kleine Häuser. Selbst diese, so stellte ich mit Unbehagen fest, sahen so gar nicht zeitgemäß aus. Klarer Fall! Endlich begriff ich. Ich befand mich auf dem Gelände eines Museumsdorfes. So mußte es sein! Hier veranstalteten Mittelalterliebhaber ihre Treffen. Aber wieso hatte ich nicht davon in der Zeitung gelesen? Und meines Wissens gab es in der Gegend kein Museumsdorf, das hätte ich mir doch nicht entgehen lassen.

Ich sah die Jungen wild mit den Armen gebärdend im Dorf ankommen. Sie riefen laut. Nach und nach kamen von allen Seiten Leute und hörten ihnen zu. Es dauerte nur wenige Augenblicke, ehe ich sämtliche Augenpaare auf mich gerichtet sah. Bisher war ich weitergelaufen, wenngleich bedeutend langsamer, doch jetzt, da ich die abweisenden Blicke der Menschen erkannte, blieb ich stehen. Es war nicht zu glauben, die Menschen dort vor mir trugen allesamt mittelalterliche Gewänder, und ich konnte an ihnen dieselbe Beobachtung machen wie zuvor bei den Jungen. Diese Leute paßten in jeden mittelalterlichen Film, nicht jedoch ins 21. Jahrhundert. Es war und blieb ein Alptraum. Die Frauen trugen Tücher und lange Kleider. Die Männer gröbere Kittel und Wämse. Ihre Schuhe erinnerten mich an germanische Schnürschuhe und Wikingerhalbschuhe. Zögernd ging ich weiter auf sie zu. So sicher wie eben zuvor, daß ich in einem Museumsdorf gelandet war, blieb ich nicht. Einige Schritte Abstand wahrend, hielt ich an. Ich sah Angst in den Gesichtern der Leute. Wovor hatten sie Angst, doch nicht etwa vor mir? Einer der Männer löste sich aus der Gruppe und kam mir entgegen. Er sprach mich an, doch ich traute meinen Ohren kaum, ich verstand kein Wort. Ich kannte mich doch gut mit Sprachen aus, war wenn ich meinen Sprachlehrern glauben durfte besonders sprachbegabt, aber hier? Ich wußte nicht einmal zu sagen, welche Sprache er dort sprach. Eine keltische, ja, aber...? Ich hatte keine Ahnung. Als der Mann merkte, daß ich ihn nicht verstand, versuchte er es mit Gebärden. Die Holzforke in seiner Hand senkte sich wie eine Waffe und er fuchtelte damit in Richtung Wald. Ich wollte nicht begreifen, was offensichtlich war. Er jagte mich fort. Mit einem Mal schien sämtliche mir noch verbliebene Kraft aus meinem Körper zu weichen. Tränen liefen mir über die Wangen, ohne daß ich etwas dagegen tun konnte. Sahen sie denn nicht, daß ich Hilfe brauchte? Daß ich völlig verloren war?

Eine Frau mittleren Alters kam näher. Sie schien zornig, schrie zuerst den Mann an, dann mich. Unerwartet und heftig kam ihre nächste Handlung. Sie bückte sich, hob einen vor ihr liegenden faustgroßen Stein auf und warf ihn mit aller Wucht gegen meine Schulter. Ich schrie vor Schmerz auf.

Schließlich mußte ich begreifen, trotz meiner Verzweiflung, daß mir nur die Flucht blieb, ehe diese Leute sich weitere Nettigkeiten einfallen ließen. So schnell ich konnte rannte ich in Richtung Wald davon. Ich blickte mich einmal um, doch die Menschen harrten bewegungslos vor ihrem Dorf und schauten mir nach. Ich lief und lief, bis ich glaubte, meine Lungen müßten platzen. Die Tränen der Empörung und Verzweiflung waren längst getrocknet. Völlig erschöpft ließ ich mich zu guter Letzt auf den Boden fallen. Meine Schulter schmerzte, es war jedoch Gott sei Dank nur eine Prellung, keine offene Wunde. Allmählich meinte ich, den Verstand zu verlieren. Eins nahm ich mir jedenfalls nach diesem Erlebnis vor: Dem nächsten Menschen, dem ich begegnete, würde ich mit mehr Vorsicht entgegentreten. So etwas wollte ich nicht noch einmal erleben. Plötzlich wandelte sich mein Schluchzen in überreiztes Lachen. Was für Gedanken spukten mir denn da im Kopf herum? Glaubte ich inzwischen tatsächlich, im Mittelalter gelandet zu sein? Wahrhaftig, es hatte mich erwischt, eine andere Erklärung gab es nicht. Ich fühlte mich so einsam und verlassen wie nie zuvor in meinem Leben. Aus meinem Lachen wurde wieder ein Schluchzen.

Es dämmerte bereits. Erst jetzt bemerkte ich, daß mein Magen knurrte. Sinnierend starrte ich auf den Boden. Seufzend holte ich mein Brot und einen Apfel aus meinem Rucksack. War dies meine Henkersmahlzeit? Ich wog den Apfel, als wäre er bleischwer; wann bekam ich wieder zu Essen? Nach der Mahlzeit trank ich einige Schlucke Wasser aus meiner Flasche, auch hier schrumpfte der Vorrat bedenklich. Schweren Herzens stand ich auf. Weitergehen! Nicht aufgeben! Ich mußte doch über kurz oder lang auf eine Straße oder irgendeine Stadt stoßen! Mir Mut zusprechend, ging ich los.

Ich mußte noch einmal gut eine Stunde unterwegs gewesen sein, die Sonne stand schon als rotglühender Ball recht tief am Horizont, jedoch war ich nicht einmal in die Nähe irgendeiner Stadt gelangt. Keine Wege, keine Straßen. Wohin mein Blick fiel, zeigte sich mir unberührte Natur. Die prächtigsten Wälder, Wiesen und Lichtungen.

Um mich herum raschelte und knackte es. Mein Gefühl sagte mir, daß diese Geräusche von Wildtieren des Waldes stammten, sehen konnte ich indes kein einziges. Trotzdem glaubte ich mich von Tausenden von Augenpaaren beobachtet, und das jagte mir Angst ein. Trotz meines schnellen Schrittes fror ich erbärmlich. Jetzt zur Nacht hin wurde es deutlich kälter. Während des Weitergehens fand ich mich mit dem Gedanken ab, daß ich mir, wohl oder übel, einen Schlafplatz suchen mußte. Mir blieb keine Wahl. Ärgerlich stellte ich fest, daß mein Kampfgeist, zumindest heute, aufgab. Ich fand doch heute sowieso niemanden mehr! Und morgen? Mir blieben drei Äpfel, eine halbe Flasche Wasser, eine feuchte Decke, mein Zeichenzubehör und mein Leben! Das war doch schon was! Was wollte ich mehr? Außerdem, ich würde nicht gleich verhungern, selbst wenn ich ein, möglicherweise zwei Tage weniger Essen bekam. Wasser gab es sicherlich irgendwo, in Gestalt eines Baches, und wenn dieses so rein und klar war wie die Luft, dann brauchte ich mir darüber nicht den Kopf zu zerbrechen.

Zum hundertsten Male kehrten meine Gedanken zu den Menschen zurück, die ich zuletzt gesehen hatte. Um welche Sprache handelte es sich? Irisch, schottisch? Oder walisisch? Vielleicht bretonisch? Die Lage war so unglaublich. Ja, ich glaubte an Wiedergeburt, an Leben nach dem Tod. War ich denn gestorben? Erlebte ich möglicherweise eine Rückführung? Hatte ich mich selber in Entrückung versetzt?

Meine Angst vor dem Ungewissen wuchs. Was ich zu glauben begann, überstieg trotz allem meinen Verstand. Ich hatte wirklich das widersinnige Gefühl, mich im Mittelalter zu befinden. Ich blickte fragend in den wolkenverhangenen Himmel, und erst da wurde mir überdeutlich bewußt, daß schon seit Stunden kein Flugzeug mehr über mich hinweggeflogen war. Ich hatte nicht ein einziges maschinell erzeugtes Geräusch vernommen. Und diese Tatsache allein reichte, um mich vollends zu verängstigen.

Ratlos suchte ich die Umgebung nach einem geeigneten Schlafplatz ab. Ein paar dichte Tannen fielen mir auf, denn sie eigneten sich sicherlich bestens, um darunter die Nacht zu verbringen. Während ich auf die Bäume zuging, faßte ich wieder Mut. Ich freute mich darauf, am nächsten Morgen wieder unter der Linde liegend aufzuwachen, um feststellen zu können, daß mein Erlebnis nur ein Alptraum war, nichts weiter.

Jäh wurde ich aus meinen Gedanken gerissen, als es hinter mir laut knackte. Ängstlich drehte ich mich um... und mir stockte der Atem... In etwa dreißig Schritt Entfernung stand ein riesiger Bär. Das Herz sank mir in die Knie. Fieberhaft überlegte ich, wie ich mich retten konnte, und hielt Ausschau nach einem geeigneten Baum, es mußte schnell gehen! Eine Eiche, deren Krone einladend hin und her schaukelte, schien mir genau die richtige. Trotzdem blieb ich, keiner Bewegung fähig, dem ebenso starren Bären gegenüber stehen. Die Eiche war so nahe, doch meine Beine brachten nicht einen Schritt zuwege. Der Bär schien ebenso erstaunt wie ich. Er beobachtete mich eine Weile, dann brummte er laut. Ich zuckte unwillkürlich zusammen. Ein lautes Rauschen in meinen Ohren, kündigte mir eine nahe Ohnmacht an. Bestimmt kam er gleich wütend auf mich zu, und dann war es aus mit mir. Trotz allem, ich konnte mich nicht rühren. Er drehte ungeduldig den Kopf zur Seite, ehe das Unglaubliche geschah und er sich abwandte. Genauso überraschend wie er aufgetaucht war, verschwand er wieder. Erst nach einer Weile lösten sich meine verkrampften Muskeln. Ich zitterte, butterweich in den Knien, und sackte wie ein Kartoffelsack auf den Boden. Die zweite Lehre an diesem Tag... Unter den Tannen würde ich bestimmt nicht schlafen, das Sicherste war ein Schlafplatz auf dem Baum. Wenn es hier Bären gab, dann gab es womöglich auch Wölfe und Luchse oder andere Tiere, die einem Menschen gefährlich werden konnten, sofern sie sich bedroht fühlten. Ich atmete einige Male tief durch. Die Dunkelheit kroch wie ein böser Schatten über das Land, ich mußte mich beeilen.

Mit bleischweren Gliedern stand ich auf und ging hinüber zu der Eiche. Ängstlich spähte ich umher, um nicht ein weiteres Mal überrascht zu werden. Es könnte anders ausgehen. Wieder beschlich mich dieses unangenehme Gefühl... Wo gab es im 21. Jahrhundert in Deutschland solche Bären? Freilebend?

Inzwischen stand ich vor der nächsten Schwierigkeit. Die Eiche war hoch gewachsen, wie sollte ich dort hinaufgelangen? Ich zog meinen Rocksaum nach oben, befestigte ihn am Bund und prüfte den Sitz meiner Sachen, Ich lief um den Baum herum. Welch ein gewaltiges Werk der Schöpfung! Erst beim zweiten Umrunden entdeckte ich einen tiefhängenden Ast der mir geeignet erschien. Trotzdem reichte ich nicht einmal mit ausgestreckten Armen und auf Zehenspitzen heran. Es fehlte nur ein kurzes Stück, verdammt! Ich sprang und bekam ihn gleich beim ersten Versuch zu fassen. Nun mußte ich mich der nächsten Schwierigkeit stellen. Ich würde ein weitres Mal meine Kraft aufbringen müssen, um an dem Ast und Stamm hinaufzuklettern. Ich stemmte meine Füße dagegen und hangelte mich am Ast hoch. Immer wieder rutschten meine Sandalen an der Rinde ab. Mit einem Arm am Ast hängend, so wie Tarzan, zog ich mir mit der freien Hand meine Sandalen aus und ließ diese über sie auf meinem Arm entlanggleiten, um sie mit nach oben nehmen zu können. Ich versuchte, bald am Ende meiner Kräfte, den Aufstieg erneut, und dieses Mal mit Erfolg. Allerdings nahmen mir besonders meine Füße die Begegnung mit der rauhen Rinde übel. Ich hatte überall Schrammen und Kratzer. Schließlich hatte ich es geschafft, ich saß auf der ersten größeren Astgabel und ruhte mich aus. Nur nicht aufgeben! Bloß nicht wieder heulen, das half ja doch nicht. Stück für Stück arbeitete ich mich hoch, bis ich schätzungsweise fünf Meter über der Erde saß. Ich fand eine breite Gabelung, von der ich hoffte, darauf die Nacht verbringen zu können, ohne herunterzufallen. Ich mußte mich festklemmen. Nur wie? Und wenn ich schlafend den Halt verlor? Der Wind blies eisig hier oben, was mir jetzt, da ich zur Ruhe kam, auffiel. Die Nacht versprach kalt und unangenehm zu werden.

Schicksalsergeben holte ich meine Decke hervor und wickelte mich ein, besser feucht, jedoch nicht gänzlich dem eisigen Wind ausgesetzt. So könnte ich nicht viele Nächte überstehen. In plötzlicher Empörung über meine Gedanken biß ich die Zähne zusammen. Jetzt zweifelte ich schon wieder, dabei fand sich morgen sicher die Lösung meiner Schwierigkeiten!

Wenn ich mein Erlebnis später meinen Freunden erzählte, glaubte mir bestimmt niemand, geschweige denn, daß einer nachvollziehen könnte, was ich in diesem Augenblick empfand und durchlebte. So schrecklich einsam, so ängstlich!

Gedankenverloren aß ich einen Apfel und befestigte meinen Rucksack sorgsam an einem Ast, schräg über mir. Die Erschöpfung übermannte mich schließlich. Ich bat die göttliche Kraft um Hilfe, und tatsächlich, getröstet durch mein Gebet, schlief ich schließlich übermüdet ein. Ich übergab mich vertrauensvoll der Hülle des Schlafes und dem göttlichen Schutz. Ich schlief bis zum Morgengrauen durch, hörte nicht die Tiere der Nacht, die unter der Eiche umherstreiften, hörte nicht die Rufe der nächtlichen Greifvögel. Ich schlief einen heilsamen Schlaf, der meinem überforderten Geist und übermüdeten Körper eine Weile Ruhe schenkte.

Die Artuslinde

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