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3 Auf Burg Sommerstein, 2003

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Die Nacht war pechschwarz. Das Herz pochte wild in seiner Brust, er hörte jeden Schlag laut in seinen Ohren dröhnen. Als er die Augen öffnete, brauchte er erst eine Weile um sich zurechtzufinden. Beim zweiten Anlauf fand er den Schalter der Lampe. Der Raum wurde augenblicklich in ein angenehmes mildes Licht getaucht. Liam atmete laut aus. Er war klatschnaß geschwitzt. Diese Träume hatten es in sich. Sein Blick wanderte zu der alten keltischen Truhe, die neben seinem Bett an der Wand stand. Er schnitt ihr eine Grimasse. Hatte sein Bruder Brian recht? War sie am Ende tatsächlich Schuld an seinen eigenartigen Träumen und Erscheinungen? Er erinnerte sich überdeutlich an den Augenblick, als ihm das Fuhrunternehmen die Truhe vor die Tür stellte. Einen Absender gab es nicht, und der Empfänger war eindeutig er. Seine Familie und er standen vor einem Rätsel. Drei Tage nach dem Eintreffen der verschlossenen Truhe, kam dieser Brief aus England. Er enthielt den Schlüssel für die Truhe und lediglich einen schlecht lesbaren Satz auf einem kleinen, sehr alten Pergament:

„Da es nun an der Zeit ist, sende ich Dir Deine Truhe samt Inhalt! Ich wünsche Euch alles Glück, in tiefer Verbundenheit Euer ...“

Wer auch immer, Euer... war, und wen auch immer er mit Euer meinte, niemand konnte die Zeichen lesen, mit denen der Schrieb unterzeichnet war. Eine genauere Erklärung fehlte. Niemand hatte je von ihm gehört. Vermutlich hatte dieser Mensch sich doch getäuscht, und die Truhe war für einen anderen bestimmt? Sie waren alle verwundert, noch dazu, weil er der Empfänger war und nicht sein Vater oder Großvater, was die gerechte Erbfolge gewesen wäre, sofern es sich um einen Verwandten aus Schottland handelte.

Nachdem er mit zittrigen Fingern die Truhe geöffnet hatte, starrten sie alle in die gähnende Leere, die sie enthielt. Von dem angekündigten Inhalt fehlte jede Spur. Hatte er oder sie vergessen ihn hineinzulegen?

Versonnen hatte er auf das innere Holz des Deckels geblickt, plötzlich sah er darin das Gesicht einer Frau. Entsetzt war er einen Schritt zurückgesprungen. Sogar seine Nackenhaare hatten sich gesträubt, trotzdem konnte er die Augen nicht abwenden. Sogar jetzt lief ihm ein Schauer über den Rücken. Ja, er bekam erneut eine Gänsehaut, wenn er an das Gesicht dachte, daß ihn wie aus einem Spiegel entgegenblickte. Er war jedoch der Einzige, der sie gesehen hatte.

Von diesem Tag an häuften sich die Erscheinungen und die Träume. Alles glich sich. Immer schien die Frau verwirrt, auf der Suche. Sie flehte ihn ohne Worte um Hilfe an. Abgesehen davon, daß ihn das Gefühl, ihr nicht helfen zu können, berührte, ging ihm der Zauber auf die Nerven. Er brauchte seinen Schlaf, gerade jetzt.

Manchmal fragte er sich, wie sie hatten so dumm sein können, aus Schottland fortzuziehen und eine Burg in Deutschland zu kaufen? Nur, um darin mittelalterliche Märkte und Turniere zu veranstalten?! Klar, es war die Gelegenheit gewesen, trotz Schuldenberg. Und ein Zurück gab es vorerst nicht. Morgen würden sie mit ihrem ersten Fest und Turnier ins kalte Wasser springen müssen. Es stand in den Sternen, ob es so gut ankäme, wie sie es sich erhofften. Womöglich waren die Menschen schon übersättigt vom Mittelalterkram! Nun, wenn es so war, mußten sie die Schulden eben mit ihrer eigentlichen Arbeit begleichen, auch wenn das bedeutete, daß er sein Leben lang schreinern mußte. Es lag wohl an den Vorfahren, die ihre Bedürfnisse durch sie stillten. Weshalb sein Vater allerdings von Schottland ausgerechnet hierhergezogen war, würde ihm Zeit seines Lebens ein Rätsel bleiben.

Müde stand er auf. Ein Blick auf die Uhr, meinte er, berechtigte ihn zu gähnen, denn es war erst vier. Er warf sich seinen Morgenmantel über, während sein Blick schon wieder zur Truhe wanderte. Er kniete sich neben sie. Als Schreiner sollte es ihm doch möglich sein ihr Geheimnis zu ergründen? Seine Hände strichen sachte über die geschnitzten Muster. Sie fühlten sich seltsam vertraut an. Er schüttelte den Kopf und erhob sich. An Schlaf war nicht mehr zu denken, also zog er sich an. Nach einem letzten Blick auf die keltischen Laufmuster der Truhe verließ er sein Zimmer, um zur burgeigenen Bücherei zu gehen.

Zum Frühstück erschien er mürrisch und unausgeschlafen. Ein weiterer Schock suchte ihn heim, als er seine Post öffnete. Es handelte sich um die Bestellung einer Truhe von einem gewissen H. Linden, mit Rohzeichnung anbei, und es war genau die Truhe, die in seinem Zimmer stand. Unmöglich! Hier wollte ihn doch jemand auf den Arm nehmen?

Brian blickte seinen kreideweißen Bruder an. Er merkte, daß etwas nicht stimmte, ging zu ihm und legte ihm die Hand tröstend auf die Schulter. Liam starrte ihn erschrocken an, als käme er gerade aus anderen Welten zurück. In Brians Brust stritten die Gefühle. Er liebte seinen Bruder, oft hatte er jedoch den vernunftwidrigen Wunsch, ihn bei den Schultern zu packen und kräftig zu schütteln. Er fühlte sich für alle Mißgeschicke seines Bruders verantwortlich, und gab ihm andererseits für alles die Schuld. Dafür plagten ihn dann ständig Schuldgefühle, wofür er wiederum Liam verantwortlich machte. Obwohl er mit ihm fühlte, kamen seine Worte beißend über die Lippen, er konnte nichts dagegen tun.

„Wieder dein Gespenst?“

Liam blickte ihn ernst an. In seinen Augen erkannte Brian die unterdrückte Trauer darüber, daß er sich auf seine Kosten belustigte.

Warum nur mußte er immer sticheln? fragte sich Brian.

Liam zeigte den anderen den Schreinerauftrag, den sie erhalten hatten.

Er glaubte nicht einen Augenblick daran, daß dieser Linden die Truhe einer inneren Eingebung zur Folge entworfen und gezeichnet hatte. Doch woher wußte er von der Truhe?

Die Artuslinde

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