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Freitag, 7. Mai 1915, Keltische See
Reise in die alte Welt

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Majestätisch und stolz pflügt der Luxusliner durch die Wellen des Nordatlantiks. Drei seiner vier Kessel stehen unter Dampf. Aus den hinteren drei Schornsteinen quillt dicker, rußiger Rauch. Joe Campbell steht backbords an der Reling und genießt die frische, feuchte Seeluft. Es ist kurz vor 15 Uhr an diesem 7. Mai des Jahres 1915. Seit gut einer Stunde läuft die Lusitania nun schon an der Südküste Irlands entlang – im leichten Zick-Zack-Kurs. Das ist wohl den deutschen U-Booten geschuldet, mit denen hier in der Gegend leider zu rechnen ist. Schemenhaft ist die Küste in der Ferne auszumachen. Man sieht ein blaues Etwas, das sich leicht vom Wasser abhebt. Es wird mit den grauen Wolken und dem schwachen Blau des Horizonts eins.

Die Reling vibriert unter Joes Händen. Er hat den Eindruck, dass das Schiff nicht volle Fahrt macht. Die Geschwindigkeit auf dem offenen Meer kam ihm höher vor. Aber er kann sich natürlich täuschen. Die Fahrt war aufregend, und er ist sich bewusst, dass sie ihn in einen neuen Lebensabschnitt begleiten wird. Die klare Seeluft tut gut. Sie riecht nach Salz, nach Frische, nach Abenteuer. Am Morgen noch herrschte dichter Nebel und es ging nur ein leichter Wind. Kurz vor dem Mittagessen klarte es dann auf. Die Sonne steht hoch am Himmel und kämpft mit ihrer wärmenden Kraft gegen die immer steifer werdende Brise an, die das Meer aufwühlt. Hier und da bricht sie durch die dunkle, fast geschlossene Wolkendecke durch. Das Wetter wird schlechter, je näher sie der englischen Küste kommen. Es ist recht kühl für einen Frühlingstag.

Seit sieben Tagen ist er nun schon auf dem Luxusliner unterwegs. Vorige Woche war er von seiner Heimat Cambridge, einem Stadtteil von Boston, aufgebrochen nach New York. Zwei amüsante Tage hatte er dort noch bei seinem Cousin William verbracht, der zusammen mit einem Arbeitskollegen mitten in Manhattan ein kleines Appartement bewohnt.

Vergangenen Samstag hatte er schließlich das gewaltige Schiff betreten. Pünktlich um 12:20 Uhr am 1. Mai hieß es in New York »Leinen los«. Zum dritten Mal ist er bereits auf dem Atlantik, aber auf einem so prachtvollen Schiff wie der Lusitania ist er noch nie vorher gereist. Damals, 1904, war er mit der Teutonic der White Star Linie unterwegs. Ebenfalls über England nach Frankreich. Auf dem Rückweg, acht Jahre später, fuhr er mit der Campania, wie die RMS Lusitania ebenfalls ein Cunarddampfer. Noch wenige Stunden und sie werden in Liverpool einlaufen.

Die englische Cunard Line hatte die RMS Lusitania bereits 1907 in Dienst gestellt. Sie verkehrt seitdem regelmäßig auf der Atlantikroute zwischen Liverpool und New York. Nach dem schrecklichen Unglück der Titanic vor drei Jahren, wurde das Schiff noch 1912 mit zusätzlichen Rettungsbooten ausgestattet.

Sogar eine Rettungsübung konnte Joe miterleben, kurz nach dem Auslaufen in New York. Sieben Besatzungsmitglieder legten ihre Schwimmwesten an und kletterten in eines der Rettungsboote. Dann wurde es ausgeschwenkt. Ein Offizier beobachtete die Übung mit Argusaugen, war aber offensichtlich mit dem Ablauf zufrieden. Einige Passagiere wohnten als Zaungäste bei. Joe war zufällig an Deck und hatte die Evakuierungsübung mit Interesse verfolgt. Es ging zwar alles sehr schnell. Keine fünf Minuten hat sie gedauert. Er wurde allerdings den Eindruck nicht los, dass die Matrosen so etwas zum ersten Mal durchführten. Trotzdem, die Sicherheitsstandards scheinen sehr hoch zu sein auf diesen modernen Schiffen. Müssen sie auch. Die Gewässer rund um England und Irland sind nicht ungefährlich in diesen Tagen. Der Krieg, der in Europa seit letztem Sommer wütet, ist auf die Gewässer rund um das europäische Festland und die britischen Inseln ausgeweitet worden. Überall können nun deutsche U-Boote lauern. Eine Waffe, der die Entente von Vereinigtem Königreich und Frankreich nicht wirklich etwas entgegenzusetzen hat.

Die deutsche Botschaft in Washington hat erst vergangene Woche noch eindringlich in der amerikanischen Presse die Bürger vor Atlantiküberquerungen gewarnt! Die deutschen Kapitäne haben zwar Order, keine Passagierschiffe anzugreifen, aber ein ungutes Gefühl bleibt. Zumal die Lusitania auf dieser Fahrt zwar unbeflaggt fährt, aber dennoch ein englisches Schiff ist.

Joe Campbell ist in der zweiten Klasse untergebracht. Die meisten Passagiere dort sind Engländer. Iren gibt es auch zur Genüge und ein paar Franzosen. Amerikaner sind offensichtlich nicht allzu viele an Bord. Nie hätte er es für möglich gehalten, dass es in der zweiten Klasse so luxuriös zugeht. Die Überfahrt vor drei Jahren hat er noch ganz anders in Erinnerung. Vom Luxus in der ersten Klasse berichten die Zeitungen ja schon seit Jahren. Hier in der zweiten gibt es einen Speisesaal unter einer riesigen Kuppel. Nach dem Essen kann man sich in der Lounge aufhalten. Im Rauchsalon werden Zigaretten und Zigarren gereicht. Für die weiblichen Gäste steht der sogenannte Damensalon zur Verfügung, der neben einer kleinen Bibliothek mit allerhand Literatur, aber auch aktuellen Zeitungen und Schriften und darüber hinaus mit kleinen Schreibtischen ausgestattet ist. Über den Schiffstelegrafen kann man zudem von hoher See aus Post in alle Welt übermitteln lassen.

Das Billett für die Überfahrt war in New York für Joe hinterlegt worden. Er hat es vergangenen Freitag am Hafen direkt bei der Reederei abgeholt. Es war bereits bezahlt. Die Université de Paris hat es gelöst. Sie soll sein neuer Wirkungskreis werden. Zumindest für die nächsten zwölf Monate. Eigentlich sollte er schon in der letzten Woche reisen, mit der Cameronia, einem etwas kleineren Passagierdampfer der britischen Anchor Line. Die Passage wurde allerdings buchstäblich in letzter Minute storniert. Sämtliche Passagiere wurden zwei Tage später von der Lusitania übernommen. Sie bedient seit Anfang des Jahres die einzige regelmäßige und verlässliche Linienverbindung nach Europa. Die Billetts für diese Fahrt sind zudem erheblich billiger als gewöhnlich. Es ist ein spezielles Reklameangebot, das die Reederei an die Reisenden der zweiten Klasse macht. In letzter Zeit ist das Schiff nicht mehr wirklich ausgebucht, so wie das vor dem Krieg noch der Fall war. Wer will in diesen Zeiten schon nach Europa, wenn er nicht unbedingt muss? Der Krieg dauert nun schon ein Dreivierteljahr. Vergangenes Weihnachten wollten die Feldherren und ihre Soldaten eigentlich wieder zu Hause sein. So stand es jedenfalls letzten Herbst in der Presse zu lesen.

Laut Anschlag im Eingangsbereich sind 1.258 Passagiere und 701 Besatzungsmitglieder an Bord des Schiffes. Kapitän William Turner, so wurde Joe von einem der Stewards erzählt, hat seit dieser Reise das Kommando. Ein erfahrener Seemann, der die Lusitania schon einmal vor ein paar Jahren befehligt haben soll. Joe hat ihn bis jetzt nicht gesehen. Wahrscheinlich ist das den Passagieren der ersten Klasse vorbehalten.

Eigentlich hätten es sich die Franzosen ja durchaus leisten können, ihn in der gehobeneren Klasse unterzubringen, schließlich geht es bei seiner neuen Tätigkeit an der Universität in Paris um ein von der französischen Regierung gefördertes Forschungsprogramm. Seine Mission gilt einem hohen Ziel, von dem sich die Entente nicht weniger als den Sieg über das Deutsche Kaiserreich verspricht! Seinem Status wäre es außerdem angemessen. Vielleicht soll diese Art der Unterbringung der Tarnung dienen. Oder aber den Franzosen fehlt einfach das Geld. So ein Krieg kostet eine Menge. Vermutlich ist es das Letztere – Sparmaßnahmen. Joe verschwendet seine Gedanken nicht lange an diese Frage. Der Wissenschaftler hat den Kopf voll mit anderen Dingen, die ihn im Moment mehr beschäftigen. Außerdem ist er von Natur aus ein genügsamer Mensch.

Professor Marchand hat diese Reise nach Paris tatsächlich möglich gemacht. Als Joe ihm kurz nach Weihnachten schrieb, ahnte er noch nicht, dass er heute auf dem Weg nach Frankreich sein würde. Ja, es war eine bahnbrechende Entdeckung. Ihr praktischer Nutzen ist zwar noch nicht wirklich absehbar, aber was ihm und Dr. Hughes im Labor gelungen war, könnte die Welt verändern. Daran gibt es keinen Zweifel. John Hughes kennt allerdings nur einen Teil der Forschungsergebnisse. Von der eigentlichen Sensation wissen bis jetzt nur Joe selbst und sein französischer Freund. Marchand ist mittlerweile sehr viel mehr für ihn als nur ein Doktorvater oder Kollege. In all den Jahren, in denen sie gemeinsam geforscht und gearbeitet haben, wurden sie gute Freunde. Er vertraut Marchand und Marchand vertraut ihm. Vor einem guten Monat hatte ihm der französische Professor telegrafiert, dass er ab dem 17. Mai mit dem Forschungsprogramm in Paris beginnen könne. Das französische Militär hat die notwendigen Geldmittel zugesagt. Für die ersten zwölf Monate soll Joe in Paris das Projekt leiten. Anschließend will er eventuell einen Teil der Arbeiten an der Harvard University weiterführen. Doch dafür müssen noch ein paar heikle Gespräche geführt werden, und es ist alles andere als sicher.

Kurz entschlossen hat sich Joe bis Mitte nächsten Jahres unbezahlt beurlauben lassen. Aus familiären Gründen, so gab er an. Schließlich gibt es gute Gründe für ihn, nach Frankreich zu reisen, stammt doch seine Mutter aus Colmar. Zu ihrer Zeit war Colmar noch französisch, erst 1871 nach dem Krieg zwischen Frankreich und Preußen wurde es ins Deutsche Kaiserreich eingegliedert. Die Idee, über ein ganzes Jahr unbezahlten Urlaub zu nehmen, führte zu heftigen Diskussionen mit seinem Rektor. Dieser lenkte schließlich jedoch ein. Die Entschlossenheit, mit der Joe seinen Willen durchzusetzen vermochte, ließen ihm keine andere Wahl, wollte er seinen jungen Professor nicht gänzlich verlieren. Sein Kollege, Dr. Hughes, übernahm offiziell zum 1. Mai seine Position an der Harvard University und führt nun auch das Projekt fort, das sie vor mehr als zwei Jahren gemeinsam begonnen haben.

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