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Samstag 8. Mai 1915, Liverpool
Reise nach Folkestone

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Nachdem er sich ein Billett bis London besorgt hat, geht Joe Campbell mit seinen zwei großen Koffern in Richtung Bahnsteig. Die beiden Koffer sind nicht gerade leicht. Der Zug der Midland and Great Northern Joint Railway nach Sheffield wartet bereits. Von Sheffield aus soll es dann mit dem Eilzug der Midland Railway weiter über Nottingham und Leicester nach London St. Pancras gehen. Die London, Brighton and South Coast Railway, kurz LB&SCR, wird ihn dann von dort aus nach Folkestone bringen. Ein recht anstrengender, aber sicherlich interessanter Tag liegt vor ihm. Wenn alles gut geht, erwischt er heute Abend noch die Passage über den Ärmelkanal nach Frankreich. Zur Not muss er in Folkestone einen Stopp zur Übernachtung einlegen, aber das will er auf sich zukommen lassen. Vielleicht wäre das sogar die entspanntere Art zu reisen. Am Passagierhafen in Folkestone soll ein weiteres Billett für ihn hinterlegt sein, so kabelte es zumindest Marchand per Telegraf. Er wird von Folkestone aus nach Dieppe in Frankreich übersetzen. Von dort aus sind es dann keine drei Stunden mehr mit dem Zug bis zum Pariser Nordbahnhof.

Es ist jetzt halb neun vormittags, der Zug fährt um neun. Die Lusitania hat heute Morgen bereits um halb sieben festgemacht. Pünktlich, wie es im Fahrplan steht. Eine halbe Stunde später stand er am Kai und reihte sich in den Pilgerstrom zum Bahnhof ein. Der Zug steht bereits seit sieben im Bahnhof und wartet auf die vielen Reisenden. So wie es scheint, wollen die meisten Schiffsreisenden weiter nach London – oder sonst wohin im Vereinigten Königreich.

Am Bahnhof patrouilliert Militär wie schon am Schiffsanleger. Es ist offensichtlich, dass sich das Land im Kriegszustand befindet. Überall sieht man kleine Grüppchen von Soldaten, die entweder ebenfalls die Eisenbahn benutzen oder aber den Hafen und den Bahnhof zu bewachen scheinen. Auf dem Bahnsteig herrscht Gedränge und hektische Betriebsamkeit. Die meisten Abteile sind voll, und Joe muss fast bis ganz nach vorne am Zug, ehe er ein Abteil findet, das noch nicht komplett belegt ist. Nachdem seine Mitreisenden ihm freundlich einen Platz angeboten haben, hievt er die beiden Koffer auf die Gepäckablage und lässt sich dankbar in den Sitz fallen.

Etwa zur gleichen Zeit steht Bernhard Engel am Schiffsanleger in Liverpool und beobachtet, wie die letzten Passagiere von Bord gehen. Er trägt eine unauffällige Tweed-Strickjacke, die er sich vor ein paar Tagen bei Harrods in London zugelegt hat. Er schlendert mit einem ledernen Reisekoffer in seiner Rechten an der Pier entlang und hält Ausschau nach seinen drei Kollegen. Eigentlich wollten sie bereits mit den ersten Passagieren von Bord gehen, so war es geplant. Er hat schon gestern Abend vier Billetts für die Schnellzugverbindung nach London gekauft, um heute Vormittag keine Zeit zu verlieren.

Professor Campbell hat er vorhin bereits entdeckt. Er sah genauso aus wie auf den Fotos. Er verließ das Schiff etwa fünf Minuten, nachdem die Gangway für die Passagiere freigegeben wurde. Er war nicht bei den ersten, aber lange nicht bei den letzten Passagieren, die jetzt gerade von Bord gehen. Es wird ihm sicherlich kein Problem bereiten, ihn später am Bahnhof oder im Zug wiederzufinden. Seine sportliche, hochgewachsene Figur im dunkelblauen Reisemantel sollte sich nicht so leicht verstecken können. Vor allem nicht vor ihm, Bernhard Engel. Hatte er doch seit Jahren Erfahrung mit Beschattungen und verdeckten Ermittlungen. Ärgerlich ist es trotzdem, dass seine Kollegen nicht auftauchen. Sollte etwas schiefgegangen sein? Waren sie etwa aufgeflogen?

Heinrich sollte an Bord der Lusitania Fotografien von den vermuteten Waffenlieferungen machen. Curt Thummel, alias Charles Thorne, der als Stewart auf der Lusitania angeheuert hatte, meldete beim Verladen in New York vier Geschütze, ehe er sich kurzfristig unter dem Vorwand eines gebrochenen Unterarmes vom Einsatz zurückziehen musste. Sein Vorgesetzter auf dem Schiff schöpfte Verdacht, und eine Reise wäre zu riskant geworden.

Karl und Paul sind neu in der Abteilung und sollten auf ihrem ersten Außeneinsatz eine leichte Arbeit übernehmen. Sie hatten lediglich die Aufgabe, Professor Campbell möglichst lückenlos zu beschatten und herauszufinden, ob er tatsächlich alleine reist, von jemandem beobachtet oder gar beschützt wird. Auf einem Schiff nicht gerade eine schwierige Sache, zumal Heinrich, ein recht erfahrener Mitarbeiter von ihm, in der Nähe ist. Die beiden Neulinge werden bereits in London wieder abgezogen. Von dort aus will er selbst an Campbell dranbleiben, damit die Sache auf jeden Fall klappt. Irgendwie scheint die Angelegenheit im Moment allerdings ganz gewaltig zu stinken.

Es ist mittlerweile kurz nach halb neun. Er muss sich beeilen, wenn er den Zug noch erwischen will. Nicht, dass dieser am Ende noch überfüllt ist und ohne ihn abfährt. Das käme einer mittleren Katastrophe gleich. Seufzend macht er auf dem Absatz kehrt und geht schnellen Schrittes in Richtung Bahnhof. Er reiht sich bei den Passagieren der Lusitania ein. So fällt er am wenigsten auf. Zur Tarnung hat er einen kleinen Reisekoffer dabei. Nicht sonderlich schwer, aber so, dass ihm jeder Fahrkartenkontrolleur und auch jeder britische Dorfpolizist eine Schiffsreise abnimmt. Kurz nach drei viertel neun besteigt er den Zug. Er fährt in der zweiten Klasse, im zweiten Wagen hinter der Dampflokomotive. Campbell hat er zwei Abteile weiter hinten entdeckt.

Wie es scheint, hat der Professor keine Ahnung davon, dass er seit seinem Weggang in Boston vom deutschen Nachrichtendienst beschattet wird. Bernhard Engel, Leiter der Spionageabwehr im Londoner Büro, hat drei Teams auf ihn angesetzt. Phillip, ein Kollege, der in New York stationiert ist, übernahm die Strecke Boston - New York, auf dem Schiff hatte er Karl und Paul eingesetzt, und am Schiffsanleger in Dieppe wird er von Franz Lutz erwartet, der sich als Taxi-Chauffeur im Auftrag der Pariser Universität zu erkennen geben wird. Lutz leitet die Spionageabwehr in Frankreich. Er selbst spielt ab sofort die Rolle eines reisenden französischen Reporters, der aus New York kommend zufällig mit dem Professor im selben Zug reist. Spätestens beim Umsteigen in London will er ihn ansprechen. Eine passende Gelegenheit wird sich auf den Bahnhöfen allemal finden. Der Plan ist einfach und erfolgversprechend.

Die gefälschten Papiere für Franz Lutz waren schnell organisiert. In Frankreich ist fast alles zu bekommen, wenn man die richtigen Kontakte hat. Lutz' Französisch ist perfekt, und Chauffeursrollen hat er schon etliche Male gespielt, wenn es darum ging, jemanden unauffällig mit einem Automobil verschwinden zu lassen. Er wird in Dieppe den Professor abfangen und ihm erzählen, dass die Universität sich kurzfristig entschlossen habe, ihn am Fähranleger abzuholen. Die Zugverbindungen seien kriegsbedingt nicht zuverlässig, und man wolle ihm nach den Reisestrapazen dieses letzte Stück nicht noch zusätzlich erschweren. Lutz wird den Professor ganz einfach daran erkennen, dass er, Engel, in seiner Begleitung sein wird. Zusammen dürfte es dann am späten Abend kein Problem sein, Campbell im Auto zu überwältigen. Genügend Chloroform ist für solche Fälle immer vorhanden, und sie sind ein eingespieltes Team.

Seit gut einem Jahr arbeiteten sie nun schon sehr eng zusammen und haben einiges gemeinsam erlebt. Wenn sie den Professor erst einmal »willig« gemacht haben, dürfte es eine Routineangelegenheit sein, ihn auf dem für solche Fälle üblichen Weg von Frankreich über die Schweiz nach Berlin zu schaffen. Es ist eine Frage der Zeit, aber normalerweise dauert es höchstens drei, manchmal vier Tage.

Es wundert Engel zwar noch immer, warum um einen amerikanischen Universitätsprofessor so viel Aufhebens gemacht wird, aber der Mann muss offensichtlich wichtig sein. Seinen Auftrag hatte Engel vor nicht ganz drei Wochen von Oberstleutnant Nicolai, dem Leiter der Abteilung III b, dem preußischen militärischen Nachrichtendienst, persönlich erhalten. Alles sollte unter strengster Geheimhaltung ablaufen. Nicht einmal sein direkter Vorgesetzter wurde eingeweiht. Alles, was er und sein Team wissen, ist, dass der Professor Papiere von höchstem militärischem Wert bei sich trägt und dass er samt Gepäck und vor allem unversehrt in Berlin erwartet wird. Nicolai hatte ihm verschiedene Fotografien von Campbell ausgehändigt. Der amerikanische Professor hat ein sehr markantes Gesicht, ist groß gewachsen mit sportlicher Figur. Seine dunklen, kurzen Haare und ein penibel gestutzter Schnauzer geben ihm fast ein typisch französisches Aussehen. In Paris würde er weit weniger auffallen, als hier im Zug nach London.

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