Читать книгу Die Schamanin - Marcia Rose - Страница 10

5 Am selben Tag

Оглавление

Im Frühling war der Fluss teuflisch. Wenn das Eis schmolz, kam von ganz oben in Vermont tonnenweise Wasser in Richtung Sund angerauscht, zerschmetterte Boote und ertränkte unglückliche Segler. Man musste bis zum Ende des Sommers darauf warten, dass die Flussgeister sich beruhigten und etwas schläfrig wurden. Mam hatte sie gewarnt, vom ersten Tag an, als sie Morgan das Paddel gab und ihr beibrachte, wie sie das Kanu steuern musste, als Morgan erst fünf oder sechs Jahre alt war. »Dieser Fluss hier lässt sich nicht zähmen«, sagte Mam. »Er ist wie eine Hirschkuh ... sehr ungebärdig.« Man lehrte sie, dass die Flussgeister weiblichen Geschlechts waren, und dass der Name des Flusses, Konektikut, in der Sprache der Alten »auf dem langen Gezeitenstrom« bedeutete. Das hieß, dass er nicht nur seine eigenen Strömungen hatte, sondern zusätzlich von Ebbe und Flut im Sund hin und her gedrängt wurde. »Du musst also gut Acht geben, Morgan. Du darfst dich nicht zurücklehnen und träumen, nicht auf dem Connecticut.«

Morgan entsann sich, wie ihr als kleines Mädchen die Mutter so groß und stark vorgekommen war und ihr breites, ruhiges Gesicht für sie die Weisheit der ganzen Welt widergespiegelt hatte. Der Gedanke an Mam ließ Morgans Augen brennen. Womöglich würde sie ihre Mutter in diesem Leben nicht wieder sehen. Die Vorstellung, ihren Vater zu verlassen, konnte sie gar nicht ertragen. Vielleicht würde sie nie wieder auf jene Lichtung spazieren und auf jene Veranda steigen, nicht ein einziges Mal. Plötzlich fühlte sie sich hohl, als wäre ihr Inneres nicht mehr vorhanden, und sie musste den Impuls bekämpfen, das Kanu zum Ufer zu wenden und heimzukehren. Doch sie war nun einmal gegangen, basta. Sie wollte keine zweite Becky werden. Aber was sollte sie tun? Sie wusste nur, dass sie flussabwärts unterwegs war, sonst nichts. Im Moment war es wohl am besten, wenn sie aufhörte, sich Gedanken zu machen und nach Sandbänken Ausschau hielt. Dreißig gab es davon in diesem Fluss. Außerdem Felsen, ziemlich große. Nicht, dass sie etwa Angst hatte. Sie wusste, wie sie mit einem Kanu umgehen musste.

Sie besaß einen Beutel voller Arzneien und einen Verstand, mit dem sie heilen konnte. Überdies hatte sie den Talisman ihrer Mutter, der seit Hunderten von Generationen in ihrer Familie weitergereicht worden war. Sicher würde sie ihn dort, wo sie landete, als Glücksbringer brauchen. Sobald es anfinge, dunkel zu werden, würde sie an Land gehen und in den nächsten Ort laufen und den Leuten sagen, dass sie ihre Krankheiten und Beschwerden kurieren konnte. Sie würde ihnen erzählen, wozu sie fähig war: Sie kannte Mittel gegen Menstruationsschmerzen; sie wusste, wie man Kopfläuse loswurde, ein Geschwür öffnete und Ohrenschmerzen linderte. Sie konnte ein Baby entbinden. Sie wusste, welche Pflanzen essbar und welche giftig waren. Sie konnte Fieber senken und ein gebrochenes Glied richten. Sie mochte jung sein, doch sie war eine Heilerin. Sie würde ihren Weg gehen, sich durchsetzen und nie wieder von jemandem Befehle entgegennehmen müssen. Niemals!

Als die ersten kalten Regentropfen zu fallen begannen, war der Himmel noch klar, nur ein bisschen dunstig. Aber sie hörte das Grollen von Donner in der Ferne, und sie wusste, dass das Wetter im Frühjahr innerhalb von Minuten umschlagen konnte. Sie paddelte schneller und hielt dabei auf beiden Seiten des Flusses nach einer guten Anlegestelle Ausschau. Vielleicht würde sie es nicht mehr bis zu einer Ortschaft schaffen, wenn der Regen stärker würde. Vom Sund zogen rasch schwarze Wolken auf, deshalb paddelte sie, so geschwind sie konnte.

Es half alles nichts. Nach fünf Minuten war es über ihr total schwarz. Donner erfüllte die Luft und gezackte Blitze zuckten am Himmel auf. Während der Regen niederprasselte, wehte ein wilder, nasser Wind und wirbelte Wellen auf, die gegen den Einbaum klatschten, hineinschwappten und Morgans Stiefel durchweichten. Sie tastete mit den Füßen nach ihrem Medizinbeutel – wenn sie ihn an den Fluss verlor, hatte sie alles verloren –, zog ihn zu sich heran und hielt ihn fest.

Durch die Bahnen grauen Regens sah sie etwas in der Mitte des Flusses aufragen. Sie konnte nicht erkennen, was es war, und wollte es nicht erst herausfinden, wenn sie dagegenkrachte. Das Kanu war robust und stabil – sie und Pa und Mam hatten es gemeinsam gebaut –, aber eine hinterhältige Bö konnte es an die Felsen schleudern. Mit aller Geschicklichkeit und Kraft, die sie aufbringen konnte, paddelte sie näher ans Ufer. Sie hatte keine Ahnung, wo sie war, konnte durch den Wasservorhang, der vom zornigen Himmel herabströmte, nichts sehen. Doch anlegen musste sie. Grunzend vor Anstrengung paddelte sie rückwärts, sodass das Boot ins Kreiseln geriet. Mit aller Mühe verhinderte sie, dass es trudelte. Schwer atmend und mit einem lautlosen »Bitte, bitte, bitte« schwang sie das Paddel heftig von einer Seite zur anderen. Sie wollte nicht sterben, nicht, bevor sie etwas ganz allein vollbracht hatte.

Als sie den Aufprall spürte, versuchte sie zu erkennen, wo sie gelandet war. Na ja, gelandet eigentlich nicht, eher gestrandet, hängen geblieben in einem Gewirr aus Flussgräsern und Binsen. Als Erstes nahm sie den Medizinbeutel und hängte ihn sich um, damit er in Sicherheit war. Eines von Pas guten Jagdmessern befand sich ebenfalls darin. Sie stieg aus dem Kanu und zog es, bis zur Taille durch das wirbelnde Wasser und den Schlamm watend, hinter sich her.

Das Boot war so schwer und sie so müde ... und sie fror, dass ihr die Zähne klapperten. Wenn sie es bloß bis zum Ufer schaffte, wäre sie außer Gefahr. Das betete sie sich ständig vor, während sie einen Fuß vor den anderen setzte, sich zwang, das Kanu weiterzuschleppen, obgleich ihre Arme sich anfühlten, als würden sie ihr gleich vom Körper fallen. Gerade als sie sicher war, nicht einen Schritt mehr tun zu können, tauchte vor ihr eine Stange auf. Sie packte sie und merkte, dass sie gezogen wurde. Oh Gott, was für ein gutes Gefühl! Aus dem Regen ertönte eine Stimme: »Ich hab das Kanu. Ich mache es fest. Lass es los. Lass los!« Sie erkannte eine Gestalt, die von Kopf bis Fuß in Ölzeug gekleidet war. Fragen stellte sie nicht, sie ließ einfach los und hievte sich auf die Böschung. Nie war sie so froh gewesen, festen Boden unter sich zu spüren. Sie rutschte auf Händen und Knien, und es kostete sie große Mühe, sich aufrecht hinzustellen, doch sie tat es, damit sie ihrem Retter helfen konnte, das Boot ans Ufer zu ziehen, um es dort an einen Baum zu binden. Sie gaben ein gutes Team ab, wie sie sich da gemeinsam abrackerten. Als das Kanu richtig befestigt war, merkte Morgan, dass sie schluchzte. Tränen strömten aus ihren Augen, doch ihr Gesicht war so nass vom Unwetter, dass das auch nichts mehr ausmachte.

»Danke, Mister«, sagte sie mit bemüht fester Stimme. »Ich weiß nicht, was Sie bei diesem Sturm hierher geführt hat, aber auf jeden Fall haben Sie mir das Leben gerettet.«

»Ich habe dich von dem Ausguck auf meinem Dach gesehen«, sagte der Fremde, und Morgan wurde mit einem Schlag klar, dass es sich um eine Frau handelte. »Ich glaubte jedenfalls, dich zu sehen. Der Wind trieb den Regen wie einen Riesenvorhang hin und her. Ich sah dich, ich sah dich nicht, ich sah dich wieder. Schließlich sagte ich mir: Steig da runter, Gracie, mein Mädel. Falls es ein Gespenst ist, wirst du es schon früh genug merken. Und falls das Unwetter eine arme Seele erwischt hat, kommst du sicher in den Himmel, wenn du sie rettest.« Schallendes Gelächter.

Morgan starrte sie an. Eine Frau, eine Dame aus der Stadt, hatte den Mut, sich mit einer Stange hier herunter zu bemühen, um sie aus dem tosenden Fluss zu ziehen. »Nun, gut, dass Sie das getan haben, Mrs. –«

Die Frau ergriff ihren Arm und führte sie weg vom Ufer. »Doktor. Dr. Grace Chapman aus Chester, Connecticut, zu deinen Diensten. Und du bist –?«

»Morgan Wellburn. Ich komme von den Hügeln oberhalb von East Haddam.«

»Die Hügel oberhalb von Haddam ... warte mal. Da lebte doch immer eine indianische Heilerfamilie. Kennst du sie?«

»Das kann man wohl sagen. Es ist meine Familie. Wir leben immer noch dort.«

Die Ärztin schritt flott aus; Morgan musste sich anstrengen, um an ihrer Seite zu bleiben, vor allem, weil der Regen nach wie vor auf sie einpeitschte. »Gib Acht auf die großen Wurzeln hier. Wenn wir rechts abbiegen, ist da ein Pfad ... egal«, rief die Ärztin jetzt, um das Heulen des Sturms zu übertönen. »Es tut mir Leid. Du bist völlig durchnässt. Kümmere dich nicht um die Richtung! Halt dich an meinem Mantel fest. Wir schaffen es, keine Angst!«

Morgan tat, wie ihr geheißen, duckte sich gegen den beißenden Regen und folgte ohne ein weiteres Wort. Auf einmal, so plötzlich, wie er aufgekommen war, änderte sich der Wind, blies die Wolken in zackige Fetzen, und der Mond wurde sichtbar. Der Regen hörte auf.

Die Ärztin blieb stehen, um Morgan ins Gesicht zu schauen. Morgan erwiderte den Blick, und ihr gefiel, was sie sah. Ihre Retterin wirkte ein bisschen jünger als Mam oder weniger verbraucht und hatte das dichte, wellige Haar zu einem lockeren Knoten geschlungen. Sie war eine große Frau, größer noch als Morgan. Sie sah stark und freundlich aus. Morgan fand sie schön. »Du siehst ganz erledigt aus. Schaffen wir dich nach Hause ... Es ist nicht weit, nur quer über die Wiese ... Und trockne dich ab, damit du dir nicht den Tod holst. Wie lange hast du gegen den Fluss angekämpft, bevor ich dich entdeckte?«

»Weiß nicht. Ich weiß nicht mal, wann ich losgefahren bin. Ich war so wütend –« Tränen stiegen ihr in Augen und Kehle.

»Na, das hätte ich mir denken können. Das muss ja ein schöner Streit gewesen sein. Egal, du brauchst mir nichts zu erzählen. Komm, weiter geht’s. Nur noch ein paar Schritte.«

Es war recht dunkel, aber Dr. Grace schritt sicher aus. Endlich leuchtete ein helles Fenster wie ein Signalfeuer in der Finsternis. »Das ist mein Haus«, sagte Dr. Grace. »Nichts Ausgefallenes, doch es gehört mir allein.« Im Mondlicht erschien Morgan das Haus riesig: ein großer, quadratischer Grundriss, zwei Geschosse, obenauf ein Ausguck, eingefasst von einem schwarzen Eisengeländer.

»Nun komm. Du kannst ein, zwei Tage bei mir bleiben. So lange wird es dauern, bis du ganz trocken bist. Und dann sehen wir weiter.« Wieder lachte ihre neue Freundin. Sie lachte anscheinend viel, dachte Morgan. Es gefiel ihr.

Während sie einen Weg entlanggingen, der aus flach in die Erde eingelassenen Steinen bestand, merkte Morgan, dass sie etwas empfand, das sich wie Glück anfühlte. Eine Ärztin! Immer hatte sie sich gewünscht, einer zu begegnen, und hier war sie, zog sie aus dem Wasser wie ein guter Geist und lud sie in ihr Haus ein.

Die Ärztin geleitete sie in einen kleinen Raum mit steinernen Wänden, an denen sich Regale und hölzerne Haken reihten. Nachdem sie ihren nassen Mantel und Hut aufgehängt hatte, nahm sie einen Rock und einen dicken Schal von zwei Haken und reichte sie Morgan.

»Wahrscheinlich sind sie zu groß, aber sie sind warm und trocken, und das ist alles, was im Moment zählt, oder?« Sie griff sich ein Handtuch von einem weiteren Haken und wischte sich damit den Regen vom Gesicht. »Hier, trockne dich ab. Wenn du aus den nassen Sachen raus bist, geh durch die Tür dort drüben. Sie führt in die Küche; da werde ich ein bisschen schöne, heiße Suppe aufwärmen. Die wird gegen die Kälte helfen!«

Morgan war froh darüber, ihre nassen Kleider loszuwerden. Den Medizinbeutel hängte sie zum Trocknen an einen Haken, aber die tropfnassen Sachen? Sie legte sie auf den Fußboden, fuhr sich mit dem Handtuch über den Körper und zog die trockenen Kleidungsstücke an. Als sie in die große, warme Küche kam, stieg ihr das kräftige Aroma von Rindfleischsuppe in die Nase, gemischt mit dem schwächeren Duft der getrockneten Kräuter, die von den Deckenbalken herabhingen. Die Ärztin, in eine weite Schürze gehüllt, schnitt gerade Brot.

»Ich wette, du hast Hunger.«

»Und wie.«

»Dann setz dich an den Tisch und lass dich von mir bedienen.«

»Dr. Chapman ...«

»Jeder nennt mich Dr. Grace.«

»Dr. Grace, was soll ich mit meinen nassen Sachen anfangen? Sie bilden schon eine regelrechte Pfütze da draußen.«

»Ach, mach dir nichts draus, lass sie einfach liegen. Der Fußboden hat einen Abfluss – praktisch, nicht? Meine Putzfrau wird sie morgen wieder tragbar machen. Nimm Platz und sieh zu, dass du etwas Warmes hinunterbringst. Ich möchte ein bisschen Farbe auf deinen Wangen sehen.«

Nie hatte irgendwas so köstlich geschmeckt wie diese dunkle Suppe, in der reichlich Gerste und Pilze und Grünzeug und Fleischbrocken schwammen. Morgan versuchte, höflich zu sein, doch das Essen war so lecker und ihr Magen so leer, dass sie es nicht schnell genug herunterschlingen konnte. Irgendwie wusste sie, dass sie bei Dr. Grace, die natürlich und umgänglich war und ebenfalls mit großem Appetit aß, nicht so sehr auf ihre Manieren achten musste.

»So, du stammst also aus der Heilerfamilie oberhalb von East Haddam. Bist du auch Heilerin?«

»Ja.«

Ein plötzlich ernsthafter Blick trat unter den geschwungenen Brauen hervor. »Gut, dass ich dich aus dem Fluss gezogen habe. An Heiler kommt man nicht leicht ran heutzutage. Diese Männer der Medizin, die sind so verliebt in ihre neumodische Bazillentheorie, dass sie keinen Platz mehr für die ärztliche Kunst lassen. Mich bezeichnen sie als Quacksalberin, musst du wissen. Eine Quacksalberin. Ich bin ihnen nicht wissenschaftlich genug, um eine richtige Ärztin zu sein. Hast du jemals so was gehört? Oh, hier. Nimm noch eine Scheibe. Da ist Pfirsichmarmelade von letztem Sommer. Und wenn ich mich nicht irre, ist in der Speisekammer noch eine halbe Pie ...«

»Erzählen Sie mir mehr darüber? Wie es ist, Ärztin zu sein? Mein Pa, der hat immer gesagt, es seien die Damen gewesen, die ihm im Großen Krieg das Leben gerettet hätten. Er hörte auch von weiblichen Ärzten, hat aber nie einen zu Gesicht bekommen. Ach, der wird sich freuen, wenn ich ihm erzähle ...« Ihre Stimme wurde dünn, als ihr klar wurde, dass sie von zu Hause weggelaufen war und ihrem Daddy gar nichts erzählen würde.

Dr. Grace streckte ihre Hand aus und legte sie über die Morgans, nur für einen Moment. »Es klingt, als wäre dein Vater ein vernünftiger Mann. Und was ist mit seiner Tochter? Was um alles in der Welt hast du mitten in einem Gewitter auf dem Fluss gemacht?«

»Ich ... ich hatte einen Streit mit meiner Mam.«

»Oh. Na, damit kenne ich mich aus.«

»Wieso? Haben Sie auch eine Tochter?«

Dr. Grace lachte, aber nicht so, als fände sie das, was Morgan gefragt hatte, witzig. »Nein, das nicht, doch ich hatte eine Mutter, und das kommt ja aufs selbe raus, oder? Ich bin eine Bürgerkriegswitwe; mein Mann ist sehr jung gestorben, und ich habe nie daran gedacht, wieder zu heiraten. Zuerst hatte ich keine Zeit dazu, und dann war ich plötzlich zu alt, um noch Kinder zu kriegen. Und ich wollte auf keinen Fall irgend so einen alten Witwer heiraten, der eine Frau sucht, die seine Kleinen versorgt und für ihn kocht und putzt. Oh nein, nicht Grace Chapman! Tut mir Leid. Ich rede zu viel, ich gebe es zu. Und du musst mächtig müde sein und willst sicher schlafen.« Sie machte Anstalten, sich vom Tisch zu erheben.

»Nein, wirklich Dr. Grace ich höre Ihnen sehr gern zu. Und ich könnte bestimmt kein Auge zutun. Mir geht zu viel im Kopf herum.«

»Das Gefühl kenne ich. Ich bleibe oft wach und denke nach, manchmal über Dinge, die ich nicht ändern kann.« Sie lächelte Morgan an. »Dein Vater hat gesagt, die Pflegerinnen hätten ihm das Leben gerettet? Das glaube ich gern. Ich denke oft, mein Mann hätte nicht sterben müssen, wenn er die richtige Pflege gehabt hätte. In den Feldlazaretten sind mehr Männer gestorben als auf dem Schlachtfeld, wusstest du das?«

»Genau das hat Pa auch immer gesagt.«

Ein Schnauben. »Nun, dein Pa hatte Recht. Die mit ihren heroischen Dosen Quecksilber! Macht ja nichts, wenn es den Patienten umbringt, und es hat im Krieg eine Menge umgebracht, lass dir das gesagt sein! Aber egal, der Doktor hat seine Pflicht getan, heißt es dann.« Weiters Schnauben. »Hast du je von Sam’l Thompson gehört?«

»Nein«, sagte Morgan. »Von dem habe ich nie gehört.«

»Er hatte eine Behandlungsmethode, die sehr ähnlich war wie das, was deine Leute schon seit Ewigkeiten tun ...« Morgan spürte, wie ihr die Augen zufielen, und riss sie auf. Dr. Grace bemerkte es. »Ich erzähle dir morgen von Sam Thompson, wie wär’s? Es ist Zeit für dich, ins Bett zu gehen. Ärztliche Anordnung. Morgen unterhalten wir uns. Vielleicht könnte ich eine Heilerin in meiner Praxis gebrauchen. Mal sehn. Aber jetzt erst mal die Treppe hoch mit dir.«

Das Bett war weich und die Laken dufteten nach frischer Luft. Morgan kuschelte sich in die Daunendecke und versuchte, ihre Gedanken zu ordnen. Eine Ärztin, eine echte Ärztin, und nett war sie außerdem. Eine, die sagte, womöglich brauche sie eine Heilerin. Der Ort hieße Chester, hatte sie gesagt. Das klang hübsch, warm und freundlich. Ob es in einem Ort namens Chester, wo eine Frau Arzt sein konnte, wohl einen Platz für Morgan Wellburn gab? Und dann war sie plötzlich eingeschlafen.

Die Schamanin

Подняться наверх