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6 Oktober 1882

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Wie herrlich das war, in Dr. Graces großem Haus zu leben! Wie angenehm, in einem Schaukelstuhl auf der Veranda zu sitzen – so anders als die Veranda und die Schaukelstühle vor dem kleinen Haus auf der Lichtung –, eine Tasse Tee zu schlürfen und auf die Rasenflächen und Weiden und Feldblumen und massigen alten Bäume des Anwesens zu schauen. In ein paar Tagen war Allerheiligen, und bald würde es Blätter regnen und der Wind rau werden, aber noch war Herbst, Altweibersommer, warm und golden. Das Gras vorm Haus, kurz gehalten von zwei ältlichen Schafen, war noch grün.

Morgan war sehr zufrieden hier. Es stimmte, sie hatte quälende Träume, in denen sie wegrannte und sich versteckte und sich in Acht nehmen musste vor namenlosen Leuten, die hinter ihr her waren, sodass ihr Herz, wenn sie aufwachte, rasch pochte. Doch nach wenigen Minuten waren die Träume verblichen. Sobald sie die Augen aufschlug und sich in dem hübschen kleinen Zimmer umsah, das ganz allein ihr gehörte – ein Zimmer mit zwei Fenstern, einer Kommode und einem schmalen Himmelbett mit einer eigenen blaurot gemusterten Steppdecke –, überflutete sie Entzücken. Sie war nicht dazu bestimmt gewesen, ihr ganzes Leben auf einer öden Lichtung im Wald zu verbringen, warum sonst hatten ihre Eltern sie zur Schule geschickt? Sie wusste, dass sie sie im Stich gelassen hatte, indem sie einfach durchgebrannt war, aber sie würden schon zurechtkommen. War Annis Wellburn nicht bis nach Springsfield in Massachusetts berühmt als Geburtshelferin? Und ihr Vater war ein guter Jäger. Und sie mussten sie nicht mehr ernähren und kleiden, das war doch auch eine Ersparnis, oder? Es würde ihnen gut gehen, selbst ohne Beckys »Wunder«.

Jedenfalls liebte sie dieses Haus mit seinen schönen Möbeln, die nach Wachs und Zitronenöl rochen, den schweren Brokatvorhängen, der Teekanne und den Schalen aus Silber, die Mrs. Wainwright jede Woche polierte. Es war ein Haus voller Wunder: der riesige Spiegel in Dr. Graces Schlafzimmer! Die Standuhr mit ihrem glänzenden, hin- und herschwingenden Pendel und dem Schlüssel zum Aufziehen auf der Rückseite! Die silbernen Löffel und die feine Leinenbettwäsche und die Spitzengardinen und die Kerzenhalter aus Messing!

Morgan musste lachen, wenn sie daran dachte, wie Lizzie sich aufgespielt hatte, weil die Bushnells einen türkischen Teppich in ihrem Salon und dazu passendes geblümtes Geschirr hatten. Dr. Grace besaß drei verschiedene Garnituren Geschirr, jede mit kleinen Tellern und großen Tellern und Tassen und Untertassen und Suppenschüsseln und Dessertschälchen. Es nahm schier kein Ende, das Porzellan von Dr. Grace. Reverend Bushnells langweiliges kleines Pfarrhaus, das ihr einst so riesig und elegant erschien, war nichts im Vergleich zu Dr. Graces großem, weißem Haus an der Liberty Street. Vier Acre Land dahinter, genug für einen kleinen Obstgarten und einen Küchengarten, dazu Blumen und natürlich ein Garten für Heilkräuter. Dieser Kräutergarten unterstand jetzt Morgan ... Wie hatte Dr. Grace es genannt? Domäne, genau. Der Kräutergarten sei jetzt Morgans Domäne, darauf hatte Dr. Grace beharrt, da Morgan ihr Leben lang mit Heilkräutern gearbeitet habe. »Du kannst mir dann sagen, was wir noch brauchen, oder was weg kann. Dafür bist du nun zuständig, Morgan.«

Morgan schaukelte und nippte und winkte dem Fahrer eines vorbeirasselnden Heuwagens zu. Das Haus stand auf festen, quadratischen Grundmauern nicht weit entfernt von der Straße, überschattet von zwei alten Weymouthskiefern zu beiden Seiten der Eingangstür und einem kleinen Ahornhain. Hinten befanden sich ein Kutschhaus, daran anschließend eine alte Außenküche und Ställe für die Hühner und Gänse. Sie hatten alles, was sie benötigten, an Ort und Stelle, bis auf eine Kuh. Milch und Käse kauften sie daher auf der Bailey-Farm ein Stück die Straße hinunter. Natürlich wurde Dr. Grace oft in Naturalien bezahlt, ebenso wie Annis. Viele Leute hatten kein Geld; dann nähten sie Dr. Grace zum Beispiel Vorhänge oder belieferten sie zwei Monate lang mit frischen Eiern oder einem Schwein oder neuen Hufen für Patsy, dem Pferd.

Da das Haus an der Straße zur Fähre nach Hadlyme lag, verging kaum eine halbe Stunde, ohne dass jemand auf einem Wagen oder in einer Kutsche oder auf dem Pferd vorbeikam. Jeder winkte, denn jeder kannte Dr. Grace. Allmählich kannten sie auch Morgan Wellburn, deshalb winkten sie jetzt auch ihr zu. Das gefiel ihr ungemein. Ihr war gar nicht klar gewesen, wie allein die Wellburns da oben auf ihrem winzigen, entlegenen Grundstück waren. Sie hatte nicht gemerkt, wie einsam sie ihr Leben lang gewesen war. Doch das war nun anders, und sie führte jetzt ein ganz neues Leben.

Tagelang hatte sich aus einem niedrig hängenden, trüben Himmel ein Regen ergossen, der das durch die Fenster einfallende Licht schmutzig aussehen ließ. Die Patienten, die zu Dr. Grace kamen, hatten vor Nässe getropft und genörgelt und über Rheumatismus und Katarrh geklagt. Das Wartezimmer im vorderen Teil des Hauses war von Hustengeräuschen erfüllt gewesen. Heute aber war das Licht klarer und heller, und der Himmel wölbte sich weiß und glatt wie ein Ei über Morgans Kopf. Tief atmete sie die Morgenluft ein. Da stieg ihr plötzlich der Geruch nach Verbranntem in die Nase. Ach, du liebe Güte! Sie hatte Heiltränke zum Kochen auf den Herd gesetzt, zwei große Töpfe voll, und sie über ihren Tagträumen völlig vergessen. Sie rannte ins Haus, den langen Flur entlang und in die Küche. Und siehe da, die Mixtur aus schwarzen Holunderbeeren war übergekocht, und der dicke Sirup verbrannte auf der heißen Herdplatte. Schnell nahm Morgan die Zange, schob den großen Topf nach hinten und sah nach, wie viel übergelaufen war. Nicht viel. Das war eine Erleichterung.

Sirup aus schwarzen Holunderbeeren war sehr gut gegen Grippe, und Dr. Grace hatte ihr gesagt, dass die Grippesaison nicht mehr fern sei. »Von Dezember bis März«, meinte Dr. Grace. »Dann schlägt sie zu. Ich weiß nicht, warum – keiner weiß das –, aber wir wissen, dass es so ist. Und wir werden literweise Holunderbeersirup brauchen, deshalb kannst du schon jetzt anfangen, welchen zu kochen.« Annis hatte gegen Grippe immer Schlangenöl oder Schafgarbentee genommen, doch wenn Dr. Grace Holunderbeersirup sagte, wollte Morgan gern von ihr lernen. Schließlich war Dr. Grace eine richtige Ärztin.

Sie schrubbte noch den übergeflossenen Sirup vom Herd, als Mrs. Wainwright zur Hintertür hereinkam, ihre Schürze anlegte und die Nase rümpfte. »Was hast du mit meinem schönen, sauberen Herd angestellt?«, maulte sie. »Eins von deinen Zaubermitteln zusammengebraut, wie? Es riecht schrecklich. Wieso Dr. Grace meine Küche benutzt, um dieses Gepansche zuzubereiten, ist mir schleierhaft. Die Außenküche hinten im Garten würde doch ausreichen; und dort kann man keinen Schaden anrichten. Aber wer hört schon auf mich!«All dies, während sie flink in der Küche herumfuhrwerkte, Schüsseln und Löffel hervorholte und in Fässer schaute, um zu überprüfen, ob sie hatte, was sie benötigte.

Morgan hatte eine Weile gebraucht, sich an Mrs. Wainwrights Klagetiraden zu gewöhnen. Inzwischen wusste sie, dass sie nichts zu bedeuten hatten. Die Haushälterin wollte sie damit lediglich wissen lassen, dass sie sich auf ihrem Terrain befand und sich besser in Acht nahm.

»Die Holunderbeeren sind nur übergekocht«, sagte Morgan. »Und wenn Sie im Winter die Grippe kriegen, wird Ihnen der Geruch wie der süßeste Lavendelduft vorkommen.«

»Ich doch nicht! Ich sorge dafür, dass ich wohlgenährt und gesund bleibe.«

Mehr als wohlgenährt, dachte Morgan, Mrs. Wainwrights üppige Proportionen und ihr Dreifachkinn betrachtend.

»Und was kocht hier?«

»Heidelbeeren und Weißdornbeeren.«

»Die werde ich auch brauchen können. Im Winter setzt mir der Rheumatismus ganz scheußlich zu. Nun, pass gut auf, Morgan. Gib Acht auf den Topf, damit mein Herd nicht ruiniert wird.« Sie fing an, geschäftig in der Küche hin und her zu eilen und den großen eisernen Herd mit mehr Holz zu beladen, um den Ofen anzuheizen. Es war Montag, und der Montag war sowohl Wasch- als auch Brotbacktag. Wenn der Herd ordentlich heiß war, würde sie Wasser für die Wäsche erhitzen und den Ofen zum Backen benutzen. Morgan schob ihre Töpfe mit den Beerenmixturen ganz nach hinten auf die Herdplatte, wo sie vor sich hin sieden und dann abkühlen konnten.

»Soll ich Ihnen mit dem Teig helfen, Mrs. Wainwright?«

»Nein, meine Liebe, das schaffe ich schon. Ach, da kommt ja der Alte Ledermann, Gott segne ihn. Er wird was zu essen wollen. In der Speisekammer ist noch ein bisschen Vermont-Käse und ein kleiner Laib Brot von letzter Woche, und ein paar Äpfel könntest du ihm auch geben, obgleich wir sie weiß Gott für eine Pie verwenden könnten, aber ich stoße ja doch nur auf taube Ohren ...«

Die Stimme der Haushälterin folgte Morgan wie eine sich aufdröselnde Klangspule. Morgan legte die Lebensmittel in einen Korb. Sie freute sich darauf, endlich dem Alten Ledermann zu begegnen. Sie hatte so viele Geschichten über ihn gehört, ihn aber bis zum heutigen Tag nie kennen gelernt. Und da kam er auch schon den Weg zur Hintertür entlang, ganz in Leder gekleidet, wie man es ihr gesagt hatte. Er starrte sie finster an wie ein wildes Tier, argwöhnisch und bereit, jederzeit wegzulaufen.

»Hallo, mein Freund, und willkommen.« Dr. Grace war so leise aus dem Haus getreten, dass ihre Stimme Morgan aufschreckte. Der Alte Ledermann erwiderte nichts, reichte Dr. Grace jedoch eine Blume, die er in ihrem Garten gepflückt haben musste. Niemand sonst hatte so große Rudbeckien. Dr. Grace dankte ihm, als hätte er ihr einen Diamanten geschenkt. Morgan schob ihm den Korb hin. Er langte nach dem Brot und dem Käse, die er in seinen Lederbeutel steckte, und dann nach den Äpfeln. Ohne auch nur ein anerkennendes Nicken drehte er sich um und ging zum hinteren Tor hinaus.

»Ich möchte wissen, woher er kommt«, sagte Morgan. »Und was hat ihn wohl zum Vagabunden gemacht?«

»Das fragen wir uns alle, Morgan. Arme, verlorene Seele; das Mindeste, was wir tun können, ist, ihm zu essen zu geben.«

Morgan seufzte. Das war auch ein Grund, Chester zu lieben, dachte sie, einen Ort, der einen völlig Fremden ins Herz schloss. Sie war so froh, hier gelandet zu sein!

Ein Reiter kam ums Haus galoppiert. Es war einer der Männer aus Otis Marshalls Werkzeugfabrik, schweißbedeckt. »Dr. Grace! Kommen Sie schnell! Mrs. Marshall geht es sehr schlecht. Sie ist bei Bradleys unten am Cove. Beim Treffen des Gartenvereins!«

»Blutet sie?«

Der Mann wurde rot, nickte aber bejahend.

»Wir sind gleich da.« Er galoppierte davon, und Dr. Grace rannte ins Haus, um ihre Arzttasche zu holen, wobei sie sagte: »Morgan, spann Patsy vor den Buggy. Du kommst mit.«

Morgan lief, wie ihr geheißen. Sie fuhr zu gern in die Stadt. Sie kletterten in den Buggy, Dr. Grace ließ die Peitsche knallen, und die brave alte Mähre trabte los, die Straße zu den Bradleys entlang. »Die alten Narren sind die schlimmsten«, schnaubte Dr. Grace. »Otis Marshall sollte zufrieden sein mit seinen beiden Töchtern und aufhören, unbedingt einen Sohn haben zu wollen! Dies ist Eleanors dritte Fehlgeburt in ebenso vielen Jahren. Aber kümmert es ihn? Männer und ihr Verlangen nach einem Erben!« Sie schüttelte den Kopf.

Morgan wusste, wer Otis Marshall war, ein bedeutender Mann nämlich, Schatzmeister der Landwirtschaftlich-Technischen Gesellschaft von Chester. Im letzten Monat, am 27. und 28. September, hatten die Mitglieder im Rathaus ihre alljährliche Ausstellung präsentiert. Auch Morgan war dort gewesen, nachdem sie ihre Pennys für den Eintritt, der zehn Cents kostete, gespart hatte. Die Ausstellung war wunderbar. Auch die Nachbarorte hatten dazu beigetragen. Otis und seine Frau Eleanor waren während dieser Messetage fein herausgeputzt von Raum zu Raum gerauscht und hatten alle begrüßt und mit ihnen geplaudert. Sie waren natürlich sehr reich, aber nichtsdestotrotz sehr nett, fand Morgan. Als Dr. Grace sie den Marshalls vorgestellt hatte – »Meine neue Kollegin Miss Morgan Wellburn« –, hatten sie ihr die Hand geschüttelt und gesagt, sie freuten sich, ihre Bekanntschaft zu machen, und nie auch nur eine Frage gestellt, um herauszufinden, wo sie wohl vom Himmel gefallen war.

Otis war alt, so alt wie Dr. Grace und glatzköpfig wie eine Eule, Eleanor dagegen eine dralle, freundliche junge Frau von knapp fünfunddreißig. Sie war seine zweite Frau; seine erste war im Kindbett gestorben, nachdem sie zehn Jahre darauf gewartet hatte, schwanger zu werden. Und diese zweite Frau hatte nun Schwierigkeiten. Morgan hatte Otis über den Sohn, den er unbedingt haben musste, reden hören – »Warum habe ich sonst so hart gearbeitet, um das Geschäft aufzubauen?«

Sich gut an ihrem Sitz festhaltend, während sie etwas zu scharf eine Kurve nahmen, rief Morgan: »Wieso sind manche Menschen so furchtbar erpicht auf männliche Babys?«

»Nun, Morgan, weißt du denn nicht, dass eine Frau vielerorts keinen eigenen Besitz haben darf? Sie kann ihren Vater nicht beerben.« »Aber warum? Mir scheint –« Morgan hielt inne, als Dr. Grace eine weitere Kurve nahm, diesmal noch schärfer. Einen kurzen Moment lang kippte der Buggy zur Seite und fuhr nur noch auf einem Rad, dann legte die alte Patsy Tempo zu, und er richtete sich wieder auf.

»Ja? Dir scheint ...?«, sagte Dr. Grace, als hätten sie nicht eben fast einen Unfall gehabt. Jeder brachte sich in Sicherheit, wenn sie durch die Stadt fuhr. Ein paar Leute hatten sich schon darüber beschwert, aber, so hatte sie zu Morgan gemeint: »Ich sagte bloß: ›Und, soll ich auch langsam fahren, wenn ich Ihrer Familie zur Hilfe komme?‹ Da haben sie den Mund gehalten.«

»Mir scheint, bei den Indianern ist das anders. Es sind die Frauen in der Familie, die die Kraft zu heilen erben, direkt von Bird, und sie war eine Frau und moigu ... Schamanin, Sie wissen ja«, sagte Morgan. »Mädchen konnten keine Krieger werden, doch sie waren wichtig.« Sie überlegte einen Moment und fügte dann hinzu: »Wir kriegen schließlich die Kinder, oder? Finden Sie nicht, wir sollten über den Männern stehen?«

Dr. Grace lachte und bog in die gewundene Hauptstraße ein. Vor sich sahen sie das große Gebäude der Bradleys, neben dem Holz aufgestapelt war und eine Gruppe von Arbeitern redete und gestikulierte. Daniel Bradley war dabei, es von einem Versammlungsort in ein Mietshaus umzubauen, eine Maßnahme, die im Ort nicht populär war. Vorläufig aber hielt der Gartenverein hier immer noch seine Treffen ab. Dr. Grace schnalzte, und Patsy trabte vor das Gebäude und blieb stehen.

»Irgendwann einmal, Morgan, das habe ich jedenfalls gelesen, beteten die Menschen weibliche Götter an, weil Schwangerschaft ein Rätsel und ein Wunder war. Doch sobald sie herausfanden, dass auch Männer ihren Anteil daran haben –!« Wieder lachte sie. »Ich habe als Frau und Ärztin eine Menge Ärger gehabt, Morgan. Aber allmählich wird es besser, und ich wette, dass es in fünfzig Jahren Hunderte von Ärztinnen gibt – vielleicht Tausende!«

Und ich werde eine davon sein, dachte Morgan bei sich, froh über diese Vorstellung.

Dr. Grace eilte in das Gebäude, wobei sie meinte, sie wäre entweder gleich zurück oder würde Eleanor mitbringen. »Bleib du hier, Morgan. Dann brauche ich Patsy nicht erst anzubinden. Sie kann auf dem Gras an der Straße weiden.«

Morgan stieg aus, um sich die Beine zu vertreten und das Pferd zu kraulen. »Gutes altes Mädchen«, sagte sie leise. »Braves altes Mädchen.« Das Pferd schien sie zu verstehen. Es hob den Kopf und schmiegte sich an Morgans Hals, und Morgan kicherte. Die Sonne schien jetzt hell, nicht heiß und feucht wie den ganzen Sommer über, sondern sanft und golden. Es würde ein wunderschöner Tag werden, was anscheinend ganz Chester wusste, denn der Cove füllte sich rasch mit Wagen und Spaziergängern. Kinder spielten auf der Straße, jagten lachend einem Ball, einem Hund oder einander nach.

Während Morgan zuschaute, wechselte der Tonfall der Kleinen zu einem neckenden Singsang. Morgan sah eine Frau – nein, eher ein Mädchen – die Straße entlangkommen. Ihr Gang war unbeholfen und seltsam vertraut. Es war etwas Besonderes an der Art und Weise, wie sie ihren Kopf hielt. Natürlich. Sie erinnerte Morgan an Becky. Als sie näher kam, merkte Morgan, dass das Mädchen mit sich selbst redete. Oder mit einer unsichtbaren Person. Sie hatte bereits ein paar geflüsterte Worte über die »irre Mariah« gehört, doch niemand schien sagen zu wollen, was mit ihr los war. »Sie ist verrückt«, war alles, was sie aus Mrs. Wainwright herausbekam, die im Allgemeinen bei keinem Thema zu bremsen war.

Die Kinder schrien: »Irre Mariah! Haus in Flammen! Hast nicht alle beisammen! Irre Mariah!« und folgten ihr. Anscheinend sah und hörte sie sie nicht, sodass die Kinder dichter an sie heranrückten. Eines von ihnen bückte sich, hob einen Stein auf und schleuderte ihn nach ihr. Er traf sie in den Rücken, und Mariah drehte sich um, das Gesicht wutverzerrt. »Hört auf!«, rief sie. Die Kinder lachten und fingen jetzt alle an, Steine aufzusammeln und sie damit zu bewerfen. Das Mädchen rannte nicht weg; sie stand still und schlang die Arme um sich – als ob sie das schützen würde.

Morgan überlegte nicht lange. Sie lief auf Mariah zu, blieb vor ihr stehen und schrie die Kinder an: »Was macht ihr denn da? Wie könnt ihr so grausam zu einer Behinderten sein?«

Eine Minute war die Gruppe sprachlos. Dann wagte sich ein Junge hervor: »Bisse ihre Mutter? Ihre Schwester?«

»Sind wir nicht alle Gottes Kinder?«, sagte Morgan, erstaunt über ihre eigenen Worte. »Macht, dass ihr fortkommt. Los, schert euch weg und lasst die arme Seele in Ruhe, hört ihr? Sie kann nichts dafür, wie sie ist!«

Sie zogen ab. Morgan war überrascht und erfreut. Dann noch einmal überrascht, als Mariah sich umwandte, sie anspuckte und Flüche und Ausdrücke hervorstieß, die Morgan erst ein- oder zweimal in ihrem Leben vernommen hatte, und zwar von betrunkenen Männern. »Geh weg, Squaw!«, schrie Mariah. »Bevor ich dir die Augen auskratze!« Sie drehte sich um und rannte, nach Morgan tretend, an ihr vorbei.

Morgan rieb sich die Wade, wo Mariahs Fuß gelandet war, und dachte: Genau wie Becky. Aber Mam sagte immer, der Anführer der Geister, die von Becky Besitz ergriffen hatten, sei sehr zornig – ein toter Verwandter vielleicht, der nicht ordentlich bestattet worden war. Morgan hatte geglaubt, ihre Familie sei besonders anfällig für Geister, manche gut, manche böse. Als sie den Tratsch über die irre Mariah hörte, hatte sie daher nicht erwartet, jemandem zu begegnen, der Becky so ähnlich war. Konnte eine weiße Familie, eine englische Familie, von Pequot-Geistern heimgesucht werden? Recht unwahrscheinlich. Allmählich dämmerte ihr, dass es womöglich gar keine Geister waren ... wenigstens nicht nur.

Sie merkte nicht, wie sehr sie in Gedanken vertieft war, bis sie eine Hand auf ihrer Schulter spürte.

»Komm«, sagte Dr. Grace, »ich habe Eleanor in ihrem Buggy nach Hause geschickt. Wenn sie ruhig im Bett liegen bleibt, verliert sie dieses Kind vielleicht nicht.« Sie stiegen in ihren Wagen und schnalzten, sodass das Pferd in einen Trab heimwärts verfiel. »Was geht dir im Kopf herum, Morgan?«, fragte Dr. Grace plötzlich. »Irgendwas beschäftigt dich, das ist deutlich zu sehen.«

»Das Mädchen ... das Mädchen, das sie die irre Mariah nennen ...« Und Morgan berichtete Dr. Grace, was passiert war.

Als sie innehielt, zog Dr. Grace ein Gesicht und sagte: »Manche Menschen sind einfach dumm und wissen nicht, dass man vor Kindern nicht über solche Dinge redet. Was Mariah betrifft ... ach du liebe Güte, das ist eine traurige Geschichte. Als sie jünger war, war sie so normal wie du und ich, Morgan. Auf einmal fing sie an, sich vor bestimmten Dingen zu fürchten, Dinge zu hören, die sonst niemand hörte ... ich weiß nicht, wie ich es dir beschreiben soll.«

»Das brauchen Sie nicht«, sagte Morgan langsam. Sollte sie von Becky erzählen? Sie entschied sich dafür. »Meine Schwester ... Sie ist wie diese Mariah. Aber wissen Sie, die Leute dachten, sie hört Engel. Sie kamen von meilenweit her, damit sie sie berührte und ihnen sagte, was sie tun sollten.«

»Von dem Mädchen habe ich gehört. Deine Schwester, sagst du? Das ist sehr interessant, Morgan. Wenn es dir nichts ausmacht, hätte ich gern, dass du mir alles über sie erzählst, damit ich es aufschreiben kann. Wirst du das tun?«

»Natürlich. Aber ...« Morgan zögerte. »Glauben Sie, dass meine Schwester Engelsstimmen gehört hat?«

»Kann sein«, meinte Dr. Grace. »Sie kann alles Mögliche gehört haben. Woher sollen wir das wissen? Es klingt allerdings sehr nach dieser Geisteskrankheit, die sie Dementis praecox nennen ... Ach nein, es ist ... ich habe kürzlich gelesen, dass es einen neuen Namen dafür gibt. Schizophrenie.«

Eine Geisteskrankheit. Sie hatten Becky nie für krank gehalten. Doch plötzlich wurde Morgan klar, dass es stimmen konnte. Wenn Becky Engel hörte, hörte sie auch erschreckende Dinge, Dinge, die sie veranlassten, sich auf einen zu stürzen und einen zu beschimpfen oder in der Ecke zu hocken und vor sich hin zu wispern. Ab und zu war sie dann wieder die alte Becky, die sie früher gewesen war. »Glauben Sie, meine Schwester hat diese Dementis prekocks? Oder diese andere Sache?«

»Das kann ich nicht beurteilen, ohne sie zu sehen oder mehr über sie zu wissen. Aber es könnte wohl sein. Ich bin ziemlich sicher, dass die arme Mariah davon befallen ist. Als Mädchen habe ich in Philadelphia mehrere Patienten gesehen und auch in Boston und in Syracuse, die Mariah sehr ähnelten, und die hatten Dementis praecox.«

»Ich bin in dem Glauben aufgewachsen, dass meine Familienangehörigen von Geistern heimgesucht werden, und dass wir die Macht haben, mit ihnen zu reden oder sie wenigstens zu hören, wenn sie sprechen. In letzter Zeit sind mir da Zweifel gekommen, aber trotzdem ... Ich hatte einen Ur-Ur-Ur –, ach, ich weiß nicht, wie viele Urs, – Großvater, der zitterte und bebte, wenn ein Geist in ihn fuhr. Und seine Schwester redete auch mit den Geistern und ging schließlich ganz weg, um bei ihnen zu leben. Und dann Quare Auntie ...«

»Wer?«

»So wurde sie genannt, doch sie hatte auch einen richtigen Namen. Ihren christlichen Namen kenne ich nicht, aber in der Sprache der Alten hieß sie Small Sparrow. Sie lebte im Wald und sprach mit den Geistern. Ab und zu kam sie zu uns nach Hause, um sich was zu essen zu holen oder die Zukunft vorauszusagen. Sie war furchtbar hässlich, dürr und zerkratzt, ihr Haar dreckig und verfilzt und verknotet. Ich glaubte, dass Quare Auntie hexen konnte und die Kraft zu heilen hatte. Mam sagte immer, dass viele in ihrer Familie die Fähigkeit zu hexen und zu heilen hatten.« Morgans Stimme wurde leiser. Wie sie sich so über Zauberkräfte reden hörte, klang es plötzlich ... sie wusste nicht, wie es klang, doch sie war sicher, dass Dr. Grace niemals daran glauben würde. »Wissen Sie das bestimmt mit dieser Dementia prekocks? dass es eine Krankheit ist?«

»Also, eigentlich ... Niemand weiß das bestimmt, und niemand weiß, wo es herkommt. Aber es gibt genügend Leute, die es beobachtet haben ...«

»Mit anderen Worten, es könnten auch Geister sein.«

Dr. Grace lachte. »Ich schätze, es könnten ebenso gut Geister sein wie irgendwas anderes. Ja, da hast du wohl Recht.«

Geschickt bog die Ärztin in den Hof vor dem Pferdestall ein und rief Patsy ein »Brr!« zu. Während sie die Stute in den Stall führten, fiel es Morgan auf einmal wieder ein. »Hat Mrs Marshall geblutet?«, fragte sie.

Dr. Grace schaute grimmig drein. »Ja. Ich hoffe, es wird nicht wieder eine Fehlgeburt. Zwei hat sie immerhin ausgetragen.«

»Ich könnte ihr was geben«, sagte Morgan. »Damit sie das Baby behält. Es klappt immer.«

Nachdem Dr. Grace das Pferd in die Box geschoben hatte, schloss sie das Tor, drehte sich zu Morgan um und betrachtete sie. Dann meinte sie: »Wieso nicht? Ja, wieso nicht? Bin ich nicht diejenige, die immer darüber meckert, dass die so genannten Schulmediziner anderen Ideen keine Chance einräumen? Sie haben unsere Hygienebewegung kaputtgemacht, Morgan, über unsere merkwürdigen Vorstellungen gespottet. Wir haben nämlich gesagt, die Leute sollten regelmäßig baden, sich viel bewegen, an die frische Luft gehen und ihre Furcht vor abendlicher Kühle, Feuchtigkeit und Zug ablegen ... Sie haben unsere Ideen bekämpft wie die Teufel, und dann haben sie sie gestohlen, und jetzt streichen sie den ganzen Verdienst dafür ein!« Sie lachte. »Nun, ich will nicht daran schuld sein, dass sich ein guter Gedanke nicht durchsetzt, nur weil er nicht von mir stammt. Aber lass uns Eleanor Marshall sagen, wenn wir ihr dein Gebräu geben, es sei ein Tonikum. Dann kann uns keiner der Hexerei bezichtigen.«

Dr. Grace sagte das, als sei es ein Witz, doch Morgan dachte bei sich: Wer weiß denn, ob es nicht welche ist ... und wenn schon, wenn sie wirkt?

Die Schamanin

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