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Shining Stone und ihre Tochter Bird Pequot-Territorium am Massapoag nahe dem Fluss Konektikut, Sommer 1637

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Shining Stone richtete sich blinzelnd auf und reckte sich. Es war so heiß auf der Wiese, dass ihr allmählich der Schweiß in die Augen lief. Nach einem dritten langen Tag des Kräutersammelns war sie erschöpft. Sie hätten sich bereits gestern auf den Heimweg machen sollen, doch die sonnigen Tage und abendlichen Regenschauer hatten die Schafgarben wuchern lassen und sie üppig mit heilenden Blüten bestückt. Sie wollte so viele pflücken, wie sie tragen konnte. Wie sie beide tragen konnten. Ihre Tochter Bird, inzwischen zwölf Sommer alt und fast eine Frau, hatte den Ausflug zusammen mit ihr unternommen. Bird war schon oft mit Shining Stone unterwegs gewesen, sogar als kleines Kind, als sie noch tollpatschig und unsicher lief; aber in diesem Jahr war es Zeit für sie, dass sie die Künste erlernte, in denen sich ihre Mutter so gut auskannte – im Heilen, in der Geburtshilfe und den Bestattungsriten.

Bird lernte, wie sie alles tat, nämlich rasch und mit Anmut. Shining Stone betrachtete ihre Tochter stolz. Das Mädchen, nicht wissend, dass sie beobachtet wurde, war eifrig mit Ausrupfen und Pflücken beschäftigt, beugte und streckte sich, geschmeidig wie ein Schilfrohr im Winde. Ihr langer Zopf schwang hin und her, während sie nach den kleinen, blassen Blüten des Wintergrüns Ausschau hielt. Bird war eine stattliche junge Frau, wenn auch nicht ausgesprochen schön. Sie war groß und breitschultrig, hatte hochangesetzte runde Brüste und kräftige Beine. Sie konnte weite Strecken gehen oder laufen. Und ihre Hände mit den langen, schmalen Fingern zeigten sich bei jeder Arbeit geschickt: beim Korbflechten, beim Sortieren von Muscheln, beim Gerben eines Hirschfells. Oder beim Sammeln von Pflanzen für den Medizinbeutel, was sie eben jetzt tat.

Viele junge Männer nickten ihr zu, wenn sie an ihrem Wigwam vorbeikamen, und warfen sich dabei ein bisschen in die Brust. Jeder hoffte, sie würde sagen: »Ihn will ich zum Mann.« Es nützte alles nichts. Shining Stone hatte bereits jemanden ausgesucht, mit dem Bird sich vermählen würde. White Wolf, der Sohn des Sachems, wie sie ihren Häuptling nannten, war der Mann, den sie sich für ihre Tochter wünschte. Wie gut die beiden zusammenpassten! Bird gehörte einer der angesehensten Familien im Dorf an, im Grunde genommen einer der bedeutendsten Familien des ganzen Stammes. Shining Stone war eine bekannte Heilerin und Hexe, ihr Mann Great Eagle der pawwow oder Schamane. Gemeinsam standen sie ganz oben in der Rangordnung der mächtigen Pequot.

Die Pequot waren, das wussten alle, das gefürchtetste Volk in dieser Gegend. Sie zählten Hunderte von hundertmal Hunderten, und jeder andere Stamm erzitterte in ihrer Gegenwart. Ganz allein hatten sie in diesem Teil der Welt sämtliche Völker besiegt – bis auf die Narragansett, diese listigen Wiesel, doch auch sie würden bald geschlagen werden. Shining Stone lächelte über ihre grimmigen Gedanken. Sie war keine Kriegerin, sie war moigu. Es war gut, moigu – Heilerin und Hexe – zu sein in dem Stamm, dessen Name eine Kurzform von pekawatawog – die Zerstörer – war.

Der Tag war herrlich, sonnig und klar, und ein zartes, goldenes Licht schien über die Wiese. Shining Stone schaute sich um und atmete die Schönheit ihres Landes ein, wo die Geister freundlich waren. Sie und Bird hatten Nieswurz, Bärentraube, Sassafras, Schlangenwurz, Holunderrinde und – beeren zum Schweißtreiben gefunden, Weiberwurz zur Linderung von Menstruationskrämpfen und Erleichterung der Geburt sowie Steinsame, um den Mondzyklus einer Frau zu beenden. Der um ihre Brust geschlungene Medizinbeutel war jetzt schwer und voll, wie eine schwangere Frau kurz vor der Niederkunft. Einige mussten für die Tiere übrig bleiben und andere Samen und damit eine neue Generation von Pflanzen hervorbringen.

»Komm, Bird«, rief sie. »Wir haben genug und ich möchte Wild Goose noch vor Anbruch der Dunkelheit sehen.«

Bird richtete sich gehorsam auf und kam auf die Mutter zu. »Ich habe letzte Nacht von meinem Bruder geträumt. Wild Goose schwamm zwischen vielen goldenen Fischen, und dann verwandelten sie sich in Sterne und fielen vom Himmel herab.«

Shining Stone runzelte die Stirn. Das war wirklich ein seltsamer Traum, und sie wusste nicht genau, was er bedeutete. Doch sie verspürte einen Anflug von Besorgnis und sagte: »Wir wollen uns beeilen, Bird.«

Als sie vor drei Tagen aufgebrochen waren, hatte ihr Sohn sich schon fast vollständig von einer eiternden Wunde am Fuß erholt. Er war am Tag zuvor am Strand auf eine zerbrochene Muschelschale getreten und trotzdem, wie es Jungen eben tun, mit seinen Freunden weiter auf die Jagd nach Austern und Muscheln gegangen, statt sich nach Hause zu begeben und seinen Fuß in einen Breiumschlag wickeln zu lassen. Er musste teuer dafür bezahlen, dass er den klaffenden Schnitt in seiner Sohle ignoriert hatte. Innerhalb eines Tages war der Fuß rot geworden und dann auf nahezu doppelte Größe angeschwollen. Er bekam Fieber, verdrehte die Augen und stammelte Worte, die keiner verstand.

Sein Vater war den ganzen Tag bei ihm geblieben, um für ihn zu beten. Mit den Geistern zu sprechen, war ja gut und schön, aber Shining Stone wusste, dass der Breiumschlag, den sie Wild Goose gemacht hatte, wirksamer sein würde. Dennoch, Birds merkwürdiger Traum ... Shining Stone war unbehaglich zu Mute und sie beschleunigte ihren Schritt.

»Mutter, ich habe etliche von den geheimen Wurzeln ausgegraben. Die alten Wurzeln haben ganz viele neue geboren«, sagte Bird, während sie sich beeilte, um sie einzuholen.

»Gut.« Shining Stone wusste, dass Bird Hundstod, Weiße Rübe und Haselwurz meinte, die wichtig waren, weil sie gekocht oder gemahlen eine starke Arznei waren, die verhindern konnte, dass eine Frau schwanger wurde. Shining Stones Mutter hatte ihr von diesen Wurzeln erzählt, so wie sie es von ihrer eigenen Mutter gehört hatte, und so weiter, bis zum Anbeginn der Zeit. Weil sie über dieses Wissen verfügte, war Shining Stone berühmt geworden. Keine andere hatte ihre Kenntnisse. Auch gewöhnliche Frauen wussten, dass Weiberwurz die Menses herbeiführen konnte, ebenso wie er Wehen erzeugte, wenn die Geburt des Babys fällig war. Doch Weiberwurz wirkte nicht immer. Shining Stones Arzneien dagegen taten es.

»Du hast ein gutes Gedächtnis, Bird. Und ich habe dich beobachtet, daher weiß ich, dass du sowohl fähige Hände als auch einen fähigen Geist hast. Du bist mit der Kraft zu heilen geboren und wirst eine berühmte Hexe werden.«

Bird errötete vor Freude. »Oh, das hoffe ich.«

Ein paar Minuten lang marschierten sie schweigend weiter. Dann sagte Bird ein wenig zaghaft: »Mutter?«

»Ja, meine Tochter?«

»Mein Traum hat dich beunruhigt. Bitte sag mir, ob es ein böses Omen für meinen Bruder ist.«

Shining Stone zögerte einen Moment, bevor sie eine Antwort gab, die sie sorgfältig erwog. »Ich weiß nicht, was dieser Traum bedeutet. Sich im Wasser zu befinden, ist gut für deinen Bruder, denn Wasser besitzt, wie uns allen bekannt ist, große Heilkraft. Aber inmitten vieler Fische zu sein, das ist nicht gut. Wir wissen, dass ein Kranker von den Gesunden isoliert werden muss, sonst verlässt die Krankheit seinen Körper und geht auf einen anderen über. Ich weiß also nicht, ob der Traum etwas Gutes oder Schlechtes bedeutet. Ich weiß nur, dass ich ihn gern sehen und berühren und sicher sein möchte, dass alles in Ordnung ist.« Und sie zwang sich, noch ein bisschen schneller zu gehen.

»Erzähl mir eine Geschichte, Mutter, aus der Zeit, als ihr beide jung wart, du und Vater.«

Das würde helfen, die Zeit zu vertreiben, dachte Shining Stone, und sie davon abhalten, allzu viel über Birds Traum nachzugrübeln.

»Als dein Vater, Great Eagle, noch ein Junge war, fiel er zu Boden, zitterte und bebte, und Schaum trat aus seinem Mund. Jeder, der dies sah, war von Ehrfurcht ergriffen. Wie viele Geister mussten in diesem kleinen Körper wohnen, dass er auf diese Weise zuckte und tanzte! Und als es vorbei war, erinnerte er sich an gar nichts und wollte nur schlafen. Die Leute sagten: ›Die Geister haben ihn erwählt‹ ...«

»Und dann, als er älter wurde –«, hakte Bird nach. Sie liebte diese Geschichte und wurde ihrer nie überdrüssig.

»Als er älter wurde, wusste er schon im Voraus, wann die Geister erscheinen würden, so wie jetzt. Er sieht die Luft zittern. Keiner sonst sieht es. Und sie erscheinen immer.«

Bird riss erstaunt die Augen auf. »Ich wünschte, die Geister würden auch mit mir sprechen, Mutter.«

»Scht! Du weißt nicht, was du sagst. Es ist nicht angenehm. Denk an Little Fern, die Mutter deines Vaters, deine Großmutter. Sie sprach oft mit den Geistern, und alle kamen zu ihr, um sich von ihren Krankheiten heilen zu lassen. Doch die Geister wurden wütend auf sie und sagten ihr, ihre Familie sei böse und wünsche ihr den Tod. Daraufhin ging sie in den Massapoag, wo sie ertrank. Auch vom Bruder ihres Vaters hieß es, er spreche mit den Geistern, und eines Tages, als er sechzehn war, sonderte er sich bei einer Jagd ab und verschwand. Er kehrte nie zu seiner Familie zurück. Wünsch dir also nichts, was dir wehtun könnte.«

Bird blieb hartnäckig und fragte: »Wenn es so gefährlich ist, warum wählen wir dann unsere Schamanen danach aus?«

»Du dummes Kind, wir wählen sie nicht aus. Sie werden durch Zeichen aus der Welt der Geister auserwählt. Es ist eine Bürde, die ihnen auferlegt wird, und die sie akzeptieren.«

Schweigend gingen sie weiter und streiften dabei die hohen, gefiederten Gräser, die im Sumpf wuchsen. Einen Pfad gab es nicht, doch das machte nichts. Sie kannten ihren Weg gut, und das Kreischen von Möwen verriet ihnen, dass sie ganz in der Nähe von Massapoag, dem Großen Wasser, waren, wo sie ihr Sommerlager errichtet hatten.

Bird schaute bewundernd zu ihrer Mutter hinüber. Sie trug ebenso wie Bird einen knielangen Wickelrock aus Hirschleder, der von einem Gürtel gehalten wurde. Shining Stones Gürtel war ein kunstvolles Geflecht aus winzigen Perlen in vielen Farben, und ihr Stirnband bestand aus ganz feiner Vogelhaut, bestickt mit Perlen. Birds Kleidung war wesentlich einfacher, wie es sich für eine jüngere Frau schickte. Ihr Glücksamulett war aus Stein, das ihrer Mutter hingegen ein wunderschöner, langer, röhrenförmiger Anhänger, geschnitzt aus einer schillernden Venusmuschel, purpurn wie der kostbarste Wampum. Er war sehr alt und mit einem ganz dünnen Stein durchbohrt worden – nicht mit einem Metallnagel des weißen Mannes perforiert wie der heutige Wampum. »Dieses Amulett ist etwas ganz Besonderes, Bird, und wenn du Frau wirst, geht es an dich über.« Dieser Tag würde bald kommen, dachte Bird und freute sich.

Plötzlich hielt Shining Stone im Gehen inne. Auch Bird blieb stehen.

»Dieser Geruch«, sagte Shining Stone. »Riechst du das?« Bird schnupperte. »Gebratenes Fleisch«, meinte sie.

Ihre Mutter schüttelte den Kopf. »Nein. Nein, es ist ... etwas anderes. Etwas Schlimmes. Komm. Wir müssen uns beeilen.« Keuchend zwängte sie sich durch die hohen, gefiederten Gräser. Bird wurde ängstlich zu Mute und ihr Herz schlug rascher. »Mutter, was meinst du? Etwas Schlimmes? Was weißt du?« »Nichts. Ich weiß nichts. Beeilen wir uns!«

»Sie haben Essen gekocht, um es zum Fest des Sachems mitzunehmen.« Ihr Bruder hatte sich geärgert, weil er dableiben musste, erinnerte sich Bird. Er wollte so gern mit in das Fort des Sachems und mit den anderen zusammen feiern. Uncas und seine englischen Freunde hatten sich mit eingekniffenem Schwanz vom Pequot-Territorium geschlichen, deshalb wurde ein Fest anberaumt. Schrecklicher Uncas! Aus Wut darüber, dass er nicht zum Sachem ernannt worden war, hatte er sich von seinem Stamm losgesagt und andere zornige junge Männer mitgenommen. Er gab seiner Gruppe den alten Namen des Stammes, Mohegan, lebte getrennt vom Rest seines Volkes und schloss Verträge mit den Engländern. Sie hatten den Pequot Krieg angedroht, es sich jedoch anders überlegt und sich zurückgezogen. Daraufhin gab der Sachem bekannt, dass er ein großes Fest in seinem Fort veranstalten würde, und lud den ganzen Stamm dazu ein. Natürlich würde jedermann von Bedeutung zugegen sein. Oh, wie Wild Goose geweint und gehadert hatte – aber er konnte immer noch nicht laufen und hätte die anderen mit seinem geschwollenen Fuß behindert. Daher war Birds Vater gemeinsam mit denjenigen, die zu alt oder zu krank waren, um die Reise anzutreten, ebenfalls zurückgeblieben, um ihn gesundzubeten.

Der Geruch nach gebratenem Fleisch war jetzt furchtbar stark und vermischt mit einem anderen, dem Geruch nach etwas Bösem. Shining Stone ließ ihre Bündel fallen und rannte durch den Flugsand auf den Kamm der Dünen, dicht gefolgt von Bird.

Als sie hinabschauten, spürte Bird, wie ihr Herz stehen blieb. Wo war ihr Dorf? Wo war alles? Nur zwei oder drei Wigwams standen. Die übrigen waren zu Haufen von Schösslingen und Schilfrohr zertrampelt worden, die sich über die verkohlte Erde breiteten. Nur die steinernen Herdstellen in der Mitte der Lehmfußböden waren noch da. Keine Schlafplattform war heil geblieben; in Trümmern lagen sie zerstreut herum. Und alles hatte man verbrannt: die Schlafmatten, die Decken, die zum Nähen vorbereiteten Felle! Selbst der Sand war schwarz und versengt. Auch der Zeremonialbau, ein Langhaus, ihre heilige Stätte, war eingeschlagen und zerstört. Schluchzer der Angst und des Entsetzens entwichen Birds Kehle, aber ihre Mutter legte ihr eine Hand über den Mund, um jegliches Geräusch zu ersticken.

»Psst«, flüsterte sie mit einer Stimme, die fast keine Stimme mehr war. »Horch, ob du unseren Feind hörst.« Bird fühlte sich wie angewurzelt, unfähig, sich zu bewegen, unfähig zu atmen, doch sie gehorchte und lauschte. Keine lebende Seele stand aufrecht da oder ging umher. Ihr Vater! Ihr Bruder! Ihre betagten Großeltern! Sie duckte sich hinter die Düne und fühlte sich innerlich leer, während die Tränen, die sie nicht aufhalten konnte, ihr leise über die Wangen rannen.

Shining Stone vernahm ein lautes Dröhnen und Trommeln, das klang wie die Brandung. Nach einem Moment erkannte sie es als das schwere Klopfen ihres Herzens, eines Herzens, das vor Kummer und Leid brach. Dahin, alles dahin! Dahin! Sie mühte sich, es in sich aufzunehmen, zu begreifen, was ihre Augen sahen. Ihr Dorf, beinahe vollständig zerstört. Aber warum? Und von welchem Feind? Keiner von den Kriegern war hier gewesen, niemand außer den Kranken und sehr Alten zurückgeblieben. Warum sie töten? Es ergab keinen Sinn.

Sie hörte Stöhnen und schwache Schreie; das bedeutete, dass dort unten noch jemand lebte. Ihr eigener Wigwam war verschont worden. An den Rändern ein wenig schwelend, stand er da. Dann erblickte sie die aus dem Wigwam geschleuderten Leichen der alten Eltern ihres Mannes. Vielleicht lebten ihr Sohn und ihr Mann noch. Womöglich waren sie gefangen genommen worden. In diesem Falle würde sie sie befreien und anschließend diejenigen, die sie verschleppt hatten, mit einem Fluch belegen. Einem Fluch, der sie langsam und qualvoll sterben ließ! Heilsamer Zorn stieg in ihr auf.

»Komm«, sagte sie im Flüsterton, falls ein Feind in der Nähe war und horchte. »Wir gehen jetzt dort hinunter. Halte dich hinter mir.« Gemeinsam krochen sie vorsichtig die Düne hinab, wobei sie jeweils nach wenigen Schritten innehielten, um zu lauschen. Doch mit jeder Bewegung wuchs in Shining Stone die Gewissheit, dass der Feind abgezogen war, lange schon. Töten wie Feiglinge, wegrennen wie Feiglinge, dachte sie.

Rasch glitt sie mit hämmerndem Herzen den Hang der Düne hinunter und stürzte auf ihren Wigwam zu. Mein Sohn! Sie betete wortlos. Mein Mann! Lass sie am Leben sein! Sie hielt inne, um Atem zu holen, bückte sich und betrat ihr Heim. Ihr Herz blieb stehen. So viel Blut! So viele schreckliche Wunden! Man hatte sie beide gleichzeitig umgebracht; die toten Arme ihres Mannes waren noch um seinen Sohn geschlungen. Und dann sah sie, dass sein Kopf abgehackt worden war und seitlich herabhing wie bei einem zerschmetterten Vogel. Eine Woge der Dunkelheit schwappte über sie hinweg, und sie schloss die Augen, um zu verhindern, dass sie sie mitriss.

Hinter ihr ertönte ein furchtbarer Schrei. Bird, die nach ihr hereingekrochen war, stöhnte. »Oh nein! Das kann nicht sein!« Sie begann, sich auf den Knien hin und her zu schaukeln. Shining Stone fiel auf die Knie und drückte das Mädchen fest an sich. »Denk immer daran«, sagte sie. »Vergiss diesen entsetzlichen Tag nie, dein Leben lang.« Tot, alle tot, und kein weiser und angesehener Mann, der die Bestattungsriten für die armen Seelen, abgeschlachtet wie Tiere, vollziehen konnte, keine andere Frau, die mit ihr weinen, sie besuchen, »Kutchimmoke – sei guten Mutes« sagen würde, niemand, der den Trauernden Wange und Kopf streichelte. Shining Stone hielt ihre Tochter umfasst und gemeinsam beklagten sie ihr Leid.

Nach einer Weile erhob sich Shining Stone und Bird mit ihr. Sie gingen hinaus an den Strand, der vom blutroten Licht der untergehenden Sonne erhellt war. Shining Stone zitterte. Ihr ganzer Körper drängte sie zum Wegrennen. Aus der Nähe hörte sie ein leises, schmerzerfülltes Wispern. Sie bewegte sich auf das Geräusch zu, Bird gleich hinter ihr, sodass sie den Atem des Mädchens auf ihrer Schulter spürte.

»Au!« Fast wären sie über ihn gestolpert – einen schlanken jungen Mann, der zusammengekrümmt am Fuß einer Düne lag. Shining Stone kannte ihn. Er war einer von denen, die in der Hoffnung, Birds Aufmerksamkeit zu wecken, oft an ihrem Wigwam vorbeigekommen waren. Sein Name war Thundercloud. Er hatte so viele schreckliche Verletzungen, dass ihr nicht klar war, wie er damit noch leben konnte. Als sie sich neben ihn kniete, um zu sehen, ob sie ihn vielleicht retten könnte, öffnete er sein eines verbliebenes Auge. Er versuchte zu sprechen, doch sie verstand nichts, bis sie ihr Ohr direkt an seinen Mund legte. »Rennt weg«, sagte er, »rennt weg von hier ...« Er musste innehalten und ein dünnes Blutrinnsal zeigte sich auf seinen Lippen.

»Erzähle mir, so viel du kannst, kleiner Bruder«, drängte Shining Stone ihn. »Du bist schwer verwundet, und ich muss wissen, wer dir das angetan hat, bevor du stirbst. Sag mir, es waren die Naragansett, nicht wahr?« Aber sein Mund formte das Wort »Nein«.

Sie schickte Bird Wasser holen, um seine Lippen zu benetzen. Mit jeweils zwei oder drei Worten auf einmal berichtete er von dem Überfall. Als die Sonne unter den Horizont gesunken war und die ersten schwach leuchtenden Sterne am Himmel erschienen, kannte Shining Stone die ganze Geschichte. Es war schlimmer, als sie es sich hätte ausmalen können. Uncas hatte ihnen das Fürchterliche angetan, zusammen mit den Yenguese, den Engländern. Sie hatten nur so getan, als ob sie das Pequot-Territorium verließen. In der Nacht waren sie umgekehrt und bei Tagesanbruch in aller Stille den Fluss Mystic entlang dorthin gegangen, wo die Pequot im Fort feierten, hatten sie überfallen und alle hingemetzelt.

»Die ›Zerstörer‹ sind vernichtet worden«, sagte Thundercloud. »Vor zwei Tagen. Der Sachem auch.« Einige der Mohegan-Krieger waren vom Fort am Mystic ausgeschwärmt und hatten sich auf die Suche nach weiteren Pequot gemacht, um sie zu töten. Thundercloud war die vielen Meilen gerannt, um diejenigen zu warnen, die zu Hause geblieben waren. »Aber sie waren schon hier«, flüsterte er. Mehr Blut ergoss sich aus seinem Mund. Shining Stone nahm seine Hand in die ihre, um die Kraft ihres Körpers auf ihn übergehen zu lassen, und sei es nur für einen Augenblick. Neben ihr sagte Bird: »Aber Uncas ist ein Pequot, und die Pequot schlachten sich nicht gegenseitig ab.« Shining Stone erwiderte: »Nein, Uncas bezeichnet sich als Mohegan und nicht als Pequot. Ich bezeichne ihn als Abtrünnigen. Er hat sich gegen seine Brüder und Schwestern gewandt und das Volk der Pequot vernichtet.« Tränen strömten ihr aus den Augen, während sie sprach.

Schließlich tat Thundercloud seinen letzten Atemzug und sein Kopf fiel nach hinten. Bird sank weinend und jammernd auf die Knie.

Shining Stone legte die Arme um das Mädchen. Ihr Herz war zu Stein geworden. »Wir werden später weinen, meine Tochter«, sagte sie. »Du musst jetzt aufhören. Uns werden sie nicht erwischen. Wenn es künftig noch Pequot auf der Welt geben soll, müssen wir sofort aufbrechen. Wir werden zu einem geheimen Platz in der Nähe des Winterlagers gehen, den ich kenne. Vielleicht konnten einige der anderen fliehen und kommen auch dorthin.«

Sie rafften nur ein paar Sachen zusammen, ihre Arzneien, zwei Töpfe und Decken. Dann erklommen sie die Dünen und fingen an zu laufen. Als es vollkommen dunkel war, machten sie Rast, um zu schlafen. Bei Tagesanbruch standen sie auf und setzten ihren Marsch fort, immer wieder hinter sich blickend, bei jedem Rascheln im Gehölz zusammenfahrend. Sie stießen auf einen Fluss, wo sie tranken, Johannisbeeren von den Büschen pflückten und aßen. Shining Stone sagte: »Lass uns diesem Strom zu seiner Mutter folgen.« Sie meinte den breiten Fluss namens Konektikut, der hoch oben im Norden entsprang und sich brausend durch das Pequot-Land ergoss, bevor er sich in den Massapoag entleerte und sich mit dem großen Wasser vereinigte.

Bis Sonnenuntergang waren sie ein gutes Stück flussaufwärts gelaufen. »Sind wir bald an dem geheimen Ort, Mutter?«

»Ja, es dauert nicht mehr lange. Wir werden zu einer Flussbiegung kommen, und dort müssen wir dem Wasser den Rücken kehren und bergan durch den Wald steigen.«

Am nächsten Morgen entdeckte Shining Stone den verborgenen Pfad. Sie kletterten hoch und immer höher durch üppig wuchernde Gehölze, die von dem Gewisper zahlreicher Tiere erfüllt waren. Sie würden genug zu essen haben, dachte Bird. Sie bemerkte die vielen kräftigen Schösslinge, aus denen sie morgen einen neuen Wigwam bauen würden.

Endlich zwängte sich Shining Stone durch einen dichten Birkenhain und sagte: »Hier.«

Die ebene Lichtung inmitten des Waldes wurde hell von der Sonne beschienen, gekühlt durch die umstehenden Bäume, und man konnte weit unten den rauschenden Fluss hören sowie ganz in der Nähe einen Bach. Auf der anderen Seite des Platzes stand ein mächtiger Hickorybaum. Mit seiner rauen Rinde sah er aus wie ein riesiger grauer Bär; seine weit verzweigten Äste hingen mit ihrer Last reifer Nüsse fast bis zum Boden herab. So ein großer und freundlicher Baum muss ein gutes Omen sein, dachte Bird.

»Wir müssen stark sein«, sagte ihre Mutter. »Wir können nicht zurück. Wir haben Manitook, Gottes Land, für alle Zeiten verlassen und werden diesen Ort zu unserer neuen Heimat machen.«

Bird umarmte die Mutter, um sie zu trösten, obgleich sie sich leer und verloren fühlte. Sie wusste kaum mehr, wer sie war. Wer konnte sie denn sein, ein Mädchen ohne Familie, ohne Dorf, ohne Stamm? Sie war so klein und die Welt so groß.

Während sie dastanden und sich umschlangen, kam ein Kitz aus dem Wald spaziert, starrte sie mit großen, sanften Augen an und nahm dann Reißaus. Beide lachten ein wenig. Shining Stone wischte Bird und sich selbst die Tränen von den Wangen. Sie nahm ihre Tochter bei der Hand und sie wanderten auf der Lichtung herum.

»Hier werden wir den Wigwam aufstellen und dort einen kleinen Garten anlegen, und wir werden Fallen bauen, um Kaninchen zu fangen. Siehst du den großen Baum da drüben, Bird? Dieser Baum wird unsere Mutter und unser Vater sein. Er wird uns beschützen. Bald schon werden andere ihren Weg hier herauf finden, und dann können wir beginnen. – Ja«, sagte sie entschlossen und schaute Bird tief in die Augen, damit diese sich stets ihrer Worte entsann. »Dies ist der richtige Ort für uns. Hier werden wir bleiben.«

Die Schamanin

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