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8 Juli 1883

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Grace lehnte sich gegen den Türpfosten, die Hitze der Nachmittagssonne auf ihrem Gesicht genießend, obwohl Damen eigentlich keiner Sommersprosse oder leichten Bräunung erlauben durften, ihre lilienweiße Haut zu beflecken. Nach dem Leben, das sie geführt hatte, war sie wohl keine Dame, schätzte sie. Aber das machte nichts. Ärztin zu sein bedeutete, dass sie von zahlreichen Vorschriften der feinen Gesellschaft befreit war. Es war komischerweise so ähnlich, wie geschlechtslos zu sein. Und wenn man bedachte ...

Sie war dabei, einzudösen, und das wollte sie nicht. Ihre Sprechstunde war zu Ende – im Sommer, wenn die Kinder herumtoben und auf Bäume klettern und schwimmen und sich dabei verletzen konnten, war das Wartezimmer stets brechend voll –, doch sie musste noch aufräumen. Sie war schläfrig; in den frühen Morgenstunden hatte sie ein Klopfen an der Tür geweckt – der verzweifelte Vater eines kranken Babys –, und sie war bei Tagesanbruch zurückgekommen.

Sie öffnete die Augen und versuchte, ihren Blick auf Morgan zu konzentrieren, die neben ihr auf der Veranda Bananenblätter zerstieß. »Jered Grisham hat hohes Fieber«, berichtete Grace der jüngeren Frau. »Hat ihn plötzlich erwischt und will nicht sinken. Er phantasiert, ist so krank, dass er es nicht bemerkt, wenn ich ihn besuche. Amelia traut sonst niemandem. Sie sagt, wenn er die Augen aufmacht und wieder er selbst zu sein scheint, soll ich aufspringen und wegrennen.« Sie lachte kurz auf. »Na, sie sollte wissen, dass ich das nicht tun werde. Ich habe keine Angst vor Jered Grisham – vor allem nicht, wenn er so aussieht wie jetzt. Er ist schwach wie ein neugeborenes Kind. Wenn er nicht so ein Ochse von Mann wäre, würde ich meinen, er läge im Sterben.«

Morgan wich das Blut aus dem Gesicht; sie sah aus wie der Tod. Was um Himmels willen war los? Das Mädchen war in letzter Zeit abends oft ausgegangen, weil sie, wie sie meinte, frische Luft brauchte, Bewegung brauchte, sich die Sterne anschauen wollte. Grace kümmerte es nicht, wenn Morgan im Dunklen poussierte – sie hatte gesehen, welche Kuhaugen sie dem jungen Silas machte –, aber irgendwie glaubte sie nicht, dass es die Romantik war, die Morgan nachts ins Freie trieb. Nein, das war etwas anderes. Doch was?

Endlich sprach Morgan. »Im Sterben?«, fragte sie mit schwacher Stimme.

»Ich habe diese Krankheit schon vorher erlebt, und immer im Sommer. Aber gewöhnlich befällt sie Kinder. Manchmal verursacht sie Lähmungen. In Essex gibt es ein Mädchen, das im Rollstuhl sitzen muss. Es hat ihre Beine getroffen. Ich muss sagen, ich habe sie noch nie so schnell oder so heftig eintreten sehen.« Sie beobachtete Morgans Gesicht. Ja, das Mädchen war verstört, definitiv. »Hat Silas dir erzählt, dass sein Vater krank ist?«

»Nein. Na ja, er hat was erwähnt, gestern, dass sein Pa sich mit Fieber hinlegen musste. Aber nicht, dass er phantasiert oder dergleichen ...« Morgan redete sehr schnell. Grace kam zu dem Schluss, sie würde eine Menge dafür geben, die Gedanken der jungen Frau lesen zu können. »Mein Pa hat auch gekränkelt«, fuhr Morgan rasch fort. Falls sie glaubte, Grace merkte nicht, dass sie das Thema wechselte, hatte sie sich getäuscht. »Er war stark und geschickt, aber manchmal wurde er plötzlich krank, Kopfschmerzen, nehme ich an. So sehr Ma und ich ihn auch verarzteten, wir mussten einfach warten, bis es wieder besser wurde. Das Schlimmste war, wenn ihm sein rechtes Bein wehtat. Die Rebellen haben ihn erwischt, als er im Großen Krieg kämpfte.«

»›Der Große Krieg!‹ So würde ich es nicht nennen! Es war ein Bürgerkrieg, Morgan, und das bedeutet: Bruder gegen Bruder. Eine furchtbare Sache. Oh ja, die jungen Männer hielten ihn für ein großes Abenteuer. Und wir anderen zuerst auch, muss ich zugeben. Was für ein Anblick das war, all diese schmucken jungen Leute, so begierig darauf, sich in ihre Uniformen zu werfen und für die Konföderation zu kämpfen.«

»Die Konföderation? Aber –«

»Ich lebte unten im Süden, als der erste Schuss fiel. Ich hatte gerade geheiratet ...«

»Geheiratet?« Morgans erstaunte Miene war direkt komisch.

»Ja, geheiratet. Ich weiß, dass ich dir älter vorkomme als Gott, doch einst war ich ein hübsches junges Ding und sehr glücklich verheiratet mit Jedadiah Chapman, dem Sohn von Reverend und Mrs. Curtis Chapman aus Memphis, Tennessee. Jed war zu Besuch bei einem Cousin in Philadelphia, weißt du, und die Familie des Cousins war mit der meinigen befreundet. Ich hieß damals Grace Henderson, lebte in Philadelphia als Tochter von Dr. John und Emmy, als Schwester von John Thomas, war achtzehn Jahre alt und voller Leben. Jed und ich saßen bei einer Dinnerparty nebeneinander ...« Sie lachte. »Tatsächlich fand diese Party im Hause meiner Eltern statt. Meine Mutter hatte beschlossen, uns zusammenzubringen, um ›zu sehen, was passiert‹. Die arme Mama, sie wollte mich unbedingt in den sicheren Hafen der Ehe lotsen, denn Papa nahm mich immer mit ins Krankenhaus. Dort ging ich mit ihm auf Visite, und er erklärte mir, was ich wissen wollte. Also alles!« Morgan wischte sich die Hände ab und setzte sich zu Grace auf die Bank. »Ich schreckte nicht mal vor dem Anblick von Blut zurück – geschweige denn, dass ich in Ohnmacht fiel, wie es sich für ein anständiges junges Mädchen gehört hätte. Es war also dringend notwendig, dass ich mich verlobte, bevor mein Ruf für alle Zeiten ruiniert war!«

»Als brave und gehorsame Tochter«, fuhr Grace mit einem kleinen Lächeln fort, »tat ich meiner Mutter den Gefallen, mich in Jed Chapman zu verlieben. Als wir aber sagten, wir wollten bis Weihnachten verheiratet und noch vor Neujahr in Memphis sein, weinte sie. ›Mutter, das hast du dir doch immer für mich gewünscht!‹, protestierte ich. ›Aber ich dachte ja nie, dass dich dein Ehemann uns wegnehmen würde, ganz bis nach Tennessee!‹ Mama sprach Tennessee aus, als wäre es der Name einer Krankheit.

Wie dem auch sei. Im Januar 1862 ließen sich Mr. und Mrs. Jedadiah Chapman in Memphis nieder, in dem großen Backsteinhaus seiner Eltern. Ein Ort voller wunderschöner Dinge: Porzellanfigurinen, vergoldete Spiegel, kunstvoll geschnitzte Mahagonimöbel aus England, prächtige Teppiche und Samtvorhänge, sogar ein reich verziertes Ebenholzklavier, auf dem die Damen spielten. Aber wenige Bücher. Das fiel mir gleich auf, und kein Bach für das Piano, nur leichte Melodien zum Singen und Tanzen. Meine Schwiegermutter Mary Martha und Jeds Schwestern Sally und Cissie waren hübsch und stets elegant gekleidet. Sie waren der Typ Frau, der, wie ich wusste, meiner Mutter gefallen hätte. Sie waren sittsam und kicherten und klatschten gern. Ein- oder zweimal, als ich es wagte, von den Krankenhausvisiten mit meinem Vater zu sprechen, wurde ich angefleht, damit aufzuhören, ›oder unsere Mutter, Grace, wird bei Gott tot umfallen!‹ Tatsächlich wedelte Mama Chapman schon energisch mit ihrem Fächer und rief einen der Diener herbei, um sich ein Glas Portwein für ihre Nerven bringen zu lassen!

Es war eine ganz andere Welt als die, in der ich aufgewachsen war, Morgan. Aber ich liebte Jed so sehr, dass es schien, als ob sonst nichts zählte. Doch dann, bereit, in die Schlacht zu ziehen, verpflichtete er sich plötzlich bei der Kompanie von Israel Fellowes. Ich glaube nicht, dass wir zu der Zeit länger als zwei Wochen in Memphis waren. Es herrschte damals ein solches Kriegsfieber, eine solche patriotische Inbrunst. Alle jungen Männer wollten für die Konföderation und für ihr Land kämpfen. Viele der reichen Plantagenbesitzer des Südens stellten private Militärkompanien auf, die sie selbst ausstatteten und ausbildeten. Fellowes’ Followers nannte sich Jeds Gruppe, und sie starben förmlich vor Ungeduld, an die Front zu ziehen. Und dann starben sie wirklich, und Jed war einer der Ersten ... Doch das geschah natürlich viel später.

General Grant war den Tennessee River hochgesegelt und kam am sechsten Februar 1862, nur vier Meilen von Fort Henry entfernt, ganz in unsere Nähe. Natürlich schloss sich Jeds Kompanie in aller Eile den Truppen von General A. S. Johnston an, die entsendet wurden, um das Fort zu verteidigen.

Ich blieb zu Hause mit den anderen Frauen – meiner Schwiegermutter, zwei Schwägerinnen, die gemeinsam kaum Hirn genug für eine hatten – das fand ich jedenfalls –, und den Sklaven. Ich wusste nicht, was ich tun sollte, denn ich hasste es, müßig zu sein. In Jeds Familie galten, anders als in der meinen, eine gute Ausbildung und ein wacher Verstand als eine Art Absonderlichkeit, die vor dem Blick der Öffentlichkeit verborgen werden musste. Bei Dinnerpartys und Bällen brachte man mich immer zum Schweigen und erklärte dann, Yankee-Frauen seien so ungewöhnlich, nicht wahr? Nun, da Jed weg war, hatte ich niemanden, mit dem ich reden konnte, niemanden, der mich umarmte, niemanden, der mir in die Augen schaute und mir sagte, dass ich ihm die ganze Welt bedeute ... niemanden, der mich liebte, den ich liebte.

Es gab nichts zu tun, außer andere Klatschtanten zu besuchen, die Schneiderin kommen zu lassen oder Teegesellschaften zu geben. Allerdings forschten wir in der Zeitung immer eifrig nach Neuigkeiten aus dem Krieg. Deshalb wusste ich, wann die meisten Truppen von Fort Henry abgezogen wurden, das damit einem gegnerischen Angriff offen stand.

In den nächsten zehn Tagen unternahmen die Rebellen nichts, um Grants Vormarsch aufzuhalten. Sie beschlossen sogar, auch Fort Donelson preiszugeben. Alle Höhergestellten flohen nachts per Boot; nur General Buckner blieb mit 11 500 Soldaten dort. Buckner fragte Grant nach seinen Bedingungen, und Grants Antwort – eine Überraschung, da die beiden in West Point Freunde gewesen waren – lautete: gar keine, nur ›bedingungslose und sofortige Kapitulation‹. Zu jedermanns Bestürzung willigte Buckner ein, und Grants Truppen wurden 11 500 Soldaten, 40 Kanonen und, was am wichtigsten war, Lebensmittel übergeben. Es war verdammt schwer, den Truppen Proviant zukommen zu lassen, wenn sie unterwegs waren – das wussten selbst ein paar Frauen in einem Herrenhaus in Memphis.

Du kannst dir wohl vorstellen, wie glücklich und erleichtert ich war, als endlich ein Brief von Jed eintraf, der sich in Mufreesboro aufhielt. Ich weiß immer noch jedes einzelne Wort auswendig. ›Meine geliebte Frau‹, begann er, ›ich schreibe dir mit dem Wunsch, ich hätte bessere Nachrichten für dich. Wir sind bei General Johnston und hoffen, uns in ein, zwei Tagen in Corinth mit Beauregards Truppen zu vereinigen. Wir sind nicht glücklich über die Kapitulation und Preisgabe zweier unserer Forts. Ich wünschte, ich verstünde besser, was sich die Generäle dabei denken, doch das wird mir kaum beschieden sein, da ich noch keinem von Angesicht zu Angesicht begegnet bin ...‹ Diesen Teil habe ich allen laut vorgelesen. Als ich anfing fortzufahren, sah ich seine Liebesworte und murmelte, der Rest sei eher persönlicher Natur. Woraufhin meine Schwägerinnen kicherten und meine Schwiegermutter heftig mit dem Fächer wedelte.

Nun, da wir wussten, wo Fellowes’ Followers waren, griffen wir jeden Tag nach der Zeitung. Wir lasen einander laut vor und spürten den Ereignissen auf einer großen Karte von Tennessee nach, die Jeds Vater uns mitgebracht hatte. Als Grant sechs Divisionen nach Shiloh entsandte, rückten Johnstons Jungs, darunter auch mein Jed, gegen die Unionstruppen vor. Ich markierte seinen Weg mit einem Bleistift und betete für meinen Mann ... Langweilt dich dieses ganze Kriegsgerede, Morgan?«, fragte Grace. Sie hatte vergessen, an wie viel sie sich erinnerte. Alles flutete in ihr Gedächtnis zurück.

»Nein, nein! Pa hat mir auch oft Geschichten erzählt, aber die handelten natürlich alle von den dreckigen Rebellen. Oh, tut mir Leid, ich meinte bloß, es ist interessant, die andere Seite zu hören. Das Seltsame ist, dass sie ziemlich gleich klingt«, sagte Morgan.

»Ich glaube, wenn man nass und hungrig ist und friert und jede Minute um sein Leben fürchtet, ist es egal, auf welcher Seite man ist. Es ist das Gleiche. Nun gut. Jedenfalls ging die Union am siebten April in die Offensive – sie hatten zusätzliche Truppen – und um vier Uhr nachmittags waren Johnstons Männer auf dem Rückzug – sehr schlechte Nachrichten für uns zu Hause wartende Frauen. Am selben Tag wurde eine Insel im Mississippi von der Union eingenommen, Morgan. Du musst wissen, das bedeutete, dass der Fluss bis fast nach Memphis offen war. Nun, ein solches Jammern und Wehklagen wie im Chapman’schen Haushalt an diesem Abend hast du noch nie gehört ...

Was mich betraf, so hatte ich es gründlich satt. Ich hatte gelesen, dass oben im Norden Frauen tatsächlich ihr Heim verließen – sogar ihre Kinder, wenn sie welche hatten –, um verwundete und kranke Soldaten zu pflegen. Aber nicht in Memphis, nicht in diesem Haus! In diesem Haus herrschten Panik und Hysterie.

›Lieber Gott, was soll jetzt aus uns werden, Mr. Chapman?‹, weinte meine Schwiegermutter. ›Was wird aus uns?‹ Worauf er nicht antwortete, nur murmelte: ›Nur ruhig, Mutter, nur ruhig.‹ Das brachte Sally und Cissie in Fahrt. ›Man wird uns vergewaltigen, das wird aus uns, Mama!‹ ›Man wird uns umbringen! Grants Männer werden die Tür einschlagen und geradewegs hier hereinkommen und uns totschießen und dann alles stehlen, was im Haus ist. Du weißt doch, wie die Yankees sind. Ach so, außer dir, Grace.‹« Sie schnaubte verächtlich bei der Erinnerung. »Und dann folgten Schreie: ›Mein Silber!‹, ›Mein Schmuck!‹, ›Meine Aussteuert Letzteres stammte von Cissie, die beabsichtigte, Abel Carter zu heiraten, wenn er aus dem Krieg zurückkehrte. Falls er aus dem Krieg zurückkehrte, dachte ich, falls überhaupt jemand zurückkehrte. Ich jedenfalls hatte nicht vor, schwermütig herumzusitzen und zu heulen.

Ich ging eine ganze Weile in mich. Schließlich war ich eine Frau aus dem Norden, oder etwa nicht? Und hier hockte ich nun, strickte Socken und hörte zu, wie alberne Weibsbilder hysterisch wurden! Was konnte ich sonst tun? Und dann fiel es mir ein. Ich konnte mich nach Shiloh aufmachen und Jed suchen. Wenn ich ihn gefunden hätte, könnte ich mich darauf konzentrieren, verwundete Soldaten zu pflegen. Ich wusste beinahe so viel wie ein Arzt. Ich könnte eine große Hilfe sein.

Nachdem der Beschluss gefasst war, vergeudete ich keine Zeit. Ich brach noch in derselben Nacht auf, sobald alle im Haus fest schliefen.«

»Hatten Sie keine Angst?«, fragte Morgan. »Eine Frau ganz allein bei Nacht, mitten im Krieg?«

Grace stockte, während ihr Gesicht einen belustigten Ausdruck annahm. »Nun ja, Morgan, ich ging nicht direkt als Frau allein in die Dunkelheit. Ich säbelte mir die Haare bis eben über die Ohren ab, um auszusehen wie ein Junge. Da ich groß war und eine einigermaßen dunkle Stimme hatte, glaubte ich, ich könnte als Jüngling durchgehen, der noch nicht ganz über den Stimmbruch hinaus ist.«

»Das war aber mutig!«, meinte Morgan bewundernd.

»Kann schon sein. Obwohl ich damals nicht in solchen Begriffen dachte. Ich wusste nur, dass ich irgendetwas Sinnvolles tun musste, und dies war die einzige Möglichkeit. Aus Jeds Garderobe grub ich Reitkleidung und einen breitkrempigen Hut aus. Ich hatte kleine Brüste, die ich mit einem Leinenstreifen leicht flach an den Körper binden konnte. Ein weiteres Band um die Taille, und die Hosen passten. ›Kein schlecht aussehender junger Mann‹, fand ich und salutierte mir selbst. ›Wie geht es Ihnen, Sir?‹, fragte ich mein Spiegelbild, wobei ich versuchte, Jeds Südstaatenakzent zu imitieren. Ich war höchst zufrieden mit mir, das kann ich dir sagen! Ich grinste den Jüngling im Spiegel an und taufte ihn Beau. Ich würde Jeds Bruder Beau sein.

Auf dem Weg nach draußen knarrten die Stufen ein bisschen, und mein Herz fing an zu rasen, doch niemand rührte sich. Weiter ging es durch die Küche, durch die Hintertür. Ich war froh, dass ich vom Kleiderständer in der Halle ein Cape mitgenommen hatte. Es war ein wenig kühl. Mit jedem Schritt, den ich in der Dunkelheit tat, fühlte ich mich sicherer, und als ich im Stall ankam, war ich bereit für ein Abenteuer. Tatsächlich fühlte ich mich genau wie ein junger Mann, wie ich mir da ein schönes Ross aussuchte, es sattelte und davonritt in Richtung Shiloh.

Als ich dort eintraf, stellte ich jedoch fest, dass Johnstons Armee nordwärts nach Virginia marschiert war. Aber der Boden in Shiloh war bedeckt mit Verwundeten, Sterbenden und Toten. Der Gestank war grauenvoll; selbst das Pferd bäumte sich auf und wollte weg. Ich band es an einen Baum und wanderte umher in der Hoffnung, nicht jenes geliebte Gesicht zu erblicken, die blauen Augen getrübt vom Fieber ... oder schlimmer. Wenn ich ein Stöhnen vernahm, blieb ich stehen, um zu sehen, ob ich etwas tun konnte. Aber ich hatte nichts bei mir außer den Kleidern, die ich am Leib trug, nicht mal eine Wasserflasche. Ich hörte Stimmen und lauschte, begierig, etwaige Neuigkeiten über Johnstons Jungs zu erfahren. Ein Soldat, zu jung, um wie die meisten anderen einen Bart zu haben, lag tot da, einen kleinen Hund in den Armen. Zwei Verwundete versuchten, den Hund dazu zu bewegen, sein Herrchen zu verlassen. Während ich zuschaute, lockten sie das Tier zu sich, doch es winselte nur und jaulte und lief zurück zu dem Leichnam, in dessen leblose Arme es sich schmiegte. Ich wollte weinen, durfte aber nicht. Hätte ich meinen Gefühlen nachgegeben, so wäre das Spiel sicher aus gewesen.

Ich hatte drei riesige Zelte bemerkt, die, wie mir schien, als Lazarett dienten. Ich ging auf das erste zu, holte tief Atem und trat ein. Es war voller Verletzter. Ein schrecklicher Geruch hing in der Luft, die von Ächzen und Schreien erfüllt war. Die meisten Patienten hatte man auf den nackten Erdboden gelegt, da es nur wenige Feldbetten gab, die den Delirierenden und Sterbenden vorbehalten waren. Die Beleuchtung war schwach, aber nach ein, zwei Minuten erkannte ich zwei oder drei Frauen, die Köpfe in Turbane gehüllt, die Kleider von Schürzen bedeckt, die mit Schmutz, Blut und Gott weiß was sonst noch befleckt waren. Sie gingen von Mann zu Mann, um nachzusehen, was getan werden konnte. Nun, das wollte ich auch. Ich schlenderte durch das Zelt und schaute mir jeden Patienten an. Die Hände hatte ich hinter dem Rücken gefaltet, eine Imitation meines geliebten Vaters, wenn er seine Visiten machte, weil ich versuchte auszusehen, als ob ich Arzt wäre und hierher gehörte.

Als ich mich einem der Feldbetten näherte, legte eine der Frauen gerade eine schmutzige Decke über einen amputierten Arm. Ich eilte zu ihr. ›Bitte, Ma’am‹, sagte ich mit möglichst barscher Stimme, ›eine offene Wunde dürfen Sie nur mit sauberen Tüchern und sauberen Verbänden abdecken.‹

Mir schlug das Herz bis zum Hals, kann ich dir sagen, während ich darauf wartete, von ihr entlarvt zu werden. Doch sie neigte nur den Kopf und sagte: ›Es tut mir Leid, Doktor. Aber wir sind furchtbar knapp mit Wasser zum Waschen.‹

Ich war begeistert! Es funktionierte! Mit Leidenschaft übernahm ich meine Rolle. ›Heißes Wasser ist knapp? Bei all den Flüssen und Bächen?‹

›Wir haben weder Gefäße, um es abzukochen, noch Sklaven, die es uns holen. Und wenn wir in der Stadt um Hilfe bitten, spucken sie uns an. Sie halten alle Frauen hier für ... Soldatenliebchen. Wir können lediglich dafür sorgen, dass jeder Mann einen Schluck Wasser und Brandy bekommt und ein Fleckchen, auf dem er liegen kann. Es gibt keinerlei Arzneimittel, nicht seit der Blockade der Föderalisten. Wir tun, was wir können, doch was wir brauchen, sind mehr Ärzte. Sie schickt der Himmel.‹

›Ich bin noch keiner, sagte ich. ›Aber vielleicht kann ich helfen. Wo geht es in den nächsten Ort?‹

Sie zeigte mir den Weg, und ich stieg auf mein Pferd und ritt los. Ich ging von Haus zu Haus und von Laden zu Laden, erbettelte mir große Töpfe und alten Stoff für Verbandszeug und galoppierte erst zurück, als ich so beladen war, dass ich nichts mehr tragen konnte. Die Städter hatten versprochen, so viele Feldbetten zu uns herauszubringen, wie sie auftreiben konnten. Beim Reiten dachte ich nach. Alle hatten mich für einen Doktor gehalten ... und ein Doktor würde ich bleiben. Wer wollte etwas dagegen sagen? Ich wusste genug, um mich wie ein richtiger Arzt zu benehmen. Ich wusste genug, um zu erkennen, dass die Amputation, die ich im Zelt gesehen hatte, sehr schlecht ausgeführt worden war. Die Wunde war bereits infiziert. Ich würde heiße Tücher darauf legen und versuchen, den Eiter herauszuziehen, doch nach dem fiebrigen Zustand des Mannes zu urteilen, war es vermutlich schon zu spät. Angesichts des Schmutzes, der dort überall herrschte, hätte es mich nicht überrascht zu erfahren, dass irgendein dummer Chirurg den Arm mit einer dreckigen Axt abgehackt hatte. Oder mit dem Schwert, mit dem der Soldat andere getötet hatte. Es war dieselbe Ignoranz, gegen die mein Vater in seinem Krankenhaus immer wieder kämpfte. Was ich in diesem Zelt gesehen hatte, brachte mein Blut in Wallung. Dort starben Männer, nicht am Schlachtgeschehen, sondern an falscher oder aufgrund gar keiner Behandlung. Und jetzt noch die blödsinnige Blockade, die Arzneimittel zur Kriegskonterbande erklärte! Es war eine Sünde!

Als ich wieder ins Zelt trat, wurde ich herzlich und erleichtert von den erschöpften Freiwilligen begrüßt. Es war noch jemand da, ein Chirurg, der sich ebenfalls freiwillig gemeldet hatte und sich als Charles Gillis vorstellte. Plötzlich war ich mir meiner Verkleidung nicht mehr so sicher und sehr nervös, als ich mit ihm redete. Er schien mich als männliches Wesen jedoch völlig zu akzeptieren. Er dankte mir überschwänglich für das dringend benötigte Versorgungsmaterial. ›Wir brauchen alles, was wir kriegen können, obwohl ich nicht sicher bin, wie viel es nützt‹, sagte er. ›Viele leiden an Unterkühlung oder Ruhr und an Mumps, Diphtherie, Windpocken ...‹

Ich traute meinen Ohren nicht. ›Kinderkrankheiten!‹, rief ich aus. Er lächelte gequält. ›Ja. So viele unserer Südstaatenjungs kommen aus den entlegensten ländlichen Gegenden, die Sie sich vorstellen können. Sie sind diesen Kinderkrankheiten, die jetzt durch alle Ränge wüten, nie zuvor ausgesetzt gewesen. Das bedeutet, dass sie eine Zeit lang nicht kämpfen können, aber zumindest sterben sie nicht. Was all die Todesfälle verursacht, von denen es viel zu viele gibt, sind Schmutz und unhygienische Zustände. Ganz zu schweigen von den Amputationen‹, schloss er mit einer Grimasse.

›Chirurgen wollen immer schneiden; dazu sind sie ausgebildet.‹ Ich musste mir auf die Zunge beißen, weil ich fast ›sagt mein Vater‹ hinzugefügt hätte. Ich musste daran denken, dass ich der Arzt war.

›Stimmt‹, meinte er. ›Ich bin selbst Chirurg. Aber nur zu schneiden, weil es schnell geht und weniger Aufwand verlangt, als eine Infektion zu versorgen –! Das läuft meiner Meinung nach auf Mord hinaus. Doch es ist ja niemand da, dem ich meine Meinung sagen kann – bis auf Sie jetzt.‹ Er lachte. Er erinnerte mich an Jed – nicht in seinem Aussehen, obwohl auch er eine Brille trug, die seinen Blick weicher machte –, sondern in seiner munteren, gut gelaunten Art. Er sagte: ›Wissen Sie, Doktor – ach, ich weiß ja nicht mal Ihren Namen!‹

›Chapman. Beau Chapman.‹ Ich schaute ihm offen in die Augen, obgleich mir das Lügen zu schaffen machte.

›Dr. Chapman, Sie sind die Antwort auf unsere Gebete. Nein, kümmern Sie sich nicht um die Jungs dort drüben. Die werden sich alle erholen. Sie haben die Masern! Und diese hier haben blutige Füße vom Marschieren und Kämpfen ohne Schuhe. Der da wurde von seinem eigenen Pferd niedergetrampelt, das sich vor der Kanone erschreckte. Aber hier ist einer, um den ich mir Sorgen mache. Er wurde ins Knie geschossen, und irgendein Idiot hat amputiert, statt die Kugel herauszuholen. Und nun sehen Sie, was passiert ist. Sein Bein ist entzündet und geschwollen, bis hoch zur Leistengegend – was ist los?‹

Ich hatte unabsichtlich ein Geräusch von mir gegeben, während ich den Patienten anstarrte. Der Mann mit dem amputierten Bein war mein geliebter, mein wunderschöner Jed. Jetzt allerdings nicht mehr wunderschön. Er war mit Läusen übersät und stank zum Himmel; seine Augen waren geöffnet, doch ihr Blick ging ins Leere. Und ich durfte nichts sagen, nichts tun, das mich verraten hätte. Ich wäre am liebsten auf die Knie gesunken, hätte meinen Liebling in die Arme geschlossen und meinen Kummer laut herausgeweint. Aber ich konnte nicht!

›Mein M – mein Bruder!‹, schrie ich, froh, dass mein armes, von Schwindel befallenes Gehirn noch funktionierte. ›Es ist mein Bruder Jed!‹ Ich hatte das Gefühl, ungehindert weinen zu können – selbst der tapferste Mann durfte um seinen Bruder weinen –, kniete mich neben ihn und sagte: ›Dr. Gillis, heißes Wasser und irgendein sauberes Tuch, bitte.‹ Ich weiß nicht, wie lange Gillis dafür brauchte; für mich stand die Zeit still. Jed versuchte zu sprechen, doch ihm gelang nur ein heiseres Flüstern. ›Hier, Brandy!‹, rief ich. ›Schnell!‹ Ich benetzte seine Lippen mit Brandy, goss ihm ein wenig davon in den Mund und beobachtete voller Dankbarkeit, wie er ihn hinunterschluckte.

Als Gillis mit einem dampfenden Stück nassen Tuchs zurückkehrte, wusch ich Jed das Gesicht. Tränen liefen mir die Wangen hinab, und wieder und wieder betete ich: ›Oh Gott, bitte, Gott!‹ ›Ich hasse diesen Krieg!‹, schrie ich, Jeds Hand haltend, und wünschte mir, er möge die Augen öffnen und sehen, dass seine Liebste zu ihm gekommen war. Aber er war nicht bei sich, und während ich noch neben ihm kniete, wurde sein Atem immer mühsamer, und ich schaute entsetzt zu, wie er mehr und mehr nach Luft rang. Schließlich musste ich mit ansehen, wie er starb, ohne im Stande zu sein, ihm zu helfen oder sein Leiden zu erleichtern. Da warf ich den Kopf in den Nacken und heulte vor Kummer, und niemand machte eine Bemerkung darüber oder fand das seltsam. Als ich endlich in der Lage war, mit Jammern und Weinen innezuhalten, wurde mir bewusst, dass Dr. Gillis und ein weiterer Chirurg neben mir standen.

›Es tut mir Leid ...‹, sagte der andere Mann.

Gillis erklärte: ›Wir müssen Ihren ... Bruder ins Freie bringen. Es gibt Männer, die seinen Platz hier drinnen brauchend. Seine braunen Augen blickten sanft hinter der glitzernden Brille hervor.

›Natürlich‹, sagte ich. Natürlich. Denn Jed war tot. Tot. Und mein Leben hatte sich für alle Zeiten verändert.

Ich weiß nicht, woher ich die Kraft genommen habe«, meinte Grace zu Morgan, die sich keinen Zentimeter gerührt hatte, so gefesselt war sie, die Augen nass vor mitfühlenden Tränen. »Ich half mit, ihn zu begraben, das weiß ich noch, und ich nahm seine Brille – die habe ich heute noch – und seine Bibel an mich. Jemand hatte seine Taschenuhr samt Kette und seine guten Lederstiefel gestohlen. Es gab nichts, was ich sonst noch tun wollte, außer diesen Ort zu verlassen und heimzukehren. Und damit meinte ich nicht Memphis, Tennessee, das kann ich dir sagen. Ich war entschlossen, zu meinen eigenen Eltern in Philadelphia zurückzukehren oder bei dem Versuch zu sterben.«

»Haben Sie sich immer noch als Arzt und als Mann ausgegeben?«

»Oh ja, natürlich. Ich folgte Johnstons Armee nordwärts, Richtung Virginia. Irgendjemand in Shiloh hatte mein Pferd mitgenommen, also lief ich erst mal zu Fuß. Dann sah ich ein Pferd auf einem Feld und bestieg es. Ich ritt mit den versprengten Linien, die sich nach Osten auf Pittsburg Landing zu bewegten. Die Männer waren sicher, sie würden die vorrückenden Unionstruppen geradewegs in den Fluss drängen und den Tagessieg davontragen. Mittlerweile war die zweite Aprilwoche gekommen. Nicht lange, und General Buell traf mit frischen Truppen ein und vertrieb die Südstaatler. Als sie sich nach Corinth zurückzogen, folgte ich ihnen nicht. Ich hatte unterwegs bessere Kleidungsstücke aufgelesen – von Toten, Morgan. Das tat jeder. Man musste es tun, wenn man überleben wollte, und ich wollte überleben. Ich trug eine Wildlederjacke, eine lederne Hose und einen Hut und hätte von überallher stammen können. Deshalb ließ ich den Südstaatenakzent fallen, den ich mir für die Rebellen zugelegt hatte, und bewegte mich durch die Linien der Union hindurch nach Norden, nach meinem richtigen Bruder fragend, John Thornas Henderson von der Fifth Pennsylvania. Ich verwandelte mich in den Chirurgen George Henderson und schloss mich den ersten Unionstruppen an, auf die ich stieß.

Virginia war wunderschön, Morgan, mit seinen weiten, friedlichen Farmen, und Hafer und Weizen wuchsen, als hätte es nie einen Krieg gegeben. Keine Sümpfe und zerfurchten, unpassierbaren Straßen mehr. Nein, wohlgenutzte Landstraßen in hervorragendem Zustand. Die Unionsarmee nahm Vieh mit und ließ die Pferde und Rinder unterwegs auf den Feldern nach Futter suchen. Wir nahmen uns, was es an Obst und Gemüse gab, und das war reichlich. Ab und zu hielten wir an, um das Gelände zu erkunden und festzustellen, was mit der Armee der Rebellen geschah. Sonst zogen wir einfach immer weiter und ließen die Kranken und Verwundeten mit Medizin und Essensvorräten zurück. So manches Mal war ich in Versuchung, bei ihnen zu bleiben und sie zu pflegen, doch ich wollte lebend nach Hause gelangen. Also tat ich mein Bestes, solange ich dort war, und musste damit zufrieden sein.

Überall am Wegesrand waren Tote und Halbtote. Jedes erdenkliche Gebäude musste als Hospital dienen. Ich versorgte Soldaten in Ställen, Kirchen, Lagerhäusern, Schulen, Gerichten. Wir bemühten uns alle sehr, sie zu retten, aber die meisten starben trotzdem. Nach einer Weile musste man sich innerlich abhärten, sonst hätte man das Gefühl gehabt, vor Kummer selbst sterben zu müssen.

Im Juli trafen wir in Savage’s Station auf das Feldlazarett der Union. McClellan hatte dort sein Hauptquartier, deshalb war es ein wichtiger Ort, belebt und geschäftig. Norfolk und Portsmouth – das sind Städte in Virginia, musst du wissen – waren bereits ohne Blutvergießen gefallen, und der größte Teil Virginias war Unionsterritorium.«

Grace hörte einen Moment auf zu reden, während sie die Ereignisse im Geiste vor sich sah. Es war lange, lange her, seit sie sich gestattet hatte, in Gedanken bei ihnen zu verweilen. Sie hatte alles in sich vergraben, dort, wo auch die Liebe zu Jed Chapman vergraben war.

»Savage’s Station bestand nur aus einem kleinen Haus, das war alles. Die Verwundeten und Kranken lagen unter den Bäumen auf der Erde oder in einem der zwanzig großen Zelte, die im Garten aufgeschlagen worden waren. Dr. John Swinburne war für die medizinische Versorgung zuständig. Ich stellte mich natürlich als Dr. George Henderson vor, Freiwilliger und Chirurg, und bot meine Hilfe an.

›Schön, dass Sie hier sind, junger Mann, sagte Swinburne, ›obwohl wir Sie vor ein paar Wochen noch besser hätten gebrauchen können. Zufällig erwarten wir bereits Unterstützung. Dr. Albert Baunot aus Pittsburgh, Pennsylvania, ist mit einem Trupp von Chirurgen und Krankenschwestern auf dem Weg hierher. Doch denen werden Sie sicher auch willkommen sein. Wir haben nie genügend Ärzte.‹

Oh, Morgan, ich sage dir, mein Mut sank. Ich hatte Dr. Baunot kennen gelernt, als er Vaters Krankenhaus in Philadelphia besuchte. Das war nicht nur eine beiläufige Begegnung gewesen, Guten Tag und Auf Wiedersehen, sondern zwei- oder dreimal. Er und Vater waren von ihrem Medizinstudium her befreundet, und Dr. Baunot hatte mehrmals bei uns zu Hause gegessen. Würde er mich erkennen und meine Sachen packen lassen? Oder, schlimmer noch, meine dürftige Verkleidung sofort durchschauen und mich zur Zielscheibe des allgemeinen Spottes machen? Nun, ich schätzte, es gab kein Zurück mehr. Es war ein Risiko, das ich eingehen musste. Also lächelte ich und sagte, ich würde mich sehr darauf freuen, Dr. Baunot kennen zu lernen, und fragte, wo ich in der Zwischenzeit gebraucht würde. Die Antwort war: überall.

Ich arbeitete wirklich schwer, Morgan, und nicht nur als Arzt. Wir alle sprangen ein und taten, was getan werden musste, vom Wäschewaschen über die Nahrungssuche und das Tierefüttern bis zur Chirurgie und zum Verlesen der Bestattungsrituale. Da es wenige Arzneien gab, nahmen wir Zuflucht zu alten Hausmitteln. Hartriegelrinde gegen Fieber. Amberbaumrinde, mit Milch aufgekocht, gegen die Ruhr. Stechpalmenrinde zum Kauen gegen Husten.

In Savage’s Station sah ich auch die berühmte Mrs. John Harris bei der Arbeit als Pflegerin, beim Briefeschreiben und Verrichten vieler guter Taten für die kranken und sterbenden Soldaten. Sie liebten sie, Morgan, und keine Menschenseele konnte sie beschuldigen, ein Soldatenflittchen zu sein!«

»Aber Dr. Baunot! Was geschah mit ihm? Oh bitte, spannen Sie mich nicht auf die Folter!«

»Ach ja, Dr. Baunot. Nun, er kam angestürmt mit seinen Pferden und seinem Proviant und seinen Krankenschwestern und Begleitern und hatte keine Minute Zeit, in meine Richtung zu gucken. Einmal dachte ich, das Spiel sei aus. Ich war gerade mit der Schulter eines Mannes beschäftigt – er hatte sich mehrere Kugeln eingefangen, und ich entfernte sie so vorsichtig, wie ich konnte, und säuberte die Wunden. Als ich sie eben verband, kam Dr. Baunot vorbei. Er blieb stehen, um mir zuzuschauen, ging weiter und hielt dann erneut inne, und ich sagte mir: Jetzt passiert es.

Er wirbelte herum und fixierte mich. Ich sage dir, der Schweiß tröpfelte mir den Rücken hinab, und mein Herz pochte wie wild. Trotzdem sah ich ihm direkt ins Auge. Ich war sicher, er würde mit dem Finger auf mich zeigen und mich als medizinischen Hochstapler bloßstellen und, schlimmer noch, als Frau, die versuchte, als Mann durchzugehen. Aber er starrte mich nur an und schüttelte dann den Kopf, als wollte er sagen: Nein, nein, das bilde ich mir bloß ein. Entschuldigung‹, meinte er. ›Machen Sie weiter, Doktor, machen Sie weiter. Ordentliche Arbeit übrigens.‹ Und ging weg. Da wusste ich, dass ich mir keine Sorgen machen musste; ich würde sie alle zum Narren halten. Ich lachte innerlich auf und war voller Erleichterung, doch ich wagte nicht, sie zu zeigen. Es war allerdings ein bisschen knapp gewesen, sodass mir unbehaglich zu Mute war und ich unter dem Vorwand, ich müsse meinen Bruder finden, ein paar Tage später aufbrach.

Aber es war etwas Wichtiges mit mir geschehen, Morgan. Ich war erwachsen geworden. Nichts treibt einem die Unschuld so schnell aus wie ein Krieg. Und am allerwichtigsten war, dass ich wusste, ich würde Medizin studieren, wenn ich erst zu Hause war. Ich wusste, ich musste Ärztin werden, eine richtige Ärztin, denn dafür war ich geboren.«

»Oh, Dr. Grace«, sagte Morgan mit glänzenden Augen. »Glauben Sie, ich könnte auch eine werden?«

»Ja, natürlich könntest du das. Warum nicht? Du bist sehr gut darin – begabt, denke ich.«

»Bin ich das? Wirklich? Oh, dass Sie das sagen, Dr. Grace! Das ändert die Sache völlig! Warten Sie nur, bis ich es Silas erzähle!«

»Ich bin sicher, er wird sich freuen, dass du Vertrauen zu ihm hast«, meinte Grace trocken. Und bei sich fügte sie hinzu: Ich hoffe, du erzählst ihm auch, was du jede Nacht so Rätselhaftes tust, bevor du dich in echte Schwierigkeiten bringst.

Morgan hatte ihr Geheimnis gut bewahrt, doch man brauchte kein Genie zu sein, um sich auszumalen, dass ein Mädchen, das mit Schamanen und Hexen und Geisterbeschwörern aufgewachsen war, nicht jede Nacht unterwegs war, nur um spazieren zu gehen und sich die Sternbilder anzuschauen. Nein, sie vollbrachte irgendeinen Zauber, da war Grace sich sicher. Aber welche Art von Zauber? Das war die Frage.

Die Schamanin

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