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2 Oktober 1880

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»Da läuft sie«, dachte Annis, als Morgan ihrem Pa entgegenrannte. Sie konnte ihn durch den Wald kommen, durch das Unterholz krachen hören, denn er machte genug Lärm, um Tote aufzuwecken. Er war heute Morgen in die Stadt gegangen, um zu handeln. Sie hoffte, dass er den Stoff bekommen hatte, den sie wollte, den rot karierten Gingham. Beide Mädchen brauchten Kleider, etwas Robustes, vor allem Morgan. Die Kleine wuchs einfach zu schnell aus ihren Sachen raus. Kaum hatte Annis ihr etwas angezogen, war es auch schon zu kurz und zu eng. Es war nicht etwa so, dass Morgan sich ein neues Kleid wünschte. Sie wäre ebenso gern herumgelaufen wie ein Junge. Sie sagte immer, sie wollte, sie wäre ein Junge.

Daran gab Annis Todd die Schuld. Morgan war sein Liebling, und sie himmelte ihren Daddy an, hing an jedem seiner Worte, wollte ihm überallhin folgen. Nun, er redete mit ihr – mehr als mit irgendjemandem sonst auf dieser Welt. Aber Morgan war nun mal kein Sohn, egal, was Todd am Tag ihrer Geburt gesagt hatte. Morgan war ein Mädchen – fast schon eine Frau. Es war Zeit, dass sie von ihrer Mam lernte, ebenso wie Annis von der ihren gelernt hatte.

Annis beugte sich zu dem Korb mit nasser Wäsche hinab und nahm ein Hemd heraus, zog daran, bis es glatt war, und legte es dann zum Trocknen über einen Busch. Als sie sich aufrichtete, erinnerte sie ein Stechen im Kreuz daran, dass sie achtunddreißig, beinahe neununddreißig war. Bald würde sie eine alte Frau sein, weise und respektiert. Bei diesem Gedanken musste sie lachen. Heutzutage wurden die Älteren nicht mit der Ehrerbietung behandelt, die sie ihren Eltern entgegengebracht hatte. Sie konnte sich glücklich schätzen, wenn Morgan ihr von zehn Malen einmal gehorchte. Sie hängte den Rest der Wäsche auf und trug den leeren Korb auf die Veranda. Als sie nach drinnen ging, fiel ihr Blick auf den Spiegel, den Todd im Tausch für ein Kaninchen erhalten hatte. Eine Ecke fehlte, aber das schadete nichts. Sie hatte nie zuvor einen Spiegel gehabt. Jahrelang hatte sie ihr Haar am Teich hinter dem Haus kniend geflochten. Während sie stehen blieb, um ihr Spiegelbild zu bewundern, dachte sie: Immer noch schlank wie ein Mädchen, der Rücken so gerade wie eh und je, wenn er auch ab und zu schmerzte. Todd fand sie schön. Er sagte es ihr nie, doch sie wusste es. Nachts kam er ungeduldig und steif zu ihr wie ein Jüngling. Sie betrachtete sich. War sie denn schön? Nicht in den Augen der Städter, so viel war ihr klar. Aber ihr langes, dunkles Haar glänzte und hing ihr in einem dicken Zopf bis aufs Hinterteil hinab. Ihre Haut war dunkel, ja, zu dunkel. Das Baumwollkleid, das sie trug, unterschied sich nicht von denen unten in der Stadt, eng in der Taille und mit langem, weitem Rock. Sicher, sie hatte ihn hochgeschlagen und in ihr Schürzenband geklemmt, um bei der Arbeit die Beine frei zu haben. Das taten die Frauen in East Haddam nicht.

Also sah sie anders aus. Nun, und sie war auch anders, weil sie Indianerblut in sich hatte. Das verlieh ihr gewisse Kräfte, die weiße Frauen nicht hatten. Und trotzdem sahen sie auf sie als eine Wilde herab. Das war doch unsinnig.

Sie fasste das Amulett an, das ihr an einer geflochtenen Schnur um den Hals hing. Es war aus glänzender, purpurner Muschelschale geschnitzt, und ihre Mutter hatte es ihr gegeben, als sie zur Frau wurde, und ihr erzählt, dass es ihrer Ahne Bird gehört hatte, der moigu. An ihrem Gürtel baumelte ein lederner Medizinbeutel, den sie ebenfalls von ihrer Mutter bekommen hatte. Diesen Beutel berührte sie oft, als wäre es ein Talisman. Aber sie berührte ihn nicht, damit er Glück brachte. Er war Zeichen für das, was sie war. Sie war Annis Wellburn, die Heilerin.

Ihre Tränke und Besprechungen galten bei den Leuten auf dem Lande als Zauberei, und sie kamen von weit her, um sich von ihr behandeln zu lassen. Sie war bekannt dafür, dass sie hohes Fieber senkte und Verletzungen heilte, die sonst niemand heilen konnte. Sie schickten regelmäßig nach ihr, wenn eine Geburt begann, wollten keine andere. Annis lächelte. Immer wieder fragten sie sie nach den Rezepten für ihre Arzneien. Sie konnte ihnen genau sagen, wo sie die richtigen Kräuter und sonstigen Pflanzen fanden, doch das nützte ihnen nichts. Keine Einzige von ihnen besaß nämlich die innere Kraft des Heilens. Diese Kraft des Heilens hatte sie von ihrer Mutter und der Mutter ihrer Mutter und der Mutter der Mutter ihrer Mutter, und so weiter bis zum Anfang aller Zeiten, geerbt. Sie konnte einen Kranken ansehen, ihm einfach nur in die Augen sehen und seine Gliedmaßen betasten, und wusste dann ziemlich genau, was ihm fehlte, und was wahrscheinlich dagegen half.

Ihre Mutter und ihre Großmutter hatten sie jeden Tag mit nach draußen genommen und sie in der Heilkunst unterwiesen, ihr Lieder vorgesungen, mit deren Hilfe sie sich an die Namen der Pflanzen und ihre Heilwirkung erinnern sollte. Und abends hatte der Großvater ihr Geschichten erzählt – von Great Eagle, dem pawwow oder Schamanen des Pequot-Stammes, und seinem Sohn Wild Goose, beide hingemetzelt von dem bösen Uncas und seinen Mohegan, die ihre Brüder im Stich ließen, um Seite an Seite mit den Yankees zu kämpfen. Er erzählte ihr von der Frau des Schamanen, einer großen moigu namens Shining Stone, und ihrer Tochter Bird, davon, wie sie nach dem Sammeln von Kräutern und Blättern heimgekehrt waren und das Lager am Strand zerstört, alle tot vorgefunden hatten.

Annis entsann sich, dass ihr Großvater wehklagend sagte: »Das war das Ende der mächtigen Pequot, Tochter meiner Tochter. Sie töteten den Sachem und tausend Angehörige seines Volkes in seinem Fort am Fluss Mystic. Diejenigen, die übrig blieben, waren wenige, in alle Winde zerstreut und verängstigt.« Zum Schluss erzählte er die Geschichte, wie Shining Stone und Bird zu einem geheimen Ort in den Hügeln weit oberhalb des Flusses Connecticut hatten fliehen müssen.

»Und dieser Ort ist genau hier«, sagte ihr Großvater dann. Wie oft sie derselben Geschichte auch in denselben Worten lauschte, bei diesem letzten Satz lief es Annis immer kalt den Rücken herunter.

Morgan hingegen interessierte sich nicht dafür. Morgan sehnte sich nach dem Unmöglichen. Sie hatte versucht, dem Kind Stolz auf seine Pequot-Herkunft zu vermitteln, doch Morgan wollte nur ihrer dicken, übellaunigen Freundin Lizzie Bushnell gleichen, der Tochter des Pfarrers. Morgan sah nicht, dass Lizzie mit ihrer teigigen Haut und dem blassen, beinahe weißen Haar unscheinbar wie ein Türpfosten wirkte. Farblos. Wie ein Gespenst. Oder, dachte Annis belustigt, wie ein schlecht gelauntes Kaninchen. Aber Morgan wollte kein Wort gegen Lizzie hören, die unten in der Stadt neben ihr auf der Schulbank saß. Annis war dafür, Morgan aus der Schule zu nehmen, doch davon wollte Todd nichts wissen.

»Sie soll lesen und schreiben lernen wie jedes anständige Mädchen«, sagte er. »Denk daran, sie ist keine ganze Indjanerin.« Das wusste Annis. Aber sie wusste auch, dass Morgan die Gabe des Heilens besaß, auch wenn sie sich sträubte, sie anzunehmen. Morgan hatte ihren eigenen Kopf und wollte nicht auf die Mutter hören. Annis seufzte. Sie wusste, dass das Mädchen genug Verstand hatte, um zu lernen. Ihr fehlte bloß der Wille ... Und Annis musste dem Mädchen alles über Medizin beibringen, was sie wusste. Denn inzwischen war ihr klar, dass Becky nie lernen würde. Niemals.

Beim Geräusch knackender Zweige am Rande der Lichtung drehte Annis sich um, ein Willkommen für Todd und Morgan auf den Lippen. Doch die Worte erstarben in ihr, als eine magere weibliche Gestalt, ins Sonnenlicht blinzelnd, sichtbar wurde. Sie hatte ein verschmiertes Gesicht und dreckige, verfilzte Haare, und ein zerlumptes Etwas war mit Weinranken um ihre Taille geschlungen. Ihre Brüste waren nackt, schmutzbedeckt und wunderschön. Sie stank.

»Einen guten Tag wünsche ich dir, Becky«, sagte Annis laut mit ruhiger, unbewegter Stimme. Die Streunerin antwortete nicht, sondern blickte sich nur furchtsam und vor sich hin murmelnd um. »Hier bist du in Sicherheit, Rebecca, du bist zu Hause. Keiner wird dir wehtun.«

Becky reagierte nicht, und als Todd und Morgan kurz darauf aus dem Schatten des Waldes traten, eine mit Waren beladene Trage aus zusammengezurrten Ästen schleppend, hastete sie zurück in den Schutz der Bäume. Diesmal allerdings blieb sie in Annis’ Sichtweite. Wahrscheinlich hatte sie Hunger; das war in letzter Zeit der einzige Grund, weshalb sie je nach Hause kam. Als Becky Morgan anstarrte, spürte Annis, wie sie sich aus Angst um ihre jüngere Tochter verkrampfte. Man wusste nie, was Becky sich in den Kopf setzen würde.

Vor ein paar Wochen war Becky vorbeigekommen und hatte gesagt: »Hunger. Essen«, einfach so. Kein Bitte oder Danke, Mam, kein Hallo oder Wie geht es dir – nur diese Forderung. Als Morgan ihr Brot und Fleisch herausbrachte, hatte Becky es sich geschnappt und zu geifern angefangen. Dass Morgan von bösen Geistern behaust sei, hatte sie gesagt; klar wie der helle Tag könne sie sie aus Morgans Nase und Ohren und Mund und zwischen ihren Beinen hervorkriechen sehen. Todd, der sich in der Nähe aufhielt, war voll Ungestüm und Wut herbeigestürzt und hatte Becky ins Gesicht geschlagen. Sie hatte nicht geweint. Es schienen keine Tränen mehr in ihr zu sein, seit die Geister gekommen waren und von ihr Besitz ergriffen hatten. Sie hatte ihn angespuckt und war in den Wald gerannt.

Heute war das erste Mal seither, dass sie sie wieder sahen. So sehr er sich auch bemühte, Todd fand ihr Versteck einfach nicht – er, der die Fährte eines Tieres riechen konnte, bevor er sie sah.

»Hallo, Becky«, sagte Morgan sanft.

»Komm du mir bloß nicht zu nahe! Hörst du? Ich weiß, was du denkst! Du glaubst, das weiß ich nicht? Bleib mir vom Leibe!«, schrie Becky aus vollem Halse.

Morgan lief zu Annis. »Was hat Becky, Mam? Warum sagt sie solche Sachen? Warum hasst sie mich?«

»Sie hasst dich nicht, Morgan«, sagte Annis. »Sie ist von Geistern besessen, genau wie Quare Auntie. Es ist so, als ob sie uns nicht mehr hören kann, nur ihre Geister. Wenn es wie zu alten Zeiten wäre, würde sie vielleicht als heilig gelten. Mit den Geistern zu sprechen, Morgan, das ist ein machtvoller Zauber. Aber die Zeiten haben sich geändert. Die meisten Leute haben Angst vor Geistern. Keiner opfert ihnen mehr. Keiner geht mehr hinaus in die Wildnis, um von ihnen zu träumen. Vielleicht sind deshalb alle guten weggegangen, und die übrigen haben sich deiner Schwester bemächtigt. Doch um die Wahrheit zu sagen, ich weiß es nicht. Ich weiß es einfach nicht.«

Das Kind schmiegte sich Schutz suchend an sie. Eine Weile schwieg Morgan. Dann fragte sie: »Werde ich auch wie Becky, wenn ich älter bin?«

»Das weiß ich auch nicht«, erwiderte Annis.»Würdest du das denn gern?«

»Nein! In der Schule machen sich alle über meine Schwester lustig! Sie sagen, dass sie verrückt ist! Sie machen sie nach! Das kann ich nicht leiden!« Morgan brach in Tränen aus. »Deshalb muss ich es wissen. Sind die Geister hinter mir her?«

Annis schüttelte den Kopf und antwortete traurig: »Ich weiß nicht, Morgan. Becky war ungefähr in deinem Alter, als du geboren wurdest, und sie war so lieb zu dir, dass wir sie Mütterchen nannten. Ich habe mir nie träumen lassen, dass so etwas geschehen könnte. Die Kinder in der Schule, die können sie nennen, wie sie wollen, aber wir beide wissen, dass es die Geister sind, nicht wahr, Morgan?«

Mit einem erstickten Laut riss Morgan sich von ihr los und rannte ins Haus. Annis hörte, wie sie, so schnell sie konnte, die Leiter zur Empore hochkletterte. Als ob sie schneller laufen könnte als die Geister!

Nun, am besten kümmerte sie sich um das Nächstliegende. »Du willst was zu essen, Becky?«, rief Annis.

»Ja. Bring mir Essen.«

»Nein. Komm und hol es dir.«

»Kann nicht.« Becky kauerte im Schatten und schaute furchtsam auf ihren Pa, der, die Last seiner Vorräte aus der Stadt noch hinter sich im Staub, dastand. Er wusste, er durfte sich nicht plötzlich bewegen, sonst würde sie Reißaus nehmen. »Der Dämon wird mich kriegen!«, sagte sie mit zitternder Stimme.

»Hier gibt es keine Dämonen.«

Becky zeigte auf ihren Vater. »Dort wohnt der Dämon, zwischen seinen Beinen. Ich hab den Dämon gesehen, den Schlangendämon. Au! Er beißt! Er tut mir weh!« Sie legte ihre Hände zwischen ihre Beine und mimte Schmerz. »Der Junge hat seinen Dämon zu meiner Höhle gebracht«, sagte sie, Todd immer noch anstarrend, »hat ihn rausgelassen, damit er mich beißt. Aber ich hab den Dämon gebissen, wirklich! Und dann hab ich den Jungen umgeschubst und bin gerannt und gerannt und gerannt.« Sie hielt inne und lächelte, oh Wunder. »Jetzt hab ich eine andre Höhle. Da findet mich niemand.«

»Pass auf, Becky, ich dreh mich um, damit dir kein Dämon zu nahe kommt«, sagte Todd mit honigsüßer Stimme. Während er sich umdrehte, meinte er zu Annis: »Verdammt, warum versuchen sie sie zu zwingen, sich zu ihnen zu legen, wo sie doch sehen können, dass sie nicht ganz richtig ist? Es macht mich rasend, wenn ich mir vorstelle, dass sie das überhaupt wollen!«

»Unten in der Stadt redet man über sie, Todd. Das habe ich dir doch erzählt. Die Wilde nennen sie sie. Du erinnerst dich doch, wie jeder Mann, als sie erst zwölf war, mitten in seinem Tun innehielt und sie anstarrte. Und glaub nicht, dass Becky es nicht bemerkte. Sie warf ihr Haar nach hinten und schwenkte die Hüften. Ich musste sie ohrfeigen, damit sie lernte, sich zu benehmen. Aber sie war ganz versessen auf das Gestarre und Gegrinse. Das Schlimme war, dass sie die Männer bloß angucken musste, schon gelüstete es sie nach ihr.«

»Nun, dann sollten sie sich schämen!«

»Das sollten sie wirklich«, erwiderte sie trocken. Sie hatte Todd nie erzählt, was passierte, als Becky dreizehn war, also vor sieben Jahren. Sie fürchtete, Todd würde sein Gewehr nehmen, hinunter in die Stadt gehen und vier Menschen töten und ins Gefängnis kommen und womöglich gehängt werden. Gehängt, ganz sicher. Was sollte sie dann ohne ihren Mann anfangen?

Also hielt sie den Mund. Aber sie hatte den Vorfall nie vergessen, keine Minute. Sie waren in die Stadt gegangen, um Kerosin und Melasse und Mehl und Kleiderstoff zu besorgen, sie und Becky. Schon damals war Morgan am glücklichsten mit ihrem Daddy gewesen. Annis wollte in den Gemischtwarenladen, und da schönes Wetter war, ließ sie Becky draußen auf der Veranda in einem Schaukelstuhl warten. Sicher, sie machte sich ein bisschen Sorgen, weil sie wusste, dass das Mädchen jedem Mann zuzwinkerte. Aber, so hatte Annis sich gesagt, es war helllichter Tag und direkt an der Hauptstraße. Also ging sie in den Laden, wo sie sich nur ein, zwei Minuten aufhalten wollte.

Die Frau des Besitzers war acht Monate schwanger mit ihrem fünften Baby, deshalb dauerte es etwas länger als sonst, als sie vereinbarten, dass Annis bei der Entbindung Hebamme sein sollte. Mrs. Griswold erzählte jedem, sie dächte gar nicht daran, ohne Annis Wellburn ein Kind zu bekommen. Ihr erstes war eine schwere Geburt gewesen, und sie hätte sterben können, wäre nicht nach Annis geschickt worden. Annis hatte ihren Bauch betastet und das Problem erkannt. Das Baby lag verkehrt herum und konnte nicht heraus. Annis richtete die von ihrer Schwester und Mutter gestützte Frau auf und schwang sie hin und her, während sie sanft über ihren Leib strich, damit das Baby sich umdrehte. Nun, das tat es auch, und bevor sie sich versahen, war ein schöner, großer Junge für Mr. und Mrs. Griswold geboren, der nach seinem Abendessen schrie. Mary Griswold sagte, Annis Wellburn sei ein Genie. Dabei war sie nur einer Pequot-Sitte gefolgt, die bei allen Algonkin gebräuchlich war.

Jedenfalls dauerte es fünfzehn, zwanzig Minuten, bis Annis heraus auf die Veranda kam, und Becky war weg. Ein merkwürdiges, unangenehmes Gefühl beschlich Annis. Irgendetwas war schief gelaufen, das wusste sie: sie konnte es riechen. Und siehe da, als sie um den Gemischtwarenladen herumging, hörte sie einen Tumult in dem Stall auf der Rückseite sowie eine Menge »Pssts« und »Schts«.

Sie stürzte auf die große Stalltür zu, öffnete sie und kletterte die Leiter hoch auf den Heuboden, wo der Lärm herkam. Dabei ging sie ganz leise – auf Indianerfüßen, würde Todd sagen. Und da war ihre schöne Tochter, eine unschuldige Dreizehnjährige, in einen Hügel aus Heu gedrückt, ihre Röcke über den Kopf geschlagen, strampelnd und schreiend, während ein Mann, auf die Arme gestemmt, sein Instrument rasch in ihr hin und her bewegte. Annis hatte die Jungen bemerkt, die immer um Becky herumschnüffelten, doch weder ihr Angreifer noch die drei anderen hier auf dem Heuboden, alle mit roten Gesichtern und starr vor Erregung, während sie warteten, bis sie an die Reihe kamen, waren Jungen. Sie waren erwachsene Männer.

Annis stieß einen Kriegsschrei aus und warf sich auf den Mann, der eben Becky vergewaltigte. Er brüllte, rollte von Becky herunter und wandte sich wütend nach ihr um. Ungläubig starrten sie einander an. Er war kein anderer als Josh Griswold, der Mann, dessen Frau mit ihrer beider fünftem Kind schwanger war. Angeblich feilschte er gerade mit einem reisenden Pferdehändler Amos Webb. Einer der wartenden Männer war genau dieser Amos Webb, und dann gab es da noch George Spencer und William Chesley. So genannte brave, gottesfürchtige Bürger dieser Stadt.

Die Männer standen reglos da wie die Salzsäulen. Annis ignorierte sie. Sie marschierte zu ihrer Tochter hinüber, deren Kopf von Kleidern verdeckt war, hievte sie hoch, wischte ihr die Tränen vom Gesicht und zog ihr die Röcke herunter. Dann verpasste sie den Männern eine Gardinenpredigt, die sie so bald nicht vergessen würden. Sie brachte die weinende Becky nach Hause, steckte sie in eine Wanne mit heißem Wasser und schrubbte sie gründlich ab. Aber es nützte nichts. Von diesem Tage an fürchtete Becky Männer. Mittlerweile hatte sie Angst vor jedem – vor ihrem Pa, ihrer Schwester, vor Wesen, die nur sie allein sehen konnte. Vor einigen Jahren hatte sie angefangen, vor sich hin zu murmeln oder plötzlich ihre Geister anzuschreien und lange, wütende Gespräche mit ihnen zu führen.

Seit Becky sich in die Wälder zurückgezogen hatte und dort umherwanderte, gab es immer den einen oder anderen Mann, der dachte, wenn er sie fände, könnte er sich zu ihr legen; wer würde schon davon erfahren? Wer glaubte denn einem Mädchen, das nicht ganz richtig war? Sie würden leichtes Spiel haben, meinten diese Männer. Aber das hatten sie sich so gedacht. Becky war auf der Hut und flink und entwischte ihnen stets. Zumindest hofft Annis das.

»Komm nur auf die Veranda, Becky, und iss«, rief Annis. Zu ihrer Überraschung kam Becky sofort. Man wusste einfach nie, was sie tun würde. Wie ein wildes Tier fiel das Mädchen über Fleisch und Brot her, schlang das Essen herunter, stopfte es sich mit beiden Händen in den Mund, und als Annis ihr Wasser anbot, trank sie, als hätte sie seit einem Monat nichts getrunken. Sie ließ sogar zu, dass Annis sie in die große Kupferwanne steckte und sie abschrubbte und ihr die Haare wusch. Die ganze Zeit über sang sie. Kein Lied, das man kannte, bloß ein Durcheinander aus Wörtern ohne Bedeutung, doch sie schien zur Abwechslung mal ruhig zu sein. Das war ein Segen.

Nachdem Becky sich den Bauch voll geschlagen hatte und sauber war, kuschelte sie sich in eine Ecke und schlief binnen kürzester Zeit ein. Annis kniete sich neben sie, glättete die langen, kupferroten Locken des Mädchens und betrachtete sie. Im Schlaf war ihr angespannter, verängstigter Gesichtsausdruck verschwunden. Becky sah aus wie eine normale, schöne junge Frau, auch wenn ihr Haar noch ein wenig verheddert war und sie vom Leben in der Wildnis überall Kratzer und blaue Flecken hatte. Manchmal ließen die Geister für eine Weile von ihr ab, sodass sie wieder die alte Becky war, lieb und fügsam und wissbegierig. Dann aber kehrten sie ohne Warnung zurück, und sie wandte sich gegen einen, packte womöglich ein Messer und sagte, sie würde einen umbringen, wenn man ihr näher käme. Oder sie flüchtete in den Wald, ungereimtes Zeug vor sich hin plappernd.

»Hast du Becky lieber als mich, Mam?«

Erschrocken fuhr Annis herum. »Was redest du da, Mädchen? Natürlich habe ich Becky nicht lieber als dich! Und schleich dich das nächste Mal nicht so auf Katzenpfötchen an mich heran, hörst du?«

Morgans Unterlippe begann zu zittern und ihre Augen füllten sich mit Tränen. »Ich hab mich nicht angeschlichen, Mam, wirklich nicht. Ich hab Lärm gemacht, du hast mich nur nicht gehört.«

»Nun wein doch nicht. Ich habe es nicht böse gemeint. Es ist nur so, dass ich mir Sorgen mache um Becky, weil sie so ganz allein im Wald lebt.«

»Aber sie hat ihre Geister, Mam.«

»Ja, sie hat ihre Geister.« Annis wusste, dass Geister real waren, dass sie alles behausten: das Wasser, die Bäume, die Erde und die Pflanzen, die aus dieser Erde wuchsen, und die Tiere, die sich von dieser Erde nährten. Manche waren gut und manche waren böse. Doch Beckys Geister ... sie schienen irgendwie anders zu sein. In diesem Moment wachte Becky auf, und sobald sie ihre Schwester erblickte, fing sie an zu kreischen und zu schreien und sie als gemein und schmutzig zu bezeichnen. Annis hatte alle Hände voll damit zu tun, sie zu besänftigen. Zum Glück trat jetzt Todd ins Haus und erkannte, was los war. Rasch sagte er: »Annis, ich nehme Morgan mit, um nach den Fallen zu sehen und vielleicht ein bisschen zu jagen. Wir sind in ein, zwei Tagen wieder hier.«

»Ja, ist gut«, willigte sie ein, bevor Morgan ein Wort sagen konnte, »zieht los, ihr beiden, und bringt mir einen Truthahn, dann mache ich uns ein Festmahl.« Sie konnte ihre jüngere Tochter nicht anschauen, so übel war ihr zu Mute, weil sie sie auf diese Weise von sich stieß. Trotzdem, es war nicht zu ändern. Die arme Becky brauchte ihre Mam, Morgan dagegen war robust und stark. Sie würde immer ihren Weg machen.

Die Schamanin

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