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3 Später am selben Tag

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Morgan war traurig darüber, dass Mam Becky mehr liebte als sie, aber wenn sie mit Pa draußen in den Wäldern war, ging es ihr gleich besser. Sie fühlte sich ... erwachsen, allein mit ihm. Wenn sie zu Hause waren, werkelte er stets irgendwo herum, und wenn sie ihn dann fragte: »Was machst du da, Daddy?«, sagte er:

»Ich arbeite, Morgan, und das solltest du auch.« Aber sobald er draußen im Wald war, veränderte er sich. Er erklärte ihr alles ganz genau und behandelte sie beinahe, als ob sie schon erwachsen wäre. Na ja, sie war zwölf. Das war ganz schön groß. Sie konnte lesen und schreiben und zusammenzählen, und sie konnte es gut. Die größte Veränderung bei Pa bestand darin, dass er redete, wenn er im Wald war. Im Freien zu sein, schien ihn gelöster zu machen und seine Zunge zu lockern.

Wenn sie durch die Wälder liefen, sprach er mit ihr, unterhielt sich richtig mit ihr. Er machte fast nie Konversation, deshalb war das was ganz Besonderes. Heute, während sie nach den Fallen sahen und Perlhühnern und Kaninchen nachstellten, fing er an, von seiner Zeit im Großen Krieg zu erzählen. Morgan liebte die Kriegsgeschichten ihres Daddys. Sie fand sie viel interessanter und aufregender als Märchen aus einem Buch. Und sie kamen ihr realer vor als die Geschichten ihrer Mutter über längst verschiedene Vorfahren und Geister und dergleichen. Sie kannte Pas Geschichten auswendig, hatte deswegen aber nicht weniger Vergnügen daran.

»Yessir, an dem Tag, als wir aus Hartford rausmarschierten, warn wir sicher, dass die Sache ruck, zuck vorbei sein würde. Oh, Morgan, die Menschenmassen, alle schrien Hurra und jubelten uns zu und schwenkten Fahnen, die Flagge von Connecticut und die guten alten Stars and Stripes, beide. Unsere Trommler trommelten, was das Zeug hielt, und die Trompeter tuteten und bliesen so schön, dass wir förmlich über die Straße tanzten. Und die Leute in der Stadt, wie die uns zugejubelt haben, Morgan. Sie füllten die Straßen, bis überhaupt kein Platz mehr da war, und der Rest kletterte auf die Dächer und schrie Hurra. Wir sind bis nach New Haven marschiert, angeführt von unserem tapferen Captain Daniel Tyler, und da lag unser Schiff vor Anker, das bloß darauf wartete, dass die ersten Freiwilligen von Connecticut an Bord kamen und mit ihm in den Ruhm segelten!

Die Sonne schien hell an dem Tag, als wir New Haven verließen, und die Fahnen knatterten im Wind, und als wir in Washington, D. C., einliefen, standen Präsident Lincoln und sein ganzes Kabinett am Ufer des Potomac, um uns zu begrüßen. Stell dir vor, Morgan, der Präsident höchstpersönlich! Sie hatten dort alles, was wir brauchten – Zelte, Munition, Gepäckwaggon, Essen ... genug für zwanzig Tage. Nun, vielleicht würde es einundzwanzig Tage dauern, den Rebellen zu zeigen, wer das Sagen hatte, schätzten wir, aber gewiss nicht länger! Es war gut, jung und stark zu sein und in den Krieg zu marschieren, Morgan!«

Er hielt einen Moment inne, und Morgan fiel ein: »Und deshalb hast du dich noch mal für drei Jahre verpflichtet, als du eigentlich nur drei Monate weg sein solltest. Weil du dachtest, es würde verdammt schnell vorbei sein.«

Pa lachte. »Pass auf, Morgan, es ist eine Sache, wenn ein Mann ›verdammt‹ sagt, aber bei einem kleinen Mädchen ist das was anderes. Aber nein, wir haben uns alle weiter verpflichtet, weil Präsident Lincoln uns darum bat. Er brauchte fünfhunderttausend loyale Unionssoldaten, um den gerechten Kampf fortzuführen. Mittlerweile hießen wir die Ersten Freiwilligen von Connecticut, und so waren wir die Ersten, die sagten, sie blieben.« Wieder hielt er inne, den Blick in die Ferne gerichtet. Doch nach einer Weile fuhr er fort, wie sie es gehofft hatte.

»Bei Bull Run haben sie uns geschlagen und Virginia für die Konföderierten erobert. Oh, das war ein schrecklicher Tag. Als wir das Horn zum Rückzug blasen hörten, schüttelten wir die Fäuste und fluchten, aber ein guter Soldat befolgt die Befehle. Es goss in Strömen, kein Mann, der nicht bis auf die Haut durchnässt war – bis unter die Haut, meinten manche. Ich weiß, dass ich nie so nass gewesen bin, weder vorher noch nachher. Und dann gingen uns die Lebensmittel aus. Drei Tage lang hatten wir nichts zu essen. Gut, wir waren am Leben – die meisten von uns jedenfalls –, doch da wurde uns klar, es war ein Traum gewesen, dass wir so schnell gewinnen würden. Johnny Reb machte keinen Spaß. Er war ein Kämpfer und uns stand ein langer, langer Krieg bevor.« Er spuckte aus, um zu zeigen, was er vom Krieg hielt.

Sie folgten einem ausgetretenen Pfad durch die Wälder, wobei Morgan ihre Füße vorsichtig in seine Fußstapfen setzte. Mit seinen raffinierten Fallen fing ihr Daddy so manchen Fuchs. Fuchspelze konnte man gegen eine Menge Mehl und Salz und Kleiderstoff tauschen. Plötzlich blieb er abrupt stehen und Morgan natürlich auch. Er stand still wie eine Statue und sie ebenfalls, wie sie es gelernt hatte. Pa dachte, er hätte ein Tier in der Nähe gehört, einen Hirsch womöglich oder einen wilden Truthahn. Allein der Gedanke daran ließ Morgan das Wasser im Munde zusammenlaufen. Die Sonne stand tief am Himmel und sie bekam Hunger. Sie beäugte die Perlhühner, die an seinem Gürtel hingen, aber sie wollte nicht sagen, dass sie etwas essen musste; das hätte nach Baby geklungen. Doch vielleicht konnte er ihre Gedanken lesen, ebenso wie Mam, denn er sagte, den Kopf über das undefinierbare Tier schüttelnd: »Wird Zeit, das Nachtlager aufzuschlagen. Mir knurrt der Magen. Deine Ma hat uns Maiskuchen und Dörrfleisch eingepackt, und vielleicht sucht uns ein schlaues kleines Mädchen, das ich kenne, ein paar Pilze, die wir zusammen mit dem Geflügel zum Abendessen kochen können.« Er bog ab auf einen gewundenen, schmalen Pfad, den Morgan nie bemerkt hätte, wenn er es ihr nicht beigebracht hätte. »Ich kenne eine hübsche Stelle«, sagte er. »Da haben wir letztes Jahr schon mal Rast gemacht, Morgan. Ich höre Wasser, da drüben ist ein kleiner Bach. Und siehst du die große, alte Weymouthskiefer? Erinnerst du dich an sie? Du hast gesagt, sie sieht aus wie ein struppiger Hund, und du hattest Recht.« Er zog sein rechtes Bein ein wenig nach – dasjenige, das verwundet worden war –, wie immer, wenn er müde wurde. Sie freute sich darauf, Rast zu machen. Die Sonne stand orangerot am westlichen Himmel, und sie war nicht gern im Dunkeln draußen, nicht mal mit ihrem Daddy. Ihre Ma hatte ihr von den Geistern erzählt, die nachts rauskamen, und sie wollte keinesfalls mit irgendwelchen Geistern zusammenstoßen, nicht, nachdem sie gesehen hatte, was sie mit ihrer Schwester anstellten.

Nachdem sie sich niedergelassen hatten und die Pilze und wilden Zwiebeln und Perlhuhnstücke über dem Feuer schmorten, setzte ihr Pa sich mit dem Rücken an einen Baum und massierte sein Bein. Morgan behielt den Eintopf im Auge. »Erzähl weiter, Daddy. Über den Krieg.«

»Wo war ich? Ach ja, Bull Run. Mal sehn ... Also, General Lee, der von den Rebellen, war sicher, dass er den Krieg gewinnen würde und wurde tollkühn, Morgan. Er war auf Washington, D. C., aus, und danach, so dachte er, würde er einfach nordwärts marschieren und uns überrennen. Tut mir Leid, Morgan, aber in Antietam hat er uns tatsächlich geschlagen. Das ist in Maryland, ganz nah bei Washington. Sie schickten uns hin und her auf der Jagd nach Johnny Reb. Nach einer Weile wussten wir kaum noch, in welchem Staat wir gerade waren. Wir marschierten, und wir biwakierten, und wir warteten darauf, dass die Hörner und die Trommeln uns sagten, was wir tun sollten. Angriff. Stillstand. Deckung suchen. Rückzug. Eines Tages, in einem Wald wie dem, in dem wir heute umherlaufen, nur dass er, ich weiß nich’, irgendwo in Maryland oder Virginia war ... Jedenfalls schlendere ich so dahin, Gewehr im Anschlag, und halte Ausschau nach dem Feind. Und bumm! Da war der Feind, direkt vor mir. Und schoss auf mich. Zwei Mal! Und erwischte mich auch, an der Schulter und am Bein!« Er spuckte aus und hörte auf zu reden.

»Und dann haben sie dich ins Krankenhaus gebracht, damit du gesund wirst«, drängte Morgan.

»Die haben nichts richtig hingekriegt, diese Chirurgen«, beklagte er sich. »Deine Mama, die hat das Bein wieder heil gemacht. Die Armeeärzte wollten es absägen! Deine Mutter ist eine mächtig gute Ärztin, auch wenn sie nie auf ein Doktor-College gegangen ist. Die Ärzte auf dem Feld waren nichts weiter als Metzger. Ich hätte das besser gekonnt, nach all den Jahren, in denen ich Schweine und Wild geschlachtet habe. Auf dem Boden um die Operationsräume herum türmten sich Arme und Beine, manche noch mit den Stiefeln dran! Ich entsinne mich, wie sie immer nach Wasser riefen ... nie genug Wasser, nie genug Bandagen, nie genug gar nichts! In den Zelten der Ärzte sind mehr Männer gestorben als auf dem Schlachtfeld, Morgan. Weißt du, was uns gerettet hat?«

»Die Damen, Pa. Die Damen haben euch gerettet.« Dies war der beste Teil der Geschichte, der, den sie am liebsten hatte.

»Genau. Ganz gewöhnliche Damen, wie sie in East Haddam, Connecticut, herumspazieren. Sie kamen an die Front und pflegten uns kranke Soldaten, wuschen die furchtbarsten Wunden, erbettelten aus benachbarten Städten und Farmen Brot und Tee und Zwieback und Trockenobst, damit wir was zu essen hatten und gesund wurden.«

»Erzähl mir von den Krankenschwestern, Daddy, und den Ärztinnen.«

»Da war Mutter Bickerdyke, sie war Krankenschwester, und es hieß, dass sie überhaupt keinen Schlaf brauchte. Sie sang die ganze Nacht, so sagten sie, damit es den Soldaten leichter fiel, ihre Schmerzen zu vergessen. Und dann all die anderen Frauen, die unsere Verbände wechselten und uns den Kopf streichelten und Briefe schrieben für uns, die wir nie zur Schule gegangen waren. Von diesen Briefen hat deine Mam auch zwei gekriegt. Und manche von diesen Frauen«, sagte er, sich nach vorn neigend, sodass sein Gesicht im Schein des Feuers golden glänzte, »Frauen wie Clara Barton und Louise Gilson und Mrs. John Harris, die schlugen Zelte neben den Feldlazaretten auf und lebten dort. Sie arbeiteten Tag und Nacht als Pflegerinnen, trotz der Artilleriebeschüsse und Kanonen. Obwohl sie keinen Cent dafür kriegten. Ich hörte auch Gerüchte, dass es draußen im Feld Ärztinnen gab, aber ich hab nie eine gesehen. ‘Türlich war das schwer zu sagen. So viele von den Ärzten waren bartlose Jünglinge. Zum Teufel, das hätten ebenso gut Mädels sein können. War das nicht ’ne Sache, Morgan? Ob ein weiblicher Doktor wohl besser wäre als ein Mann? Bestimmt. Yessir, Morgan, die Frauen, die haben uns das Leben gerettet. Sogar in Gettysburg ...«

Morgan wusste von seinem Marsch nach Gettysburg. Daddy war aus dem Südstaaten-Lazarett geflohen und hatte sich auf die Suche nach den Ersten Freiwilligen von Connecticut gemacht. Als er seine Einheit nicht fand, schloss er sich einem Dutzend Männern an, Versprengten von der Neunundzwanzigsten aus Connecticut. »Schwarze, Morgan, bis zum letzten Mann, aber sie hatten nichts gegen mich, also hatte ich auch nichts gegen sie. Und gute Kämpfer, egal, was manche Leute sagen mögen. Und gemeinsam fanden wir dann nach Gettysburg.«

Gettysburg, das wusste Morgan, als wäre sie selbst dort gewesen, war nichts als ein Meer aus Schlamm und Blut, wo die toten Soldaten so dicht nebeneinander am Boden lagen, dass man trockenen Fußes über sie hinwegspazieren konnte. Dort war Pa erneut verwundet worden, diesmal richtig schlimm. Etliche Tage war er stockblind. Eine Zeit lang war er nicht bei sich und wusste nicht einmal, wo er sich befand.

»... und als ich zu mir komme, nicht weiß, welcher Tag es ist oder welcher Monat, ja kaum, welches Jahr, steht da ein Doktor über mir und sagt, dass er mir jetzt das Bein unterhalb des Knies absägt. Er hat keine Ahnung, dass ich wach bin, siehst du, er denkt, ich liege noch im Fieber. Als ich daraufhin mit der lautesten Stimme sage, zu der ich im Stande bin: ›Oh nein, Sie nehmen mir kein Bein ab!‹, also, Grundgütiger, Morgan, da fährt dieser Doktor vor Schreck fast aus der Haut, so überrascht ist er.

Er sagt zu mir: ›Wenn ich sage, das Bein kommt ab, dann kommt es ab, keine Widerreden. Und ich sage zu ihm: ›Vorher bringe ich Sie um, Doktor, und ich bin keiner, der was verspricht und es dann nicht hält.‹ ›Wir werden sehen‹, sagt er und geht raus.

Aber er ist nicht wieder gekommen, Morgan. Und ich fand, es war an der Zeit, dass ich mich davonmachte, bevor sie anfingen, mich in kleine Stücke zu zerhacken. Also hieß es für mich: heim zu Weib und Kind. Man erzählte mir, Lee sei aus dem Norden verdrängt worden und auf dem Rückzug, und der Krieg gehe weiter, die Union gewinne. Aber das kümmerte mich nicht mehr.«

»Und so bist du heimgekommen. Und Mam und du, ihr habt mich gekriegt.«

»Ach, wirklich?«, scherzte er. »Na, lass mal sehen. Ja, meine Augen erkenne ich wieder in dir, aber sonst bist du die reinste Indianerin. Ja, wir haben dich gekriegt, und hier bist du nun.« »Bist du tatsächlich den ganzen Weg zurück gehüpft, Daddy?« »Gewiss doch. Mein Bein war am Verfaulen. Hier, ich zeig’s dir mal ...« Zu Morgans Entzücken stand er auf, nahm einen großen Stock als Krücke und begann, eines von seinen Soldatenliedern zu singen, während er um die Lichtung hopste. Er umkreiste sie einmal, aber dann verfing sich sein Fuß in einer Baumwurzel. Er wand sich, um zu verhindern, dass er hinfiel, doch er fiel trotzdem. Es sah zu komisch aus. Morgan lachte und klatschte, bis sie plötzlich merkte, dass Pas Gesichtsausdruck nicht spaßhaft war. Er hatte Schmerzen.

»Daddy, Daddy!«, schrie sie und lief zu ihm. »Ist alles in Ordnung mit dir? Kannst du aufstehen?«

»Ach du liebe Güte, ich habe irgendwas Merkwürdiges mit meinem Bein angestellt, Morgan. Ich hab was reißen gehört. Weißt du, was das bedeutet?«

»Komm, stütz dich auf mich, dann helfe ich dir hoch.« Er war mächtig schwer, doch die Art, wie er Grimassen zog und stöhnte, verriet ihr, dass sein Bein sehr wehtat. Er konnte es nicht belasten und musste daher auf dem anderen Fuß hüpfen Gemeinsam schafften sie es, ihn neben das Feuer zu setzen, und sie häufte Gras und Erde unter sein Bein, damit es hoch lag. Das hatte Mam ihr beigebracht. »Es ist ein Muskel in deinem Bein, Daddy. Du hast ihn dir gezerrt. Aber mach dir keine Sorgen; ich weiß, wie du deine Schmerzen loswirst. Ich hole ein bisschen Harz von der großen, alten Kiefer da. Wenn du das kaust, wird es dir besser gehen. Wir können meinen Unterrock zerreißen und dir einen schönen, festen Verband daraus machen. Mach dir nur keine Sorgen. Wir kriegen dich schon wieder richtig hin.«

Als Todd die Augen öffnete, färbte die Morgendämmerung den Himmel eben blass dunstig-gelb. Einen Moment lang wusste er nicht, wo er war. Dann erinnerte er sich. Er hatte sich gestern Abend das Bein verrenkt. Sich benommen wie ein verdammter Narr, dachte Todd, so herumzutanzen und vor seiner Tochter anzugeben. Geschah ihm ganz recht. Trotzdem, das Bein hatte mächtig wehgetan. Er versuchte, es ein wenig zu bewegen. Probehalber. Und verflixt noch mal, es fühlte sich wirklich viel besser an! Furchtbar steif, und es schmerzte noch ein bisschen, doch er konnte es auf und ab bewegen, ohne vor Schmerzen aufzuschreien. Diese Morgan! Das kleine Mädchen war tatsächlich gut im Verarzten! Sie hatte ihm letzte Nacht Kiefernharz zu kauen gegeben und die Kniekehle mit irgendeinem klebrigen Zeug eingerieben, das sie unter der Rinde hervorgeholt und aufgekocht hatte. Es war ihm nicht so vorgekommen, als ob es sonderlich half, und das wollte er ihr auch sagen, aber ehe er sich’s versah, war es bereits Morgen. Er entsann sich, dass er nachts ein paarmal aufgewacht war und versucht hatte, sein Bein zu bewegen. Doch er war immer wieder gleich eingeschlafen.

»Morgan! Hallo, Tochter! Du hast deinen Pa gut gepflegt ...« Er schaute sich um und merkte, dass sie nicht da war. »Morgan? Morgan«, brüllte er und versuchte, sich auf die Füße zu stemmen. Das verdammte Bein hielt sein Gewicht nicht. Na, dann kroch er eben auf Händen und Knien, wenn es sein musste. Bei Gott, wenn der Kleinen etwas geschehen war –! Dann hörte er aber, wie sie ihm zurief, dass sie nur Kräuter sammle und gleich bei ihm wäre. Jetzt erinnerte er sich. Sie hatte gesagt, dass sie bei Tagesanbruch losgehen und Wintergrün pflücken und mahlen und einen Tee daraus bereiten wolle, der gut gegen Schmerzen sei. Er hoffte, dass das stimmte, denn nach seinem Versuch aufzustehen pochte das Bein. Er musste unbedingt nach Hause laufen können.

Mit dem Rücken am Baum stemmte er sich vorsichtig hoch und dachte darüber nach, wie Morgan sich gestern um ihn gekümmert hatte. Sie hatte nicht geweint, kein Getue gemacht und anscheinend keine Angst gehabt, weil ihr Daddy verletzt war. War einfach ganz energisch und fürsorglich gewesen, wie Annis, wenn sie die Leute heilte. Verflucht sollte er sein, wenn er nicht auch ihre Anweisungen befolgte, als ob sie die Mutter wäre und er das Kind. Morgan hatte wohltuende Hände, forschend, aber sanft. Wenn sie ihn verarztete, erschien sie ihm anders – älter und selbstsicher. Das machte ihn verdammt noch mal richtig stolz!

Da kam sie schon leise wie eine Indianerin zwischen den Bäumen auf ihn zu. Nun, sie war Indianerin. Teilweise zumindest. Annis war ein Halbblut; ihr Pa war Engländer gewesen, mit demselben roten Lockenhaar wie Becky, sagte sie. Was waren also Becky und Morgan? Die Hälfte von einer Hälfte, das wäre ein Viertel. Alle beide Viertel-Pequot. Und man fand keine zwei Schwestern, die unterschiedlicher aussahen. Bei Becky würde man nie vermuten, dass sie Indianerblut in sich hatte, aber Morgan, die sah bis auf ihre hellen Augen aus, als wäre sie eben aus ihrem Wigwam getreten. Sie war stattlich, genau wie Annis, mit demselben Blick, der einen förmlich zu durchdringen schien ... Das erste Mal, als er Annis aufsuchte, war er zwanzig Meilen durch die Hügel gewandert. Er hatte von ihr gehört und sich gefragt, wie diese Squaw wohl aussehen mochte und wie sie ihren Zauber vollbrachte. Er war kein großer Redner, raspelte kein Süßholz mit ihr, weil sie ihn sowieso fast zu Tode erschreckte, groß und wild, wie sie war. Er war selbst hoch gewachsen, gute ein Meter achtzig wie alle Wellburns, aber sie reichte ihm bis zum Kinn. Also sagte er bloß hallo und zog ab. Doch sie ging ihm nicht aus dem Sinn. Er fand sie ... vielleicht nicht schön, aber aufregend. Deshalb schlich er zurück zu ihrer Lichtung, sodass sie ihn nicht bemerken würde. Sie lockerte gerade ihr langes, glänzendes, zum Zopf geflochtenes Haar. Ihre Füße und Brüste waren nackt, und sie war unterwegs zum Bach, um sich zu waschen. Er starrte ihre langen Beine an, ihr strammes Gesäß und ihre Brüste, die so groß waren, dass ihr Gewicht sie nach unten zog. Er spürte, wie ihm die Knie weich und die Lenden stark wurden. Dann sah er zu, wie sie im Wasser herumplanschte, ihre glatte, braune Haut einseifte, ihr langes, nasses Haar auswrang wie ein Wäschestück, während ihr Kopf vorgebeugt war und ihr Körper nach ihm rief.

Als sie aus dem Wasser kam, der nackte Körper sauber und hoch gewachsen und stolz, stand er vor ihr, splitterfasernackt und bereit für sie. Sein Herz hämmerte, weil er fürchtete, sie würde aufkreischen und ihn wegstoßen, aber er begehrte sie mehr, als er je etwas begehrt hatte. Sie schrie nicht. Sie trat auf ihn zu und sagte: »Ich wusste, dass du zurückkommen würdest.«

»Zum Teufel, das wusste ich ja selbst nicht.«

Sie lächelte. »Ich habe dich verhext. Du bist jetzt mein Mann und ich bin deine Frau. Du wirst mich nie verlassen.« Er lachte, denn er dachte, nie im Leben könne eine Frau Todd Wellburn sagen, was er tun sollte und was nicht. Doch sie hatte Recht. Er ging nie wieder von ihr fort. Er hatte keine Lust dazu. Erst im Krieg. Der Patriotismus riss viele Männer aus ihrem Leben, manche sogar für immer. Er hatte Glück gehabt.

»Wie geht es dir heute Morgen, Daddy?«

»Sehr gut, Morgan. Das hast du gut gemacht. Ist noch nicht ganz in Ordnung, aber viel besser«

Sie hatte das Wintergrün für den Tee und meinte, sie habe ein paar Taubeneier gefunden, die sie sich zum Frühstück braten könnten. »Daddy, erzähl mir noch eine Geschichte. Zu Hause erzählst du nie Geschichten«, sagte sie, während sie ihre Mahlzeit zubereitete.

»Eine Geschichte worüber?«

»Über meine Mutter.«

Todd spürte, wie er rot wurde. Wie gut, dass Morgan keine Gedanken lesen konnte. Oder vielleicht doch? Annis behauptete, sie könne den Menschen ins Herz und in den Kopf schauen. Rasch fing er an zu reden.

»Du weißt doch, dass der Vater deiner Mam, der Händler, der Engländer, mit dem Kanu den Connecticut hochfuhr. Er sagte, er würde bis hinauf nach Vermont reisen oder bei dem Versuch umkommen. Na ja, er muss umgekommen sein, denn er ist nie heimgekehrt. Da stand sie nun, die Mutter deiner Mutter, Margaret hieß sie, mit zwei kleinen Kindern und niemandem, der für sie sorgte. Also ging sie zurück zu ihren Leuten. Sie war eine große Heilerin, deine Oma, das hat man mir jedenfalls erzählt, aber ihr eigenes gebrochenes Herz konnte sie nicht kurieren. Sie starb daran, sodass sich deine Mam jetzt um ihren kleinen Bruder kümmern musste. Tristram. Ich weiß nicht, ob sie dir je von Tris erzählt hat. Er kriegte Schüttelkrämpfe, dann fiel er hin und hatte Schaum vorm Mund wie ein tollwütiger Hund. Er war immer schon so gewesen, sagt sie. Er taugte nicht zum Jagen oder Fallenstellen, und sie meint, das habe ihn wütend gemacht. Er bezeichnete sich als Weib, das nichts und niemandem nutze. Nun, an einem Frühlingstag kam sie zurück von der Arbeit im Garten und fand Tristram, der voller Blut auf der Lichtung lag. Er hatte sich mit ihrem Gewehr in den Kopf geschossen.«

»War er tot?«

»Ob er tot war? Was ist los mit dir, Kind? Natürlich war er tot. Deine Mutter war furchtbar traurig darüber. Sie hatte alles ausprobiert, was sie kannte, um seine Anfälle zu verhindern, sogar Belladonna. Sie hatte das Gefühl, sie sei keine gute Heilerin. Doch das wissen wir besser, nicht wahr?«

»Sie hat dein verfaultes Bein geheilt, als du aus dem Krieg kamst.«

»Das stimmt. Sie hat es angeguckt und betastet und daran gerochen und dann husch! In den Ameisenhaufen damit. Das tat schrecklich weh, aber als die Ameisen fertig waren, war mein Bein sauber und konnte heilen. Und hier bin ich, Jahre später, und laufe immer noch damit! Yessir, deine Mam ist eine richtig gute Heilerin.«

Morgan reichte ihm seinen Wintergrün-Aufguss und er nippte daran. Mit ganz leiser Stimme sagte sie: »Sie nennen sie Squaw.«

»Nun, sie sind einfach beschränkt, Morgan. Squaw! Da siehst du mal, wie viel sie wissen! Keine Ahnung haben sie! Deshalb geht sie auch so ungern in die Stadt, weil sie es hasst, angestarrt zu werden. Deine Mama weiß, wie sie sie nennen, aber weißt du was? Sie weiß, dass sie sie brauchen. Wen rufen sie denn, sagt sie, wenn jemand das Wechselfieber hat ... oder eine schlimme Verbrennung ... oder lange in den Wehen liegt ... oder eine seltsame Krankheit hat, die nicht weggeht? Sie nennen sie Squaw, doch nur die Squaw hat die Kraft zu heilen. Und du auch, Morgan. Du hast die Kraft zu heilen, die der Familie deiner Mutter im Blute liegt. Pass auf. Du lernst alles von deiner Mam, was du kannst, hörst du? Du wirst eine berühmte Heilerin, Morgan. Sie werden von überall her kommen, um sich von dir behandeln zu lassen, ebenso, wie sie es bei Annis tun.«

»Werden sie mich denn auch Squaw nennen?«

Todd atmete tief ein und betrachtete seine Jüngste. Ihre Augen waren die Augen einer erwachsenen Frau, nicht die eines Kindes. »Ja, vermutlich«, sagte er traurig.

Sie dachte eine Minute darüber nach. Dann meinte sie: »Ich beachte sie einfach nicht.«

Es dauerte drei Tage, bis Todd laufen konnte, ohne dass sein Bein unter ihm nachgab. Aber Morgans Medizin half. Er konnte schlafen. Sie kümmerte sich um die Fallen, und er säuberte, was er gefangen hatte, also ging eigentlich keine Zeit verloren. Bis auf den Unterricht für Morgan. Sie sehnte sich nach der Schule. Sie konnte bereits lesen und mit Zahlen umgehen. Wenn es nach Annis gegangen wäre, hätte Morgan ihre Ausbildung auf der Stelle abgebrochen. Aber das Kind lernte gern. Was ihn betraf, so verzehrte er sich danach, nach Hause zu kommen. Ihn verlangte nach seiner Frau. Er hungerte nach ihrer Berührung, nach ihrem weiblichen Geplauder und ihrem guten Essen. Und wenn er ihr erst erzählte, dass Morgan die geborene Heilerin war!

Doch die Gelegenheit dazu erhielt er nie. In dem Moment, als er und Morgan in den Hof spazierten, wurde ihnen klar, dass hier etwas Merkwürdiges vor sich ging. Ein Dutzend Menschen saß oder kauerte auf der Erde, der eine blind, ein anderer auf einer Trage. Drei von den Frauen waren schwanger. Was taten all diese Leute vor seinem Haus?

Annis kam angerannt, um sie zu begrüßen, aufgeregt wie nur was.

»Todd! Morgan! Ein Wunder! Es ist, als wäre ein Traum in Erfüllung gegangen!«, sagte sie. Todd hatte sie nie so flatterig und nervös erlebt.

»Welcher Traum ist in Erfüllung gegangen, Annis? Beruhige dich und sprich langsam, damit ich verstehe, was du sagen willst.«

»Becky! Es ist Becky! Unsere Becky wurde von einem Geist des Heilens überwältigt, und jetzt redet sie mit Engeln!«

Engel! Er und Morgan wechselten einen schnellen, überraschten Blick. Becky – und redet mit Engeln? »Unsere Tochter, Rebecca Wellburn, die glaubt, dass alle Welt schlecht ist und sie töten will?«

»Psst, Todd! Sei still. Das ist vorbei. Es ist ein Wunder!« »Annis, du bist keine Christin!«

Sie errötete, reckte aber das Kinn nach vorn, stur wie ein Maulesel. »Nein, aber der Pastor sagt, es sei ein Wunder, und er ist Christ.«

Sie zog ihn auf den Hof und redete dabei wie ein Wasserfall. Anscheinend war vor ein paar Tagen eine Patientin von Annis auf einem Maultier den Weg hochgeritten gekommen. Die Frau war blutbefleckt und wollte doch so gern ihr Baby behalten, denn sie hatte bereits drei Fehlgeburten gehabt. »Als ich sie untersuchte, sah ich, dass nichts dagegen zu machen war. Aber, Todd, ich hatte kaum meinen Mund geöffnet, um es ihr zu sagen, als Becky aus dem Haus trat. Ich schwöre, es war ein Glühen um sie, und sie erzählte der Frau, ein Engel habe gesagt, dass sie geheilt würde. Becky gab ihr Wasser zu trinken und berührte sie. Und sie hörte auf zu bluten!

Und jetzt schau her! All diese Menschen warten darauf, dass Becky ihre Engel fragt, ob ihnen geholfen werden kann. Und sie bringen Hühner und Mehl, manche sogar Zucker und Melasse. Wir werden reiche Leute!«, frohlockte Annis, während Todd nur mit weit offenem Mund glotzen konnte. »Unsere Becky ist berühmt!«

Die Schamanin

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