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1 August 1868 in den Hügeln oberhalb von East Haddam, Connecticut

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Es war eine schwere Geburt. Das Baby hatte breite Schultern und einen großen Kopf, und Annis war alt – beinahe dreißig. Aber sie hieß den Schmerz willkommen, weil er ihr einen Sohn bescheren würde. Sie war sicher, dass es ein Junge war. Monatelang hatte er in ihr um sich getreten und geschlagen und war dabei stark geworden. Ihre Träume handelten alle von hohen Kiefern und Reihern und gefiederten Lanzen. Sie wusste, wie Träume und andere Zeichen zu deuten waren. Sie stammte von einer langen Ahnenreihe von Hexen und Heilerinnen ab und hatte das Recht, sich moigu zu nennen. Es würde ein Junge werden.

Annis hockte sich auf eine Decke, die sie unter dem großen Hickory mit der rauen Rinde, der dem Haus Schatten spendete, ausgebreitet hatte, und drängte ihren Sohn wortlos, seine Stärke dazu zu nutzen, auf die Welt zu kommen. Spätnachmittägliche Hitze legte sich wie ein keuchendes Tier über die Erde. Die Zikaden kreischten schrill. Das einzige Geräusch, das es sonst noch gab, war ihr eigenes schnaufendes, ächzendes Atmen. Der Schweiß rann ihr den Körper hinab. Keine Brise bewegte das lange, dürre Gras am Rande der Lichtung. Nicht einmal die Espenblätter regten sich.

Endlich, als die Sonne in einem lodernden Feuer aus Rot und Purpur unterzugehen begann, glitt das Kind heraus und fing an zu schreien. Es war dunkelhäutig, dunkel und rot. Sie würde ihn in der Sprache der Alten Red Sunset nennen.

Annis hob ihr Baby hoch, wischte es ab, blinzelte und schaute erneut hin. Das war kein Junge, kein Sohn. Die Zeichen waren falsch gewesen. Wie konnte das sein? Kein Zweifel jedoch: sie hatte eine Tochter bekommen, noch ein Mädchen. Aber was für eines! So dunkel und kampflustig mit ihren kräftigen Schreien und dem dichten Schopf glatter schwarzer Haare! Ganz anders als Becky, die ein winziges Ding war, wie die Elfen in den Geschichten, die Pa zu erzählen pflegte. Beckys Haut war rosig und weiß, und das kupferfarbene Haar fiel ihr in Ringellocken bis zur Taille. Eine kleine Schönheit, sagten alle. Was sie meinten, war: Die hat nichts Indianisches an sich. Nun, sie war das genaue Ebenbild von Pa, einem Engländer, der über das weite Wasser gekommen war, um zu sehen, was es in der Neuen Welt zu entdecken gab. Und er hatte Annis’ Mam entdeckt – Margaret für die Städter, aber ihr richtiger Name war White Bird.

Die Eltern ihrer Mutter hatten sich von ihr abgewandt, als Margaret den Engländer in ihr Lager mitbrachte. Sie waren Vollblut-Pequot. Mochten sie sich auch christliche Namen zulegen – das war einfacher bei ihren Handelsgeschäften –, so würden sie doch niemals zum Gott der Christen beten und nie einen Christen als Lebensgefährten akzeptieren. Nach dem Massaker, das die Yenguese als den Pequot-Krieg bezeichneten, hatten einige wenige aus ihrem Volk fliehen können und ein paar davon zu diesem Ort gefunden. Gott sei Dank waren die Pequot nicht völlig ausgerottet worden, doch ihnen war klar, dass sie an ihrer ureigenen Lebensweise festhalten und für sich bleiben mussten. Margaret und ihre Familie nahmen unter ihnen einen hohen Rang ein. Sie stammten direkt von der berühmten Bird ab, der moigu, die Krämpfe lindern konnte, indem sie einen nur anschaute, und blutige Messer aus dem Nichts herbeizauberte, genau wie ein Schamane. Wieso auch nicht? Schließlich war Birds Mutter moigu gewesen und ihr Vater ein bekannter Schamane, der von den Mohegan, diesen Verrätern, in seinem eigenen Wigwam getötet worden war, während er sich um seinen sterbenden Sohn kümmerte. Die direkten Nachfahren eines Schamanen und einer moigu billigten ihren Yengue mit seinem seltsamen kupferroten Haar, der milchweißen Haut und den winzigen orangefarbenen Flecken im Gesicht nicht.

White Bird aber hatte sich verliebt und machte sich nichts daraus. Sie verachtete die Männer ihres Stammes, von denen viele dem Übel Rum erlegen waren und betrunken herumhockten. Sie verdiene etwas Besseres, sagte sie zu ihrer Mutter. Sie war bereits eine berühmte Heilerin. Sie konnte jeden Mann haben, den sie wollte, und sie wollte Arthur Armstrong, ihren Engländer. Die beiden bekamen eine Tochter – das war Annis – und einen Sohn, Tristram. Dann jedoch starb Arthur auf einer Reise flussaufwärts nach Vermont. Zumindest kehrte er nie zu seiner Familie zurück. White Bird kam daraufhin mit ihren zwei Kindern wieder hierher und beugte den Kopf vor ihren Eltern. Ihren Enkeln zuliebe und weil ihr einziges weiteres Kind, White Birds Schwester, ihnen mittlerweile von den Geistern genommen worden war, nahmen sie sie auf.

Annis’ Erinnerungen an ihren Pa blitzten nur bruchstückhaft in ihrem Gedächtnis auf. Ganz lebhaft entsann sie sich aber des fürchterlichen Kummers ihrer Mutter, eines Sturzbachs aus Schluchzern und Anrufungen der Götter, der scheinbar nie versiegen wollte. Eine solche alles verzehrende Liebe hatte Annis nur einmal kennen gelernt – und ihn fortgeschickt. Ihn fortgeschickt und sein Kind, das schon deutlich ein Junge war, aus ihrem Leib verstoßen. Sie war bereits mit Todd Wellburn verheiratet, der losgezogen war, um im Großen Krieg zu kämpfen, irgendwo weit weg. Wie konnte sie Todd einen Sohn präsentieren, wenn er so lange nicht in ihrer Nähe gewesen war? Also hatte sie sich ihre Pflanzenkenntnisse zu Nutze gemacht und sich einen Aufguss aus gemahlenem Schlangenwurz in warmem Wasser verabreicht. Sie bereitete ihn aus der Septembersilberkerze zu, die auf den Wiesen wuchs und stärker war als die Blaubeere aus dem tiefen Wald. Sorgfältig kochte sie einen Tee und trank ihn in einem Zug aus. Nach ungefähr einer Stunde begannen die Krämpfe, und bald darauf glitt das winzige Wesen heraus, das mit seinen angewinkelten kleinen Armen und Beinen so süß und unschuldig wirkte. Dann hob sie ein Erdloch aus, wickelte ihn in ein hübsches Stück Leinen, das sie von einer der Frauen erhalten hatte, deren Hebamme sie gewesen war, und begrub ihn. Sie dachte, der Kummer würde sie umbringen. Doch Becky brauchte ihre Mam, deshalb kam Sterben nicht in Frage. Trotzdem vergaß sie den erst halb entwickelten Kleinen nie. Und seinen Vater auch nicht.

Wenn Todd nicht in den Krieg gezogen wäre, wäre das alles nie passiert. Aber jeder ging, also auch er. »Will mir den Spaß nicht entgehen lassen«, sagte er zu Annis und marschierte am 20. April 1862 von Hartford aus in vollem Glanz mit den Ersten Freiwilligen von Connecticut von dannen. Für drei Monate hatte er sich verpflichtet, doch es dauerte fünf Jahre, bis sie ihn wieder sah. Oh ja, er ließ jemanden ein paar Briefe an sie schreiben. Daher wusste sie, dass er sich nach Bull Run erneut für drei Jahre verpflichtet hatte, wie so viele, die Narren. Dann hatte sie etwa ein Jahr später einen Brief aus einem Gefangenenlager unten im Süden bekommen, der von einer »wirklich feinen Dame« verfasst worden war. Und das war alles, was sie von ihm hörte. Er hätte gefallen sein können, aber sie war sicher, dass dem nicht so war. Wenn er gestorben wäre, hätte sie im Traum ein Zeichen bekommen, ganz bestimmt. Sie wusste gewiss, dass er heimkehren würde, und er war heimgekehrt, vor beinahe einem Jahr.

Annis blickte über die Lichtung hinweg auf ihr Haus. Auf der Veranda standen, wie sie es ihnen befohlen hatte, Todd und Becky und warteten. Rebecca hieß in der Sprache der Alten Wounded Bird. Das war alles, was sie von der alten Sprache noch kannte: Namen und die Bezeichnungen von Kräutern und Pflanzen, die sie für ihre Arbeit benötigte. Ihr eigener indianischer Name war Little Bird, und Becky hieß Wounded Bird, weil während der Geburt ein Sperling mit gebrochenem Flügel auf den Boden gefallen und herumgeflattert war. Und dieses Kind, diese neue Tochter? Mit ihrem Namen konnte Annis warten, bis sie ein Zeichen erhielt.

Heiser rief sie ihrer Familie zu: »Kommt her und guckt! Wir haben noch ein kleines Mädchen!«

Todd kam im Laufschritt, kaum noch hinkend. Er schonte sein verletztes Bein sehr wenig. Sie hatte gut daran getan, es in einen Ameisenhaufen zu legen, wo die Insekten das verweste Fleisch abfraßen und es anschließend sauber heilen konnte. Als sie ihn zum ersten Mal gesehen hatte, im letzten Spätsommer, war er, auf einen Stock gestützt, auf die Lichtung gehumpelt. Man konnte seine Ankunft riechen, da sein Bein ganz geschwollen und purpurrot vor Fäulnis war. Sein Gesicht war bärtig und zerfurcht von Schmerzen. Sie hatte ihren eigenen Mann nicht erkannt. Seitwärts war sie auf die Tür der Hütte zugekrochen und hatte nach dem Jagdgewehr gegriffen, weil sie den sonnenverbrannten Eindringling geradewegs in die Hölle befördern wollte.

»Was ist los mit dir, Frau?«, hatte er ihr zugeschrien. »Siehst du nicht, dass dies hier dein Mann ist, der die letzten Jahre gegen Johnny Reb gekämpft hat?« Nun, sie war immer noch nicht sicher; erst als er ihr einen heißen Kuss aufzwang, erkannte sie seinen Geruch und Geschmack sofort wieder, trotz des stinkenden Beines und der Schichten von Ruß und Schmutz, die ihn bedeckten.

Jetzt nahm er ihr das neugeborene Baby ab und studierte es. »Sieht indianisch aus, nick? Schade, dass es wieder ’n Mädchen is. Hätte ‘n Jungen gebrauchen können, der mir beim Fallenstellen und Abhäuten und so hilft. Und denn hatten wir doch so’n schönen Namen für ihn. Morgan. Die Familie von meiner Ma, das waren alles Morgans.« Die Kleine in seinen Händen strampelte, wandte sich ihm zu, und ihr Mund öffnete sich auf der Suche nach Milch. Todd fing an zu lachen. »Teufel noch mal, Mädel, von mir willst du bestimmt nichts!« Das Baby begann zu schreien. Er drehte sich zu Annis um und sagte: »Sie is ‘n munteres kleines Ding, genau wie ihre Ma. Ich meine, wen kümmert’s, dass sie ‘n Mädchen is, was, Becky? Mädchen sind notwendig für die menschliche Rasse, is es nich wahr? Sie wird sich schon machen. Was soll’s, wir nennen sie trotzdem Morgan. Morgan Wellburn, das is doch mal ‘n Name, den man sich merkt.«

»Morgan le Fay«, sagte Annis und langte nach dem Baby, um es zu stillen. Der winzige Mund schnappte einen Moment auf und zu, umschloss dann die Brustwarze und fing an zu saugen. Die machte kein Getue. »Ich entsinne mich an Morgan le Fay aus einer alten Geschichte, die mein Vater uns vorlas, über König Arthur und seine Ritter. Sie war eine Hexe!« Sie spuckte drei Mal aus, was Glück bringen sollte, obwohl ihr Mund staubtrocken war. »Und wenn schon! Meine Familie besteht schließlich aus einer ununterbrochenen Reihe von Hexen! Wer weiß, welche Geister mit Quare Auntie sprechen?« Annis spuckte erneut aus und schaute sich um. Die alte Frau wanderte gewöhnlich in den Wäldern umher, wo sie sich vor anderen Menschen versteckte. Aber hin und wieder kam sie auf die Lichtung und schrie aus vollem Halse, sei es bei Tag oder bei Nacht.

»Jetzt pass mal gut auf, Rebecca«, sagte Annis und zog ihre zweite Tochter neben sich. »Es sind deine Vorfahren, über die ich hier rede. Und meine alte Großmutter, die hat ihre Großmutter moigu genannt, weil ihre Oma von den Mohegan abstammte, und moigu ist das Mohegan-Wort für Hexe. Oder Medizinmann. Es gilt für beide, dasselbe Wort, für Frau oder Mann. Hörst du auch zu?« Becky lächelte sie an und sagte: »Ja, Mam«, aber Annis bezweifelte, dass ihre schöne Tochter jemals moigu sein würde. Sie war fügsam und befolgte Anweisungen, doch sie besaß weder das zweite Gesicht noch die Kraft zu heilen.

»Fang bloß nick mit dem indianischen Gespensterquatsch an, Annis. Dieses Baby is auch mein Kind, und sie is keine Moyguh.«

»Sei kein Trottel, Todd. Eine Hexe ist nichts Schlechtes«, sagte Annis. »Eine Hexe hat Macht. Diese Morgan le Fay da, von der ich spreche, die war eine weiße Hexe. Mein Daddy hat uns die ganze Geschichte über Arthur und das Schwert in dem Stein und das alles vorgelesen. Sie haben meine Mutter eine Hexe genannt, weil sie Angst vor ihr hatten. Aber trotzdem sind sie zu ihr gekommen, wenn sie krank waren oder in den Wehen lagen. Sie wurde mit dieser Macht geboren, genau wie ich, und –«

Sie brach ab und starrte über Todds Schulter. Hatte sie es sich nicht gedacht? Da kam Quare Auntie aus dem Wald. Besser als das letzte Mal, als Annis sie zu Gesicht bekommen hatte, sah sie ganz sicher nicht aus. Sie war mit Schmutz bedeckt, und ihr zottiges weißes Haar war seit langem weder gebürstet noch geflochten worden, womöglich seit Jahren nicht. An einem Bein hatte sie eine hässliche rote Wunde, und obgleich sie erst am Rande der Lichtung war, konnte man sie schon riechen: eine Mischung aus Tierkadaver, Exkrementen und Fäulnis. Annis hätte am liebsten gerufen: »Geh weg, du schreckliche alte Frau! Komm meinem Baby bloß nicht zu nahe!« Aber das tat sie natürlich nicht. Mochte Quare Auntie auch von Geistern besessen sein, so war sie doch die Schwester von Annis’ Mutter. Wie alt sie wohl war? Schwer zu sagen. Um die sechzig wahrscheinlich. Es war ein Wunder, dass sie dieses Alter erreicht hatte, wo sie doch ganz allein lebte und im Wald umherwanderte. Es musste also stimmen: Die Geister, mit denen sie sprach, beschützten sie.

»Wer ist da?«, rief Annis, und Quare Auntie antwortete: »Small Sparrow«. Annis hatte vergessen, dass sie so hieß, denn es war lange her, dass jemand diesen Namen benutzt hatte. Einst musste sie ein liebes kleines Mädchen mit munteren Knopfaugen gewesen sein. Annis versuchte sich vorzustellen, wie ihre Großmutter Small Sparrow zärtlich die Hand auf den Kopf gelegt und ihr gesagt hatte, wie hübsch sie sei.

Quare Annie schlich sich vom Rande der Lichtung her an, wobei sie sich ständig argwöhnisch umschaute, irgendwelche unsichtbaren Wesen beschimpfte und gestikulierte und schrie: »Wech da! Zurück! Wech, sag ich!«

Todd erstarrte und Becky barg den Kopf an der Schulter ihrer Mutter. In möglichst freundlichem, gelassenem Ton begrüßte Annies ihre Tante. »Warum kommst du uns heute Abend besuchen?«, fragte sie.

Mit völlig normaler Stimme sagte Quare Auntie: »Nun, ein Geist hat mir im Traum gesagt, ich soll aufstehen und zu dem neugeborenen Baby gehen. Ich soll ihr meine Hand auf den Kopf legen und ihr einen Namen geben.«

»Woher weißt du denn, dass es ein Mädchen ist?«, fragte Todd. »Überhaupt, wie um alles in der Welt konntest du wissen, dass Annis ein Kind kriegt? Beobachtest du uns, Auntie? Bist du immer in der Nähe und spionierst uns aus? Ist es das, was du den ganzen Tag tust?«

Quare Auntie beachtete ihn gar nicht – das war so ihre Art –, sondern kam einfach anmarschiert und legte dem Säugling ihre Hand auf den Kopf. »Ich nenne dich Woman of the River«, intonierte sie, einen Namen aus der Sprache der Alten wählend, »und du wirst dem Fluss zu deinem Schicksal folgen.«

Plötzlich bemerkte sie ein Muttermal auf der Schulter des Babys und wich zurück. »Ein Vogel! Ein Adler! Sie hätte ein Junge sein sollen!« Sie beugte sich zu Annis hinab, kniff die Augen zusammen und rief: »Hure! Deine schamlose Unzucht am Fluss hat das Kind vergiftet! Oh ja, ich habe dich gesehen, dich und deinen schwarzhaarigen Liebhaber!« Annis’ Herz begann zu hämmern. Quare Auntie hatte sie beobachtet? Sie und Nattie Marcus? Galle stieg in ihr hoch und sie schluckte. Und wenn schon! Sie war bloß eine alte Frau, die Dinge sah, die sonst niemand sah, und Stimmen hörte, die sonst niemand hörte. Und keiner außer ihr konnte sich so geräuschlos bewegen wie die Geister, die sie umgaben. Annis erschauerte.

Die zerlumpte alte Frau grinste sie an und entblößte dabei ihre grünlichen Zähne. Dann trat sie ein Stück zurück und sang: »Black is the colour of my true love’s hair ...« Schließlich entfernte sie sich. Gut so. Genug von dem Gerede über einen schwarzhaarigen Liebhaber. Außerdem stank Quare Auntie noch schlimmer als Todds Wunde bei seiner Heimkehr. Quare Auntie brach in ein wildes, freudloses Gelächter aus, drehte sich um und marschierte auf den Wald zu. Sie hielt inne, um etwas auf Pequot hervorzustoßen, und wechselte dann ins Englische. »Hör mir gut zu, kleine Nichte: unsere Familie endet mit diesem Kind. Dieses Kind wird alles verändern! Pass auf sie auf!«

Annis hatte bemerkt, dass Quare Auntie so tat, als sähe sie Becky nicht, als wäre Becky nicht vorhanden. An dem Tag, als Rebecca geboren wurde, war sie nicht aus ihrem Versteck gekommen; sie hatte keinen Traum gehabt, der ihr einen Namen für sie mitgab. Was bedeutete das? Annis lief es kalt den Rücken hinunter. Natürlich bedeutete es etwas; alles, was geschah, bedeutete etwas. War Becky ein baldiger Tod vorherbestimmt? Konnte oder wollte Quare Auntie sie deshalb nicht sehen? Dann, auf einmal, warf Quare Auntie Becky einen langen, strengen Blick zu und zischte wie eine Schlange. Einen Moment darauf verschmolz sie mit den Bäumen.

Schweigend blieben sie zurück, selbst das Baby, das aufgehört hatte zu saugen, lag still in ihren Armen. Annis wagte nicht, Todd anzuschauen, obwohl sie spürte, dass sein Blick auf ihr haftete. Schließlich sagte er mit gefährlich leiser Stimme: »Schwarzhaariger Liebhaber, Annis?«

Ihn immer noch nicht anschauend, erwiderte Annis: »Sei nicht dumm, Todd. Es lohnt sich nicht, Quare Auntie zuzuhören, das weißt du doch! Entsinnst du dich, wie sie kam und davon sprach, dass dein Hund tot nahe dem Hain aus weißen Birken liege?« Es war kein toter Hund in jenem Hain gewesen. Allerdings hatte ein Waschbär eine Woche später diesen Hund im Kampf getötet. Aber Todd war keiner, der an Zeichen und Wunder glaubte. Er hielt das alles für Indianer-Unsinn.

»War sie immer schon verrückt?«

»So wie wir es sehen, ist sie nicht verrückt. Sie redet mit den Geistern. Die Frauen in unserer Familie sind bekannt dafür.« Todd spuckte in den Staub. Ärgerlich sagte Annis: »Und was ist mit diesem Moses in der Bibel, der mit Gott sprach und Wasser aus einem Felsen fließen ließ und einen Stock in eine Schlange verwandelte? Das glaubst du!‹

»Das ist was anderes!«

»Es ist überhaupt nichts anderes. Denk mal drüber nach, Todd Wellburn. Aber jetzt hilf mir erst mal auf die Füße. Ich möchte in mein Bett.«

Sie reichte Becky das Baby und ergriff Todds Hand, damit er ihr aufhalf. Ihr Körper war innerlich ein wenig wund und sie würde ihrem Mann ein paar Tage nicht zu nahe kommen. Und sie war todmüde. Doch Hunger hatte sie auch. Heute Morgen, als sie fühlte, dass sich das Kind in ihr verlagerte, und ihr ausladender Leib anfing, sich zu verkrampfen, hatte sie einen Eintopf aufgesetzt und darin, als sie aus dem Haus ging, um das Baby zu gebären, Becky befohlen, das Feuer in Gang zu halten, damit ihr Essen warm blieb.

Sie stütze sich auf Todds Arm, während sie über die Lichtung auf das stabile Haus aus Stein und Holz zugingen, das direkt vor einem kleinen Obstgarten mit Holzapfel- und Kirschbäumen stand. Mittlerweile herrschte Zwielicht; der blassblaue Himmel füllte sich mit flockigen grauen Wolken. Über dem Horizont schien bereits der erste Stern des Abends auf. Vielleicht würde der Anbruch der Nacht eine Brise mit sich bringen und sie von der Hitze befreien, die sich den ganzen Tag über aufgestaut hatte. Ihr Urururgroßvater hatte das Haus gebaut, und er hatte es gut gebaut, mit einer Feuerstelle, in der man stehen konnte, zwei Zimmern und einer Empore zum Schlafen. Die beiden Fenster waren mit dicken Läden gegen schlechtes Wetter gerüstet – jetzt standen sie natürlich weit offen –, und die vordere Veranda zog sich über die ganze Breite des Hauses. Auf dieser Veranda standen Annis’ Schaukelstühle, die sie im Tausch für die Geburtshilfe bei Mrs. Carter erhalten hatte, deren Mann unten in East Haddam Schreiner war – für jedes Carter-Kind einen Stuhl, vier insgesamt. Ihr Butterfass war ebenfalls dort und ihr Webstuhl. Sie lebten wirklich gut hier oben in den Hügeln. Sie hatten Schweine in einem Gehege auf der einen Seite der Lichtung und einen Schuppen und einen Heuschober und einen Hühnerstall, in den sie die Vögel nachts sperrte, um sie vor umherstreifenden Wölfen zu schützen. Ihre Stute Josie weidete auf ihrer Koppel, und für Milch und Butter besaßen sie eine Kuh. Ja, es war ein gutes Leben. Jede Frau in der Gegend wusste, an wen sie sich wenden musste, wenn sie ein Baby wollte, oder wenn sie kein Baby wollte, oder wenn sie in den Wehen lag und kurz vor der Entbindung stand. Auch wegen anderer Arzneien kamen sie zu Annis, bei Wassersucht und Rheumatismus und Verbrennungen und dergleichen. Manche Frauen fragten, ob sie etwas hätte, das die schlafende Leidenschaft eines Mannes weckte. Wenn man hier in der Gegend verarztet werden musste, gab es nur einen Menschen, von dem man behandelt werden wollte, und das war Annis Wellburn. Trotzdem nannten sie sie hinter ihrem Rücken die Squaw.

Als Todd ihr die Verandastufen hochhalf, fiel ihr auf, dass er sein Bein nachzog. »Gib mir das Baby, Becky«, sagte Annis. »Und dann hol deinem Daddy ein paar Schafgarbenblätter, damit er darauf kaut ... oder nein, warte. Nein, mach ihm einen Tee aus Buchsbeeren, hörst du? Den trinkst du, Todd, dann tut dir dein Bein nicht mehr weh.«

Nun musste sie nur noch in ihr schönes, weiches Bett steigen, sie war so erschöpft. Becky hatte alles sauber gemacht und aufgeräumt und einen kleinen Strauß aus gelben Blumen in einem Glas neben das Bett gestellt. Becky war ein liebes Kind, wenn auch bei weitem zu hübsch. Ihr Aussehen war ein Fluch. Annis hatte bemerkt, wie Männer sie anschauten, dabei war sie noch ein Kind! Schlimmer noch, Rebecca genoss die Aufmerksamkeit und verstand nicht, was sie bedeutete. Sie lächelte nur, zeigte ihre Grübchen und errötete ein wenig. Annis hatte versucht, sie zu warnen, ihr zu sagen, sie solle aufpassen. Doch als Becky fragte: »Aber wieso, Mam? Warum soll ich mich nicht bedanken, wenn Mr. Cartwright mir sagt, dass ich ein hübsches kleines Ding bin?«, hatte Annis keine Antwort parat. Sie konnte nur dafür sorgen, dass Becky stets in ihrer Nähe blieb. Aber mit einem neugeborenen Baby, um das sie sich kümmern musste, wie konnte sie da Tag und Nacht ein Auge auf Becky haben?

Nun, das war jetzt nicht wichtig. Über Becky würde sie sich später Gedanken machen. Jetzt war die Kleine an der Reihe, Morgan. Annis musste ihr Kind studieren und auf ein Zeichen für ihren indianischen Namen warten. Woman of the Water sollte ihr geheimer, heiliger Name sein. Sie brauchte einen Spitznamen. Besonders weil sie mit ihren dunklen, leuchtenden Knopfaugen, den hohen Wangenknochen und dem vollen Schopf glatter, glänzender schwarzer Haare so sehr den Angehörigen ihrer Mutter ähnelte. Jetzt, da die Röte langsam von ihr wich, sah Annis, dass ihre Haut fast ebenso milchweiß war wie Beckys. Nicht olivbraun wie diejenige des anderen, des kleinen Jungen .... Sie blinzelte, um nicht zu weinen. Sie durfte nicht daran denken. Das war vergangen und vorbei. Sie hatte ihre Entscheidung getroffen; sie hatte gewusst, was sie tat.

Wieder richtete sie ihre Aufmerksamkeit auf den in ihre Arme geschmiegten Säugling. »Wie heißt du, Kleines?«, murmelte sie. Sie dachte an Quare Auntie. Die alte Frau mochte zwar zum Himmel stinken, doch sie lebte mit den Geistern, und die hatten ihr befohlen, ihre Hand auf das Baby zu legen und ihm einen Namen zu geben. Wenn der Fluss ihr Schicksal war, und wenn sie nach einem Vogel benannt werden sollte ...

»Jetzt weiß ich, wie du heißt, meine Tochter«, sagte Annis und zog das Baby an ihre Brust. »Water Bird. Meine wunderschöne Water Bird.« Sie war wunderschön, aber sie hatte ein indianisches Gesicht, und Annis wusste, dass ein indianisches Gesicht viel Kummer mit sich bringen konnte. Auch ihre Tochter würden die Rufe »Squaw!« verfolgen, wenn sie von diesen Hügeln in die Stadt hinabging. Dort wohnten nur Engländer. Die meisten Pequot waren längst geflohen oder an den Pocken gestorben, und diejenigen, die noch übrig waren, entweder »betende Indianer«, oder sie lebten – wie Annis und vielleicht ein halbes Dutzend andere – vereinzelt in den Hügeln.

Annis döste ein und träumte von Indianern, die am Strand um ein Feuer tanzten. Todd kam auf Zehenspitzen herein, aber sie spürte seine Anwesenheit. Sie öffnete die Augen, während ein paar Bilder des Traums noch in ihrem Kopf umherschwirrten.

Todd sagte: »Na ja, macht nichts, nächstes Mal kriegen wir unseren Jungen.« War das nicht typisch Mann, zu glauben, dass sie sich grämte, weil das Baby kein Junge war? Belustigt schüttelte sie den Kopf. »Ich will keine Kinder mehr, Todd, nicht in meinem Alter.« Er dachte ein Weilchen darüber nach. Dann grunzte er und sagte: »Na gut, dann muss ich ihr wohl all das beibringen, was ich einem Sohn beigebracht hätte.« Er blickte sie schräg von der Seite an und wartete, was sie dazu meinte.

»Wir werden sehen.«

Er räusperte sich nervös. »Nach dem Tee, den unsere kleine Becky mir gemacht hat, warn die Schmerzen in mei’m Bein wie weggeblasen«, sagte er. »Vielleicht wird sie später mal ’ne Heilerin wie ihre Mam.«

Das war als Kompliment gemeint, doch Annis schüttelte den Kopf. »Nein«, sagte sie, »Becky weiß, wie man Arzneien macht, wenn ich ihr genau sage, was sie tun muss, und sie weiß, wozu die einzelnen Arzneien gut sind. Aber die innere Kraft zu heilen? Nein, Todd, tut mir Leid, die hat sie nicht.« Sie hielt inne und schaute auf das schwarzhaarige Baby, das an ihrer Brust saugte, so kräftig, so ungestüm, so stark.

»Becky nicht«, sagte sie. »Aber vielleicht die hier. Vielleicht Morgan.«

Die Schamanin

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