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4 Ende Februar 1882

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Annis verzog keine Miene – darin war sie gut als halbe Indianerin –, aber sie war mit all ihren Sinnen gespannt und wachsam, denn sie wartete darauf, dass Becky in Aktion trat. Die Vorzeichen dafür waren gegeben. Beckys Blick schweifte hin und her, und ab und zu wandte sie den Kopf zur Seite. Annis wusste, was das hieß. Beckys Lippen bewegten sich, während sie leise mit ihren Geistern sprach. Sie dachte, wenn sie den Kopf wegdrehte, würde niemand es sehen. Sobald sie einmal die Lippen bewegte, würde es nicht lange dauern, bis sie laut redete. Und bald schon würde sie kreischen und fluchen und wüste Szenen machen. Annis war fest entschlossen, es heute nicht dazu kommen zu lassen. Ein halbes Dutzend Leute wartete draußen auf der Veranda. Das Februar-Tauwetter hatte sie hergeführt, und sie wollte sie nicht verlieren.

Das letzte Mal, als Becky so rastlos gewesen war, endete damit, dass sie die auf der Lichtung Versammelten anschrie, sie wisse, worauf sie aus seien, sie könne ihre bösen Gedanken durch die Luft schweben sehen. Plötzlich wedelte sie mit Todds Jagdmesser, und alle nahmen Reißaus. Eine Zeit lang kam niemand mehr zu ihnen auf den Hügel, um geheilt zu werden oder einen Ehemann zu finden oder einen Fluch zu brechen, und wenn Annis nach East Haddam ging, mieden die Leute ihren Blick. Manche überquerten sogar die Straße, um ihr nicht zu begegnen. Zum Glück wollten die Frauen sie immer noch bei ihren Geburten dabeihaben, sonst hätte die Familie im Winter ‘81 hungern müssen. Den letzten Winter würde sie nicht vergessen, niemals. Er war ein Alptraum gewesen.

Dann war Becky eines Tages im Frühling durch den Wald gewandert und auf ein kleines Mädchen gestoßen, das zusammengerollt in einem Haufen Eichenblätter schlief. Sie las das Kind auf, brachte es zu Annis und sagte: »Hier ist mein Baby Mama. Ich habe dir ja gesagt, dass ich ein Baby kriege.« Das war natürlich Unsinn, denn die Kleine sah aus wie eine Dreijährige. Jedenfalls war sie Amelia Hapgood, der Frau des Gemüsehändlers wie aus dem Gesicht geschnitten, bis hin zu den abstehenden Ohren und dem strähnigen braunen Haar.

Annis schickte Morgan in die Stadt, damit sie Mrs. Hapgood erzählte, dass Becky ein Kind gefunden hatte, das ihr genügend ähnlich sah, um eine jüngere Ausgabe von ihr selbst zu sein. Nun, es stellte sich heraus, dass das kleine Mädchen – Elizabeth hieß es – seine Mutter verloren hatte, als die beiden vor drei Tagen draußen im Wald Beeren gesucht hatten, und dass niemand Elizabeth finden konnte. Sie nahmen an, sie sei von einem Wolf gefressen worden, und ihre Mutter war krank vor Kummer um ihr verloren gegangenes Baby.

Ezra Hapgood kam so außer Atem auf seiner braun gesprenkelten Mähre angeritten, als hätte er das Klettern besorgt und nicht das Pferd. Sagte Annis nicht mal guten Tag. »Ich habe gehört, deine Tochter Becky –«, setzte er an. In dem Moment kam die Kleine aus dem Haus gerannt und schrie: »Papa! Papa!« Und dann strahlte er nur noch. Immer wieder segnete er Becky, während er sein Kind vor sich auf den Sattel hob. Dann sagte er: »Es tut mir Leid, dass wir je gezweifelt haben, Miz Wellburn, wirklich. Denn das ist ein Wunder, dass sie hier neben mir sitzt. Ich dachte, wir würden unser liebes Kind nie wieder sehen, nicht in diesem Leben.« Seine Stimme brach und Tränen quollen ihm aus den Augen. Es war großartig. Aber noch großartiger war, dass schon am nächsten Tag die Leute anfingen, wieder heraufzukommen, durch die Hügel heran zu den Wellburns, um das Mädchen, das mit den Engeln sprach, um Gefälligkeiten zu bitten.

Jetzt trat Arnos Whitbeck aus Killingworth ins Haus und reichte Becky einen Schal, der seiner Tochter gehört hatte, die vor sechs Monaten verschwunden war. Annis beobachtete ihn, während er Becky unter Tränen anflehte, seine Margaret zu finden. Am liebsten hätte sie gelacht. Sie wusste, wohin Peggy Whitbeck sich verirrt hatte – und mit wem. Sie war vor einem Pfennigfuchser von Vater weggerannt, der sie ohrfeigte, wenn sie auch nur zu einer Tanzerei von der Kirche gehen wollte. Annis, die stets die Ohren offen hielt, hatte die Frau des Hufschmieds im Gemischtwarenladen einer anderen Frau erzählen hören, dass Peggy in einer regnerischen Nacht mit einem der Cole-Söhne aus Madison durchgebrannt sei. Das habe sie von ihrem Dienstmädchen, das mit Peggy befreundet und in das Geheimnis eingeweiht war. Annis fragte sich, wer inzwischen wohl alles von diesem Geheimnis wusste. Amos ganz bestimmt nicht, das war mal sicher.

Amos verlor allmählich die Geduld mit Becky, die wild mit den Augen rollte. Annis wusste, dass Beckys Gedanken umherschweiften; das bedeutete, dass Annis ihr die richtigen Worte vorgeben musste. Sie überlegte einen Moment und kam zu dem Schluss, dass Becky ihm erzählen sollte, das Bild, das sie vor sich sehe, sei ganz verschwommen, wie unter Wasser; Peggy sei womöglich ins Wasser gegangen. Das würde ihn daran hindern, das arme Mädchen zu finden. Annis hatte nämlich gehört, dass das Liebespaar auf dem Weg nach Massachusetts war, und zwar zu Pferde, nicht zu Wasser.

Becky befingerte Margaret Whitbecks Schal und flüsterte: »Hübsch, hübsch, oh, so hübsch.« Dann blickte sie auf und sagte: »Horcht! Habt ihr das gehört?«

Bevor Amos einen Pieps von sich geben konnte, warf Annis ein: »Ich habe es gehört. Ich habe das Wort ›Wasser‹ gehört.« Manchmal griff Becky einfach auf, was ihre Mutter sagte, und spann es weiter aus. Manchmal auch nicht. Man musste sie genau beobachten, jede Minute. Bei Becky wusste man nie.

»Wasser«, wiederholte Becky. »Ja, Wasser.« Annis atmete erleichtert auf »Was ist das? Ist sie im Fluss? Oh, armes Ding, armes Ding, im Fluss, im Wasser –«

Amos war außer sich. »Du meinst ... sie ist ertrunken?«

Annis fiel ein: »Natürlich nicht, Amos. Sie meint, dass Peggy ein Schiff bestiegen hat. Oder ein Kanu ...«

»Ein Kanu ...«, wiederholte Becky verträumt.

»Nun, dann werde ich sie finden. Wir haben ein Ruderboot – kein Kanu, aber nahe genug dran, möchte ich meinen. Der Fluss ist der Connecticut?«

»Der Connecticut«, echote Becky.

Annis entspannte sich. Die Sache würde gut gehen. Mit ruhigem Lächeln nahm sie die Säcke mit Mais- und Weizenmehl entgegen, die Amos als Bezahlung mitgebracht hatte. »Wenn ich sie finde, gibt es mehr davon«, versprach er und zog los, wobei er den anderen, die draußen auf der Veranda warteten, berichtete, dass Becky wieder einmal ein gutes Werk getan habe.

Tatsache war, dass jeder an Becky und ihre Engelsstimmen glauben wollte. Den ganzen Fluss entlang war sie berühmt geworden. Die Leute kamen bis von Wethersfield und Saybrook, einer sogar aus dem hohen Norden von New Hampshire. Annis hörte, was sie einander erzählten, während sie auf Becky warteten. Es war nicht nur Heilung, die sie suchten; sie konnten ihr auch Fragen über die Zukunft stellen, die sie beantwortete. Wenn sie ihr ein Kleidungsstück von jemandem gaben, so verriet sie ihnen alles über die betreffende Person. Das war Annis’ Idee gewesen, auf die sie mächtig stolz war. Sie wusste, dass Becky mit niemandem außer ihren Geistern redete – und das waren meistens böse Geister, die keinem etwas Gutes wollten. Doch wenn die Menschen an Engel glauben wollten und es ihnen dadurch besser ging, warum sollte ausgerechnet Annis ihnen sagen, es gebe keine? Nie sah sie jemanden ohne ein zufriedenes Lächeln von hier weggehen, niemals. Vielleicht war Becky nicht das, was die Leute dachten, aber sie richtete keinen Schaden an. Und sollte sie nein dazu sagen, dass die Wellburns jetzt besser gestellt waren?

Becky hatte sich auf ihrem Stuhl so weit umgedreht, dass ihr Gesicht der Feuerstelle zugewandt war. Ach, du liebe Güte, dachte Annis. Es würde nicht mehr lange dauern, bis sie anfing, ihre Geister anzuschreien und womöglich auf der Lichtung herumzulaufen und Leute zu bedrohen, wie sie es gelegentlich tat. »Nur einer noch«, rief Annis. Draußen erhob sich enttäuschtes Gemurmel, doch die anderen machten den Weg frei für den jungen John Hampton und seine Frau Sally. Letzte Woche hatten sie Becky aufgesucht, weil sie wissen wollten, wieso ihr kleines Baby, gerade zwei Monate alt, plötzlich in seiner Wiege gestorben war. Sie hatten sein kleines Wickelkissen mitgebracht, damit Becky es anfassen und die Engel es sehen konnten. Diesmal musste Annis Becky keine Stichworte geben.

»Findet die Frau mit einem Kleid aus demselben Stoff«, sagte Becky, die Augen zu Schlitzen verengt, »das ist die Hexe, die euer Baby mit einem Fluch erstickt hat.«

Danach hatte Becky einfach aufgehört zu reden. Egal, wie oft John und Sally sie baten, ihnen zu erzählen, was sie tun müssten, um die Hexe zu finden, sie äußerte kein weiteres Wort. Annis musste ihnen sagen, dass sie, wenn sie die Hexe gefunden hätten, bei Neumond – der wäre in zwei Nächten – um deren Haus tanzen sollten, und zwar dreimal, falls notwendig. »Dann wird die Hexe sterben«, verkündete Annis, und Becky hatte ihr, wie sie es häufig tat, nachgesprochen: »Und die Hexe wird sterben.« Heute kamen sie, um Becky zu danken und ihr zwei Hühner dazulassen. Die Hexe war verschwunden, nachdem sie getanzt hatten. Einfach weg, hatte sich in Luft aufgelöst. Das Paar war zu dem Schluss gekommen, dass Dorothy Granding, ein kleines, altes, buckliges Weiblein, das allein lebte, ganz in Schwarz gekleidet war und nie anders als im Flüsterton sprach – wenn man sie überhaupt zum Sprechen bewegen konnte –, die Hexe sein müsse. Little Miz Granding war sicher nicht ganz richtig, doch Annis wusste, dass das arme kleine Ding keine Hexe war. Wahrscheinlich hatten sie sie in irgendein Versteck gescheucht. Na, machte nichts.

»Das ist gut«, sagte Annis zu dem jungen Paar. »Ihr habt eure Sache gut gemacht. Gewiss schaut euer Kleines vom Himmel herab und lächelt.« Das hörten sie gern. Sie machten sich auf den Weg bergab, und die Übrigen folgten. Innerhalb weniger Minuten war die Veranda leer.

Annis war froh darüber, dass die Leute gingen. Und keinen Augenblick zu früh. Becky sprang auf, murmelte etwas und lief nach draußen. Während sie in den Wald rannte, rief sie: »Du findest mich nie!«, und verschwand zwischen den Bäumen. »Und wenn, dann schneide ich dir das Herz heraus!«

Morgan hatte in aller Stille und außer Sichtweite ein paar Arzneien gebraut. Annis hatte fast vergessen, dass sie in der Nähe war. Deshalb fuhr sie zusammen, als Morgan direkt neben ihr plötzlich fragte: »Ist ihnen denn nicht klar, dass sie die arme Miz Granding vermutlich so erschreckt haben, dass sie in die Nacht hinauslaufen musste?«

»Halt den Mund, Morgan. Was schadet es schon? Sieh doch, wie die Mutter lächelt, weil sie denkt, sie sei die Mörderin ihres Babys losgeworden. Und wenn Miz Granding sich weggeschlichen hat, weil sie nicht wollte, dass womöglich jemand meint, sie solle in den Fluss gehen, nun ja ...«

»Aber Mam, das ist nicht richtig –«

»Jetzt pass mal auf, Morgan Wellburn. Du bist erst dreizehn, nicht alt genug, um deiner Mutter freche Antworten zu geben. Wenn ich sage, es schadet nichts, dann schadet es eben nichts, punktum. Ich bin todmüde und mein Kopf tut weh. Ich hätte gern einen Kamillentee, Morgan.«

»Gut, Mam, ich hol dir welchen.« Morgan drehte sich rasch um, damit Mam nicht merkte, wie wütend sie war. Ihr Rücken schmerzte; es war heiß wie in den Feuern des Hades. Zu heiß, um Arzneien zu brauen, aber niemanden auf der Welt interessierte es, wie sie sich fühlte! Ihre Mutter hatte genug Zeit, um Becky bei ihren Wunderheilungen zu helfen. Doch wenn Morgan ein Wort zu sagen hatte, war ihre Mutter auf einmal müde und bekam Kopfschmerzen. Für Morgan hatte sie nie Zeit, nicht seit dem Tag, an dem irgendjemand auf die Idee gekommen war, Becky spreche mit den Engeln. Wenn Morgan sich – was selten vorkam – beklagte, meinte ihre Mutter, Becky brauche sie, und Morgan, die intelligent war und die Kraft zu heilen besaß, sei stark genug, um allein zurechtzukommen. »Es ist so eine Erleichterung für mich«, sagte Mam, »dass ich weiß, du tust, was getan werden muss.« Sie tätschelte Morgan die Hand, und Morgan sah, dass ihre Mutter in Gedanken schon wieder bei Becky war. Ich brauche dich auch, hätte sie am liebsten ausgerufen, doch sie wusste, dass das nichts nützen würde. Das einzig Gute war, dass sie mittlerweile viele Patienten ihrer Mutter behandelte. Und denen gefiel es, wie sie sie verarztete.

Natürlich war das nichts im Vergleich zu dem, was die Leute über Becky dachten. Becky war einzigartig, so hübsch, so ... berühmt. Sogar Morgans beste Freundin Lizzie Bushnell fand das. Manchmal fragte Morgan sich, ob Lizzie nicht nur deshalb mit ihr befreundet war, weil sie die Schwester des Mädchens war, mit dem die Engel sprachen. Aber Lizzie sagte nein, natürlich nicht, war ich nicht schon deine Freundin, bevor Becky berühmt wurde? Lizzie war ziemlich dick und schnaufte häufig – sie hatte Atembeschwerden –, doch sie war die Tochter von Reverend Enos Bushnell, einem angesehenen Mitglied der East Haddamer Gesellschaft.

Als der Kamillentee genügend gezogen hatte, goss Morgan ihrer Mutter eine Tasse ein und brachte sie ihr.

»Oh, vielen Dank, Morgan. Du bist mir eine solche Hilfe.«

Erwärmt von den freundlichen Worten, platzte Morgan mit einer Frage heraus, die ihr schon lange im Kopf herumging. »Mama«, sagte sie, zu der kleinkindlichen Anrede zurückkehrend, »wie kommt es, dass Engel mit Becky sprechen und nicht mit mir? Ich bin doch kein schlechter Mensch und gut in der Schule.«

Einmal hatte sie Lizzies Pa gefragt – schließlich war er der Pfarrer, oder? Ein Mann Gottes. Sie dachte, er müsse es wissen. »Vielleicht bist du nicht fromm genug, vielleicht hast du nicht genug gebetet«, hatte er gesagt und ihr dabei so tief in die Augen geschaut, dass sie sich am liebsten gekrümmt hätte. »Wir alle müssen danach streben, besser zu sein, als wir es sind.« Das war für sie keine richtige Antwort. »Mam?«, insistierte sie. »Warum reden sie nicht mit mir? Ich habe es versucht. Ich habe sie auf Knien darum gebeten, aber sie wollen einfach nicht.«

»Oh, Morgan«, seufzte ihre Mutter. »Was soll ich dir sagen?« Sie verfiel in ein solch langes Schweigen, dass Morgan dachte, sie habe ihre Frage vergessen. Doch dann seufzte sie erneut und meinte: »Du hattest Recht, Morgan. Vorhin. Es ist eine Menge Hokuspokus. Du und ich, wir wissen, dass es keine Engel gibt, die mit Becky sprechen. Es sind ihre Geister, dieselben, die ihr schon so lange zusetzen. Aber, wie ich bereits sagte, es schadet nichts, nicht, wenn es den Leuten daraufhin besser geht. Im Grunde ist es beim Heilen ganz ähnlich. Ich habe Frauen erlebt, die sich im Bett wälzen und schreien vor Wehenschmerzen, und sobald ich da bin und sie mein Gesicht sehen, lässt der Schmerz nach. Sie vertrauen mir, Morgan, sie wissen, dass ich ihnen helfe, und das beruhigt sie. Danach muss ich ihnen natürlich die richtige Medizin geben ...«

Morgan nickte. Sie hatte das selbst miterlebt und wusste, dass es stimmte. Es zeigte schon Wirkung, wenn die Menschen nur wussten, dass man eine Heilerin war.

»Du hast die Kraft zu heilen in dir, Morgan. Genau wie ich und meine Mam und ihre und so weiter bis zum Anbeginn der Zeit. Das ist etwas Gutes.«

Dessen war sich Morgan nicht so sicher. Die anderen jungen Leute in der Stadt hielten Abstand zu ihr. Sie wusste nicht, ob es daran lag, dass sie eine Heilerin war oder dass sie Indianerin oder dass sie hässlich war. Auf jeden Fall war sie hässlich. Becky galt als Schönheit, und es gab keine zwei Schwestern, die unterschiedlicher aussahen. Außerdem schaute sie nie ein Junge an oder zog an ihrem Zopf. Sie würde sterben vor Einsamkeit, wenn Lizzie nicht wäre. Obgleich sie manchmal dachte, es sei die Sache eigentlich nicht wert. Lizzie wollte immer die Anführerin sein, die Befehle erteilen, die besten Rollen haben, wenn sie ihre Stücke spielten. Sie kommandierte Morgan herum und sagte oft aus heiterem Himmel: »Geh jetzt nach Hause«, wenn sie sich langweilte oder schlechte Laune hatte. Aber Morgan hatte das Gefühl, dass Lizzie sie exotisch fand, weil sie zum Teil Indianerin und bereits Heilerin war und – vor allem, dachte Morgan-Beckys Schwester. Einmal hatte Lizzie gemeint, Morgan und sie seien so etwas wie Cousinen, weil Lizzie von Annis auf die Welt geholt worden war. Abends fragte Morgan ihre Mam, ob sie das zu Lizzies Cousine mache. Ihre Mutter lachte und sagte, nein, ganz und gar nicht, »obwohl es stimmt, ich war da, um sie in Empfang zu nehmen, als sie geboren wurde. Glaub mir, als sie als Baby aus dem Mutterleib kam, klagte und jammerte sie schon ebenso wie jetzt.«

Letzten Herbst war Morgan eingeladen gewesen, sich mit Lizzie und ihren Eltern ein richtiges Schauspiel anzusehen. Dieses zauberhafte Ereignis würde sie nie vergessen. Es fand im Festsaal von Mr. Goodspeed direkt am Flussufer statt. Ein herrlicher Bau, erst vor fünf Jahren errichtet, groß wie ein Schloss – sechs Stockwerke –, und es hieß, in dem hufeisenförmigen Theater ganz oben fänden dreihundert Leute Platz. An dem Abend, als die Bushnells sie dorthin mitnahmen, konnte Morgan nur dasitzen und staunen. Es schien ihr, als hätte sich der gesamte Staat Connecticut hier niedergelassen, um darauf zu warten, dass Mr. William Gillette heraustrat und Sherlock Holmes spielte. So viele Menschen, so viele weiße Blusen mit funkelnden Juwelen und Herren mit flatternden Krawatten! Einer von Mr. Goodspeeds Flussdampfern hatte Leute ganz von New York City hergebracht. Lizzie wies darauf hin, dass die New Yorkerinnen diejenigen waren, die Straußenfedern und gefütterte Capes und Diamantenhalsbänder trugen. Diamantenhalsbänder! Morgan hatte nie erwartet, dass sie in ihrem Leben je so etwas zu Gesicht bekommen würde! Alles war wunderschön, die Leute und das Theater. Der riesige Samtvorhang teilte sich wie durch Zauberhand, als das Stück anfing, und Tausende von Kerzen und Öllampen erleuchteten den vorderen Teil der Bühne. Sie fühlte sich ein wenig sonderbar in ihrem groben Streichgarn, während Lizzie in einem Kleid aus Seidenatlas mit Volants herausgeputzt war, doch sobald der Saal dunkel war und das Stück begann, vergaß sie alles außer dem, was auf der Bühne geschah. Sie kam ganz benommen aus dem Theater, wusste kaum noch, wo sie war, und wünschte, sie könnte hineingehen und sich alles noch einmal anschauen. Sie wusste, dass sie wahrscheinlich nie wieder ein Theaterstück sehen würde, es sei denn, Lizzies Leute lüden sie dazu ein. Aber es regte sie und Lizzie an, nach der Schule ihre eigenen kleinen Dramen aufzuführen, hinten im Pfarrhaus in Lizzies Zimmer. In letzter Zeit allerdings wurde Morgan daheim gebraucht – um bei der Hausarbeit zu helfen oder sich um Patienten zu kümmern –, deshalb hatten sie wenig Gelegenheit zum Schauspielern gehabt.

Ein Geräusch hinter Morgan ließ sie herumfahren. Becky war zurückgekehrt und saß auf dem guten Schaukelstuhl draußen auf der Veranda. Wieso?, fragte sich Morgan. Alle waren gegangen. Doch dann erblickte sie Lizzie, die mit rotem Gesicht auf die Lichtung geschnauft kam, die Hände an der Brust. Gleich hinter ihr war ihr Pa. Und sieh mal an: Hinter ihm ging sein guter Freund Reverend Carstairs aus dem weit entfernten Wethersfield. Sie waren alle dick vermummt gegen die Kälte, sahen aber erhitzt aus nach ihrem Anstieg. Die beiden Priester kamen japsend und keuchend zwischen den Bäumen hindurch angestapft. Als Reverend Bushnell auf halbem Weg zum Haus stehen blieb, seine Faust an die Brust drückte und nach Luft schnappte, fiel Morgan plötzlich auf, wie sehr sich Lizzie und ihr Pa ähnelten. Bedeutete das, dass Lizzie als Erwachsene auch einen runden, kleinen Schmerbauch und eine Knollennase haben würde?

Während sie sich näherten, war Reverend Bushnells Stimme zu vernehmen: »Wir sind da, Bruder Carstairs, hier ist es. Das rothaarige Mädchen auf der Veranda, sie ist das gesegnete Kind, das mit Engeln spricht. Sie werden sehen ... es ist erstaunlich.«

Morgan wunderte sich. Hatte Becky das Trio auf seinem Weg nach oben bemerkt? Wusste sie, dass sie sie besuchen wollten? Und war ihr etwas daran gelegen? Diese Möglichkeit war Morgan noch gar nicht in den Sinn gekommen. So viel sie wusste, redete Becky mit ihren Geistern, und Ma übersetzte für die Wartenden. Aber vielleicht, dachte Morgan, gefiel ihrer Schwester die Aufmerksamkeit, die ihr zuteil wurde. Womöglich genoss sie das – dieses Schauspielern. Ja, so war es, wie ein Stück auf der Bühne, genau so.

Die beiden Geistlichen traten auf die Veranda zu. »Miss Becky«, hub Reverend Bushnell an, wobei sein Atem weiße Dunstwölkchen erzeugte, »ich habe Reverend Carstairs eigens aus Wethersfield geholt, damit er mit Ihnen sprechen kann.«

»Wethersfield«, giftete Becky. »Böse ist, wer Böses tut. Ich sage, Wethersfield wird brennen.«

Mr. Carstairs erbleichte und streckte eine Hand aus, wie um Beckys Worte abzuwehren. »Genau das habe ich gepredigt«, verwunderte er sich. »Die jungen Leute von Wethersfield haben sich schlimm betragen, sich über das Wort des Herrn lustig gemacht. Habe ich nicht dasselbe gesagt? Wethersfield wird brennen. Oh, ihr Engel im Himmel«, sagte er, blickte zum Himmel auf und wurde ganz gefühlvoll, »wie soll ich ihnen die gottlosen Gewohnheiten austreiben?«

»Schlage die nieder, die gottlose Gewohnheiten haben!«, schrie Becky. »Gottlos, gottlos, gottlos!« Morgan wusste, in einer Minute würde sich Becky von der Veranda stürzen und die beiden Priester niederschlagen wollen.

Doch bevor sie oder Mam sich rühren konnten, war Mr. Carstairs in dem halb gefrorenen Schlamm auf die Knie gesunken, die Hände zum Gebet erhoben, und rief den Herrn an, auf Seine armen Sünder herabzuschauen und ihnen zu helfen, ihre gottlosen, gottlosen Gewohnheiten zu ändern. Mr. Bushnell fiel ebenfalls auf die Knie und auch Lizzie, ungeachtet des guten Wollkleides, mitten auf dem kalten, schmutzigen Hof. Morgan fand, dass Lizzie mächtig blöd aussah, wie sie da mit den Augen rollte und eine Miene zog, die sie wohl für fromm hielt.

»Arme Sünder!«, schrie Becky. »Brennt in der Hölle! Zieht eure Teufel ab von mir! Nein, ich höre nicht auf, ich will nicht! Und macht Schluss mit dem ewigen Lärm! Nein, nein, ich will das nicht!« Sie stieß einige Worte in der Sprache der Alten hervor, indianische Worte. Sie kannte nur wenige, und das waren zumeist Namen von Kräutern und anderen Pflanzen. Sie zählte sie auf, als wäre sie in der Schule. Na, dachte Morgan, jetzt würde den beiden Priestern klar werden, dass Becky nicht mit irgendwelchen Engeln im Himmel redete. Aber Mr. Carstairs reckte die Hände in die Höhe und rief: »Halleluja! Sie spricht in Zungen!« Und Mr. Bushnell schrie: »Amen!« Lizzie schloss sich an. Wie fromm sie aussahen da auf dem Hof, wo die Truthähne und gehäuteten Eichhörnchen mit dem Kopf nach unten hingen!

Morgan und Mam standen da und schauten zu. Dann drehte Becky ihren Stuhl um, sodass sie allen den Rücken zukehrte, schlang ihre Arme eng um die Brust und schaukelte ungestüm. Nach ein paar Minuten bemerkte Mr. Bushnell das. Er legte seinem Freund die Hand auf die Schulter. »Miss Becky will, dass wir gehen«, sagte er. Und ohne ein »Guten Tag« oder Lebewohl zogen sie ab. Morgan wartete darauf, dass Lizzie sich umdrehte und ihr zuwinkte, doch ihre beste Freundin spazierte einfach ohne ein Wort davon. Becky verdarb Morgan alles.

»Warum gehst du nicht wieder in den Wald, wo du hingehörst!«, schrie Morgan Becky an. »Nimm dein Elend und lass uns in Ruhe!«

Becky stand auf und wirbelte herum. »Ein Messer in dein Herz!«, rief sie, und Morgan schrie zurück: »Trau dich doch! Du traust dich ja nicht!« Ihr Herz klopfte wild gegen ihre Rippen. Becky warf ihr einen solch hasserfüllten Blick zu, dass Morgan zurückwich. Diesmal tut sie es, dachte sie. Sie bringt mich um.

Aus dem Nichts tauchte Pa auf, stapfte über den Hof und rief Beckys Namen. Das ließ sie innehalten. »Nein, nein, das wirst du nicht tun!«, kreischte sie und rannte los, schnell wie der Wind in den Wald hinein. Kein Blick zurück auf Mam oder sonst irgendwas. In einer Minute war sie verschwunden, und es war plötzlich ganz still auf der Lichtung. Morgan konnte den rauen Klang ihres eigenen Atems und den ihres Vaters hören. Ihr war ein bisschen schwindelig.

»Was hast du getan, dass sie so davongestürzt ist?«, rief die Mutter hinter ihr.

»Warum bist du böse auf mich? Ich brülle die Leute nicht an, dass sie schlecht sind und ich ihnen das Herz aus der Brust schneide! Warum schreist du mich an?«

»Du hättest sie nicht reizen sollen«, meinte Pa. »Jetzt ist sie vielleicht wochenlang weg.«

»Oh, das wäre ja schrecklich!«, hörte Morgan sich sagen. Sie konnte nicht mehr an sich halten, ebenso wenig, wie sie ihrem Atem Einhalt gebieten konnte. »Dann würden keine Leute mehr auf den Hügel kommen und uns Lebensmittel bringen. Dann wären die Wellburns nicht mehr berühmt. Ich weiß doch, was los ist. Ich weiß, dass Becky ihre Hände über ein verbranntes Kind hält, und jeder schreit, welch ein Wunder, aber es ist Mam, die dann mit einer Salbe die Verbrennung heilt. Ich weiß, dass Becky sagt, was immer ihr in den Sinn kommt, und dass es Mam ist, die den Leuten erzählt, was es bedeutet. Nichts davon ist echt, und es tut mir nicht Leid, dass ich sie gereizt habe. Es kümmert mich nicht! Ist euch nicht klar, dass in Kürze jeder weiß, was ich weiß?«

»Ich sollte dir den Mund mit Seife auswaschen«, sagte Mam. Und Daddy meinte: »Es kümmert dich nicht, dass du sie verjagt hast? Wenn wir das letzte bisschen Eichhörnchenfleisch essen, wirst du anders tönen.«

Morgan antwortete nicht. Pa machte auf dem Absatz kehrt und ließ sie stehen, und als sie sich umdrehte, war Ma ins Haus gegangen. Kein Trost zu erwarten. Nein, dachte Morgan, ich werde nicht weinen. Ich bin dreizehn, beinahe vierzehn. Es kümmert mich nicht und ich werde nicht weinen.

Geräusche in der Nacht. Leise Männerstimmen. Die hinter ihr her waren. »Du bist ein törichtes Mädchen, du verdienst zu sterben.« Nein, eine andere Stimme. Ihre Ururgroßmutter. »Du solltest lieber wegrennen, sonst stecken sie dir ihr Ding rein und tun dir weh, weh, weh.«

»Tun mir weh, weh«, wimmerte Becky. Sie steht auf und fängt an zu laufen.

»Da! Da drüben! Ich sehe sie! Erkennt ihr das Haar?«

»Schnappen wir sie uns!«

»Hab gehört, sie ist heiß wie ’ne Pistole!«

Kichern. Gelächter. Stiefel, die durchs Unterholz krachen, ihr hinterher.

»Nein, nein, nein!«, ruft Becky. Sie lachen lauter. Ganz nahe.

»Was habe ich dir gesagt? Böse ist, wer Böses tut. Du kriegst nur, was du verdienst«, sagt Ururgroßmutters Geist.

Becky erstarrt. Geisterarme haben sie gepackt, und sie weiß, dass sie sich nicht bewegen kann. Da steht sie, mit dem Rücken an einem Baum, und streitet mit Ururgroßmutter, als sie sie finden. Sie machen es alle. Erst einer, dann der Zweite und dann der Dritte und dann der Vierte. Sie zählt sie, und dann zählt sie, als sie ihre harten Dinger in sie stoßen, zählt und zählt, um nicht zu spüren, was geschieht. Einer von ihnen ohrfeigt sie, sagt, sie solle mit dem verrückten Gerede aufhören, ohrfeigt sie noch einmal. Sie fühlt nichts, nichts, nichts.

»Hör auf, Henry! Warum schlägst du sie?«

»Sie redet wirres Zeug!«

»Ich war noch nicht dran. Du wirst ihr den Spaß verderben!« Sie lachen. Stoßen, stoßen, rammen, rammen. Es tut weh.

»Tut weh, was, du Zaubermädchen? Hast wohl noch nie einen richtigen Mann gehabt!« Lachen und lachen.

Schmerzen und Schmerzen und Schmerzen.

»Siehst du, du dummes Mädchen? Jetzt wirst du ein Baby kriegen«, ruft Ururgroßmutter. »Das Baby des Teufels! Becky kriegt ein Baby vom Teufel!«, ruft Becky zurück.

»Halt mal, Brad. Sie blutet. Ziemlich schlimm ...«

»Verschwinden wir!«

»Hoffentlich hat es dir Spaß gemacht! Erzähl den Engeln, wie gut das Ficken ist!« Lachen. Stiefel, die im Unterholz krachen, und dann nichts. Niemand.

»Troll dich nach Hause und schaff dir das Teufelsbaby vom Hals. Sie haben ihre Mistgabeln in dich gesteckt und dir ein Teufelsbaby gemacht. Du hast genau das gekriegt, was du verdienst! Sieh zu, dass du es loswirst. Ich weiß ... du schneidest dir das Baby gleich aus dem Bauch«, sagt Ururgroßmutter.

Sie hat große Schmerzen. Sie haben ihren Kopf auf den harten Erdboden geknallt. Sie haben sie zu fest gehalten. Sie macht sich auf nach Hause, wie ihr befohlen wurde. Aber erst kriecht sie umher, bis sie es findet. Das Jagdmesser, das sie dort weggenommen hat, wo Pa es aufbewahrt. Und sie sticht auf das Teufelsbaby in ihrem Bauch ein, sticht und sticht, damit es auch sicher stirbt.

Spätnachts, als der sichelförmige Mond hoch am Himmel stand, wachte Morgan plötzlich auf, hellwach und horchend. Aber auf was? Dann hörte sie es: ein Stöhnen, draußen im Wald. Sie erhob sich, tastete sich die Emporenleiter hinab und ging auf Zehenspitzen dorthin, wo die Laternen waren. Sie zündete eine an und schlich auf bloßen Füßen und im Nachthemd hinaus.

Sie entdeckte Becky am Rande des Birkenhains direkt hinter dem Haus, wo sie auf der Erde lag und ihr das Kleid in Fetzen vom Körper hing. Ihre helle Haut glänzte im blassen Mondlicht. Sie umklammerte ihren Bauch. Als Morgan sich bückte, um sie näher anzuschauen, fing sie an zu schreien. Blut strömte aus Beckys Leib.

Mam kam herausgerannt und rief: »Wo bist du? Was ist los?«

»Komm schnell! Bring Verbandszeug mit. Jemand hat auf Becky eingestochen, und sie blutet sich zu Tode!« Morgan schluchzte und weinte, während Pa Becky auflas und ins Haus trug.

Wochenlang lag Becky auf einem Strohsack am Feuer und wurde mit Suppe und Haferschleim mit Belladonna und Schlangenöl gefüttert; Pa sammelte Spinnweben zum Abdecken ihrer Wunden, und Mam linderte mit einem Balsam, den sie aus Ulmenrinde herstellte, und Wegerichpackungen das Schmerzen und Jucken. Becky fieberte, doch allmählich heilten die Stiche und sahen richtig sauber aus. Ihre Augen blieben jedoch geschlossen und sie sprach die ganze Zeit über murmelnd mit ihren Geistern. Aus ihrem wirren Gerede konnten sie sich zusammenreimen, was offensichtlich geschehen war. Eine Gruppe von Männern hatte Becky gefunden und sie einer nach dem anderen vergewaltigt. Morgan, die ihr Leben lang Tiere bei der Paarung gesehen hatte, fragte sich, wieso irgendjemand sich mit Becky paaren wollte. Sie kratzte einen eher, als dass sie guten Tag sagte. Doch es war klar, dass sie das mit ihr gemacht hatten, meinte Daddy. An der Innenseite ihrer Schenkel und auf den Schultern, wo sie sie zu Boden gedrückt hatten, waren blaue Flecken und auf den Beinen befand sich getrocknetes Blut, das ihr heruntergelaufen war. Becky hatte sich, da sie überzeugt war, mit einem Teufel schwanger zu sein, nach Hause geschleppt, Pas Jagdmesser genommen und sich in den Bauch gestochen, um ihn zu töten.

Morgan wurde die Aufgabe übertragen, die Besucher abzuwimmeln. Sie erzählte ihnen, Becky habe einen Unfall gehabt und könne eine Zeit lang niemanden empfangen. Aber sie hörte, dass Mam, nachdem sie in ihr Bett gestiegen war, zu Pa sagte: »Becky ist nicht mehr dieselbe, Todd. Ihre Geister sagen ihr, dass sie sterben muss. Das Kind steht Qualen aus, und ich bezweifle, dass es ihr je wieder besser geht. Wenn wir sie nicht am Bett festbinden würden, wäre sie längst weg. Sie will ständig fort. So, wie sie jetzt ist, erinnert sie mich an Quare Auntie. Und ich weiß nicht, was wir tun sollen, wenn sie so bleibt. Ich weiß es einfach nicht.«

Und siehe da, eines Nachts im März, als alle fest schliefen, schaffte Becky es, sich loszumachen, und verschwand in die Dunkelheit. So sehr sie es auch versuchten, nach ihr riefen, sie kam nicht zurück ins Haus. Morgan dachte eines Morgens, sie sähe Becky hinter einer Eiche. Sie gab keinen Laut von sich. Stattdessen schlich sie ganz leise hinüber, doch sobald sie nahe genug herangekommen war, hörte sie ein Wispern, und als sie hinter den Baum guckte, war da keine Spur von Becky – oder von jemand anderem. Sie fragte sich, ob Becky sich in einen Geist verwandelt hatte. Aber Mam sagte, vielleicht war es nur so, dass Morgan sich so sehr gewünscht hatte, Becky zu finden, dass sie sich eingebildet hatte, sie zu sehen. Vielleicht. Und vielleicht war Becky tot.

Nach wie vor kamen Leute, die sich erkundigten, ob Becky bereit sei, sie zu empfangen, und nach wie vor log Morgan ihnen vor, nein, noch nicht. Sie wollte die Wahrheit sagen, doch Mam und Pa waren dagegen. »Ich denke noch über die Situation nach, Morgan«, sagte ihre Mutter. »Bald werde ich wissen, was zu tun ist.«

Nun, eines Aprilmorgens, als Morgan sich für die Schule fertig machte, rief Mam sie auf die Veranda und meinte, sie müsse mit ihr reden. Sie sagte, Morgan solle sich in den Schaukelstuhl setzen, der Beckys Lieblingsplatz gewesen war. Als Morgan wissen wollte, warum, wurde Mam gereizt und brauste auf: »Tu, was ich dir sage, junge Dame, und hör mit beiden Ohren zu. Was ich mit dir zu besprechen habe, ist nämlich sehr wichtig.«

»Ich komme zu spät zur Schule, Mam.«

»Wichtiger als die Schule, hörst du? Jetzt setz dich!«

Morgan setzte sich, wie befohlen, und faltete die Hände im Schoß, aber innerlich grollte sie. Es war doch nicht nötig, in einem solch scharfen Ton mit ihr zu reden, wo sie den ganzen Herbst und Winter über die meisten Patienten ihrer Mutter übernommen und Arzneien gebraut und Kräuter gesammelt hatte. Für ihre Hausaufgaben hatte sie kaum eine Minute erübrigen können.

Ihre Mutter begann: »Also, Morgan, es gibt gar keinen Grund, wieso wir nicht weiter gute Geschäfte machen sollten, nur weil Becky weg ist. Ich habe nachgedacht und mir ist Folgendes eingefallen: Du wirst hier in dem Schaukelstuhl sitzen und mit den Engeln sprechen und –«

Morgan traute ihren Ohren nicht. »Nein, Ma’am!«, unterbrach sie ihre Mutter mitten im Satz. »Das tue ich nicht! Ich will nicht schauspielern und lügen! Ich habe die Kraft zu heilen, das hast du selber gesagt. Ich bin eine Heilerin, eine echte Heilerin. Gibt es nicht Frauen, die nach Morgan Wellburn fragen und nicht nach Annis? Ja! Und du willst, dass ich in diesem Schaukelstuhl sitze und so tue, als sei ich wie Becky?«

Annis stürzte von der Veranda ins Haus und knallte die Tür hinter sich zu, so laut sie konnte. Dann hörte Morgan den Riegel knarrend einrasten. Ihre Mutter hatte sie ausgesperrt. »Ist mir doch egal!«, schrie sie. »Dann ziehe ich eben zu den Bushnells. Du wirst schon sehen!« Ihre Mutter entriegelte die Tür und meinte: »Du tust, was ich dir sage, und wenn ich dich anbinden muss.«

Das werden wir ja sehen, dachte Morgan. Erst einmal ging sie in die Schule, obgleich sie kaum ein Wort verstand, das der Lehrer von sich gab, so sehr war sie damit beschäftigt zu planen, was sie als Nächstes tun sollte. Und als sie heimkam, stahl sie sich ins Haus, um ihren Medizinbeutel zu holen, und stopfte rasch ihr anderes Kleid hinein. Sie hatte vorgehabt, bei Anbruch der Nacht aus dem Fenster zu steigen, doch dann kam ihr eine bessere Idee. Sie sagte Mam, sie müsse noch Wintergrün suchen, und zog los, quer über die Lichtung. Die letzten Worte, die sie von ihrer Mutter hörte, waren: »Oh, etwas Krebswurzel könnten wir auch noch gebrauchen, Morgan. Und bleib nicht den ganzen Tag fort!«

»Gut, Ma’am!«, rief Morgan. Während sie den Pfad entlangstapfte, dachte sie, wie ungerecht ihre Mutter sei, weil sie immer Becky bevorzugte, auch jetzt noch, da Becky tief in den Wäldern verschwunden war. Je länger Morgan darüber nachsann, desto mehr kam sie zu dem Schluss, dass es womöglich gar keine Geister gab. Und das bedeutete, dass ihre Mutter sie belogen hatte. Das war nicht richtig, einfach nicht richtig. Sie fasste einen Entschluss und ging auf dem vertrauten, gewundenen Weg direkt bergab durch den Wald zu der Stelle am Fluss, wo sie ihren Einbaum versteckten. Pa benutzte das Kanu manchmal zum Fischen, aber er war oben in Glastonbury und jagte Klapperschlangen. Das Boot schaukelte sacht an seiner Vertäuung. Morgan stiegen Tränen in die Augen. Ihren Daddy würde sie bestimmt vermissen und vielleicht auch Mam. Aber es war einfach nicht gerecht.

Sie kletterte in das Kanu und setzte sich hin. Eine Minute oder zwei zögerte sie noch, bis sie sich vorstellte, wie sie in jenem Schaukelstuhl saß und verrückt spielte. Sie band das Kanu los und legte ab. Einen Blick zurückwerfend, sagte sie: »Auf Wiedersehen, ihr alle. Ich weiß nicht, wohin ich gehe, aber hier bleibe ich ganz sicher nicht.« Dann ergriff die Strömung des Flusses das Kanu, und sie hatte keine Zeit mehr, über irgendetwas nachzudenken, sondern war vollauf damit beschäftigt, an den Felsen vorbeizusteuern und aufzupassen, dass sie nicht den Tod fand.

Die Schamanin

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