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7 Juni 1883

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Der kleine Will Bryant, der auf Dr. Graces Untersuchungstisch lag, schrie Zeter und Mordio – und wer wollte es ihm verdenken? Er war einen Baum hochgeklettert, um seine Katze zu retten, und auf einen Ast gekrochen, ohne daran zu denken, dass ein Zweig, der stark genug für eine elfpfündige Katze war, das Gewicht eines Neunjährigen womöglich nicht aushielt. Und so waren sie mit einem gewaltigen Krach alle abgestürzt, Ast, Katze und Retter. Die Katze war davongesprungen, ohne sich auch nur umzublicken, der arme Will dagegen hatte ein gebrochenes Bein und konnte nicht mehr aufstehen. Seine älteren Brüder hatten ihn vor fünf Minuten hereingetragen. Will, weiß wie ein Laken, schrie bei jedem Schritt auf, den sie durch das mit Frauen und Kindern voll gestopfte Wartezimmer gingen.

Morgan kam aus den Praxisräumen – sie war dafür zuständig, die Patienten hereinzubitten – und sah mit einem Blick, dass hier ein Notfall vorlag. Deshalb sagte sie zu den anderen Wartenden: »Ich glaube, wir nehmen Will am besten gleich dran.«

»Mach dir keine Sorgen, Morgan«, meinte Sarah Cromwell, die wegen ihrer allmonatlichen Krämpfe hier war. »Wir können warten. Sieht aus, als sei sein Bein gebrochen, oder?«

»Ja, stimmt.« Manchmal musste man sich fragen, wieso diese Frauen überhaupt einen Arzt aufsuchten. Die meisten von ihnen waren medizinisch selbst recht beschlagen, wenn es sich um nichts allzu Kompliziertes oder Ausgefallenes handelte. Aber sie liebten Dr. Grace; wegen jeder Kleinigkeit kamen sie zu ihr. Ihre Patienten waren überwiegend Frauen und deren Kinder. Schwangere Frauen. Frauen, die schwanger werden wollten. Frauen, die schwanger waren und es nicht sein wollten. Kinder mit gebrochenen Knochen oder schlimmen Wunden an den Füßen, weil sie barfuß herumliefen. Gesunde Babys. Kranke Babys. Es war immer laut im Wartezimmer; man schrie und flüsterte und tratschte.

Sarah Cromwell sagte: »Ich würde ein ganzes Jahr auf Dr. Grace warten. Sie hat mein Leben verändert, wirklich wahr, als sie meinte, der Allopath würde meine Ohnmachtsanfälle vielleicht nicht richtig behandeln. ›Machen Sie die Fenster auf, Sarah‹, sagt Dr. Grace, ›und trinken Sie Rinderbrühe. Sie brauchen was Aufbauendes, nichts, wovon Sie bluten.‹ Und sie marschierte doch tatsächlich runter in meine Küche und bestellte gegrillte Leber und frisches Gemüse für mich. Und schon am nächsten Tag ging es mir besser!« Ein beifälliges Gemurmel erhob sich; das war jedes Mal der Fall, wenn Sarah ihre Geschichte erzählte, also ungefähr jedes Mal, wenn sie die Ärztin aufsuchte. »Anämisch, das war ich nämlich, und durch die viele Bluterei wurde es nur noch schlimmer.«

Eine andere Frau stimmte ein. Sie sei zu einem regulären Doktor gegangen, weil ... nun ja, um die Wahrheit zu sagen, weil alle ihre Freundinnen dort hingingen. Es war wegen ihrer Krämpfe, die in manchen Monaten so stark waren, dass sie nicht mal aus dem Bett kam. Aber nach ein oder zwei Abführungen – »Für Abführungen schwärmen sie besonders, was, Sarah?« – war sie geradewegs zu Dr. Grace zurückgekehrt.

Nun meldete sich die alte Mrs. Foster zu Wort. »Ingwertee ist am besten gegen Krämpfe.«

»Gut und schön, aber altmodisch, Mrs. Foster, wenn ich mal so sagen darf. Miss Morgan hier, die hat mir ihre eigene Medizin gegeben, Krebswurzel nennt sich die, und ich war gleich wieder auf den Beinen. Sie wissen doch, was man über indianische Heiler sagt –«

In diesem Moment rief Dr. Grace nach Morgan, damit diese den kleinen Will festhielt, während sie den gebrochenen Knochen richtete. Morgan war froh darüber. Sie wollte nicht, dass irgendjemand sich zu eingehend erkundigte, wo sie die Heilkunst erlernt hatte, und so vielleicht herausfand, dass sie das Mädchen kannte, das mit den Engeln sprach. Jeder in Chester hatte von Becky gehört, so schien es, obgleich man nicht wusste, wie sie hieß oder wo genau sie lebte. Irgendwo in der Nähe von East Haddam, das war alles, was sie wussten, noch oberhalb von Goodspeed’s Hall. Morgan wollte nicht, dass jemand glaubte, sie besitze Zauberkraft. Die Leute sahen sie eh schon an, als hätte sie etwas Besonderes an sich. Sie wusste, dass sie die Kraft zu heilen hatte, doch das war keine Zauberei. Es war lediglich das, was sie von ihrer Mutter gelernt hatte, und eine natürliche, angeborene Fähigkeit. Die Indianerstämme hatten die meisten ihrer Arzneien seit Ewigkeiten verwendet, das hatte Mam ihr jedenfalls immer erzählt. Die Kräuter und sonstigen Pflanzen, aus denen sie Medizin machte, wuchsen hier überall in der Gegend, und jeder konnte sie sammeln. Aber anscheinend wussten nicht viele, wie sie zu benutzen waren. Sie wandten sich mit ihren Schwierigkeiten lieber an einen Experten.

Morgan hatte Will, als seine Brüder ihn hereinbrachten, sofort etwas gegen seine Schmerzen gegeben. Sehr gut ging es ihm immer noch nicht, doch zumindest hatte sich sein Geheul zu einem Stöhnen abgeschwächt, sodass man wenigstens seine eigenen Gedanken hören konnte. Morgan hockte sich hinter ihn, packte seine Schultern und flüsterte ihm ins Ohr: »Jetzt wird es ein bisschen wehtun, Will. Hier ist ein Stück Leder, darauf kannst du beißen. Dr. Grace ist sehr geschickt darin, Knochen zu richten, das weißt du ja, also wird es ganz schnell gehen. Dann wollen wir mal.« Sie verstärkte ihren Griff und nickte Dr. Grace zu. Einer seiner Brüder hielt Wills Bein oberhalb des Knies. »Halt es jetzt gut fest, Sam«, sagte Dr. Grace, »und dann ziehen wir.«

Während sie das Wort aussprach, tat sie es. Will öffnete den Mund, um vor Schmerzen aufzuschreien, aber Dr. Grace meinte-»Gut so«, und Morgan flüsterte Will zu: »Schon vorbei.«

»Schon vorbei?«, fragte der Junge verblüfft.

»Stimmt genau. Jetzt wird Dr. Grace dein Bein schienen und fest verbinden, dann kannst du heimgehen.«

»Morgan, mach eine Flasche Belladonna-Mixtur zurecht, die kann Will mit nach Hause nehmen.«

»Ich habe gerade welche frisch gemacht«, sagte Morgan und lief zur Vorratskammer, wo sie ein Arzneiregal hatten. Alle Kräuter und sonstigen Pflanzen, die sie benötigte, um das herzustellen, was Mrs. Wainwright nach wie vor »Morgans Gepansche« nannte, stammten aus dem Garten gleich hinter dem Haus. Sie goss eine Portion des Schmerzmittels für Will ab und stöpselte die Flasche fest zu. Ein paar Schlucke davon dürften den Schmerz einschläfern ... und Will ebenfalls.

Als sie aus der Vorratskammer trat, sah Morgan Si Grisham, der eben seiner Mutter aus dem Kutschwagen half. Die arme Mrs. Grisham sah gar nicht gut aus und humpelte. Während sie näher kamen, erkannte Morgan, dass Mrs. Grisham ein großes, entzündetes Mal auf der Wange und ein zugeschwollenes Auge hatte. Morgan wartete einen Moment darauf, vielleicht Silas’ Blick aufzufangen – sie hatten sich in letzter Zeit ziemlich angefreundet –, doch seine Aufmerksamkeit galt ganz seiner Ma. Er runzelte besorgt die Stirn.

Sobald die Bryant-Jungen gegangen waren, wandte Morgan sich an Dr. Grace: »Mrs. Grisham hat sich schon wieder verletzt. Richtig schlimm diesmal.« Dr. Graces Lippen wurden schmal und sie stieß einen scharfen Seufzer aus. »Sie fällt anscheinend ständig die Treppen runter und stößt sich an irgendwelchen Sachen«, fügte Morgan hinzu. Sie fand, dass Amelia Grishams viele Unfälle etwas Merkwürdiges an sich hatten, und wusste, dass Dr. Grace ebenso dachte. Aber trotz all ihrer Anspielungen äußerte sich Dr. Grace nie darüber.

»Ich nehme erst Mary Bardwell dran. Sie kommt bald nieder und ist kerngesund. Das dauert nur eine Minute. Und dann bringst du mir Mrs Grisham.« Während sie den Namen von Silas’ Ma aussprach, wurde ihr Tonfall grimmig. Morgan war neugieriger als je zuvor, folgte jedoch der Anweisung. Als sie Mary Bardwell hereinbat, schenkte die Frau ihr ein strahlendes Lächeln. Morgan hatte es vor fünf Monaten geschafft, eine Fehlgeburt bei ihr zu verhindern. Wieder im Wartezimmer, sagte Morgan: »Mrs Grisham, Sie möchte Dr. Grace als Nächste sehen.« Keine einzige Frau im Raum drehte sich nach der verletzten Frau um, obwohl sie sie alle kannten.

Silas flüsterte seiner Mutter etwas zu und folgte Morgan. »Oh Gott«, sagte er leise. »Diesmal ist sie wirklich schlimm verletzt. Er – sie – ihr Bein ist verrenkt. Es ist unter ihrem Rock ganz geschwollen. Das weiß ich, weil ich den einen Stiefel nicht über den Fuß gekriegt habe. Sie trägt einen Hauspantoffel.«

»Warte, bis ich sie zu Dr. Grace bringe«, sagte Morgan, gegen den Drang ankämpfend, ihm die Hand auf den Arm zu legen, gegen den noch stärkeren Drang ankämpfend, ihn in die Arme zu schließen und zu trösten. Sie war heimlich verliebt in Silas Grisham, aber sie würde sterben, wenn er davon erfuhr. Sie hatten sich auf einer Wiese getroffen, wo sie nachsehen wollte, welche Pflanzen in der Gegend von Chester wuchsen. Silas war an jenem Tag auf der Suche nach Fossilien gewesen. Er schwärmte einfach für Naturgeschichte, erzählte er ihr. Er studierte in Deep River Jura bei Richter Jenkins, weil sein Vater meinte, er solle Rechtsanwalt werden, statt am Amboss zu stehen. Jered Grisham war der Hufschmied des Ortes. Aber Si war gar nicht erpicht auf die Juristerei, verriet er ihr; viel lieber würde er das tun, was sie tat: herausfinden, welche Pflanzen wofür gut waren, kleine Zeichnungen von ihnen anfertigen und sie beschreiben, damit man sie wieder erkennen konnte. In Wahrheit wünschte er sich eigentlich, um die Welt zu reisen und Pflanzen und Tiere zu entdecken, die in Connecticut noch nie jemand gesehen hatte. Wie Charles Darwin, sagte er, und sie hatte zustimmend genickt, obgleich sie keine Ahnung hatte, wer Mr Darwin war.

Morgan fand Silas wunderbar, so anders als die anderen jungen Männer, die bloß ihre Muskeln spielen ließen und angaben und überhaupt nichts im Kopf hatten. Sie hoffte, er würde berühmt werden und viele neue Pflanzen entdecken.

Jetzt sah sie, dass Mary Bardwell ging. »Bringen wir deine Ma zu Dr. Grace, Silas. Und dann gehen wir in die Küche. Du siehst ein bisschen krank aus. Ich geb dir was, um dein Blut zu stärken.«

»Hast du nicht was, das einem Mann den Mut stärkt, Morgan?«, fragte er verbittert. »Ach, egal, vergiss, was ich gesagt habe. Ich bringe Ma rein, dann treffen wir uns in der Küche.«

Mrs. Wainwright war heimgegangen, um ihrem Mann Essen zu kochen, deshalb hatten sie die ganze Küche für sich. Morgan machte Silas eine Rinderbrühe, an der er ohne Appetit nippte. Schließlich setzte er sie mit einem Knall auf dem Holztisch ab.

»Ich bin siebzehn, Morgan!«, verkündete er, als wüsste sie das nicht bereits. »Siebzehn. Ein erwachsener Mann. Ich sollte doch in der Lage sein – ich müsste – wieso kann ich nicht –« Er hielt inne und hieb mit der Faust auf den Tisch.

»Silas, was ist los? Ich habe dich noch nie so verstört erlebt.«

»Ich kann es dir nicht sagen. Ich möchte ja, aber ich kann nicht.« Er begann, in der großen Küche auf und ab zu laufen, die Hände in den Hosentaschen vergraben. Während Morgan ihn beobachtete, war sie zwischen Sorge und Bewunderung hin- und hergerissen. Er war der bestaussehende Junge, den sie kannte: groß und schlank mit einem hageren, interessanten Gesicht, tief liegenden Augen, deren Winkel sich kräuselten, wenn er lächelte, und seidigen, dunklen Haaren mit einer Locke, die ihm immer über das eine Auge fiel. Er hatte die Angewohnheit, den Kopf ein wenig zurückzuwerfen, damit das Haar ihm nicht mehr in die Stirn hing, doch nach einer Minute war es stets wieder am alten Platz. Meistens trug er eine Brille, und manche neckten ihn, indem sie ihn Vierauge nannten. Das erzürnte Morgan; es erinnerte sie an die Beschimpfungen, die sie ihr Leben lang erdulden musste. Aber Silas meinte, es berühre ihn nicht. »Ich habe schon vor langer Zeit gelernt, meine Gefühle für mich zu behalten. So kann mich wenigstens niemand verletzen.« Nun, im Moment verbarg er sie nicht.

»Was immer es ist, Si, du weißt, dass ich es keinem erzähle.«

»Das weiß ich. Es ist nicht so –« Er tat einen tiefen Atemzug, der voller Qual war. »Oh Gott, Morgan, er verprügelt sie ständig. Immer wieder schlägt er sie, und sie kriecht vor ihm und bittet ihn um Verzeihung! Es ist so schrecklich, Morgan. Diesmal hat er sie doch tatsächlich die Kellertreppe runtergeworfen. Ich bin auf ihn los. Aber er hat mich einfach hochgehoben, als wäre ich ein Kätzchen –« Silas’ Stimme brach, und er wandte, hörbar schluckend, den Kopf ab,«- und gesagt: ›Pass auf, was du tust, Junge, oder du bist als Nächster dran.‹ Dann ließ er mich fallen, Morgan. Mein eigener Vater ließ mich fallen, als wäre ich ein Stück Müll, und lachte mich aus. Ich hätte mir einen Feuerbock aus dem Kamin gegriffen und ihn damit geschlagen, aber die arme Ma rief, sie könne nicht aufstehen. Ihr Bein war verrenkt. Ich musste mich um sie kümmern, ich musste!«

Morgan packte ihn bei den Armen. »Natürlich musstest du das. Natürlich!« Er sah aus, als würde er gleich hier auf Mrs. Wainwrights sauberem Küchenfußboden zusammenbrechen. »Du hast das Richtige getan, Silas, und jetzt kümmert sich Dr. Grace um sie.« »Was nützt das schon? Er verprügelt sie jedes Mal, wenn er ungehalten ist. ›Ungehalten‹, so nennt er das. Alles Mögliche kann ihn aufbringen. Wenn das Fleisch nicht ganz durchgebraten ist oder sie ihn ›komisch anguckt‹. Und wenn sie schwanger ist, wird er noch wüster.« Si beugte den Kopf, doch sie sah Tränen in seinen Augen. »Ich glaube, ihre Fehlgeburten kommen daher, dass er sie so herumstößt. Er ist ein Vieh, Morgan, und ich hätte ihn umbringen sollen. Dann könnte er ihr nie wieder wehtun!«

»So was darfst du gar nicht denken, Si.« Morgan war entsetzt, wenn auch, ehrlich gesagt, nicht allzu überrascht. Amelia Grisham hatte bei weitem zu viele »Unfälle«. Sie behauptete immer, es liege an ihrer Unbeholfenheit. Niemand auf der ganzen Welt, dachte Morgan, konnte derartig unbeholfen sein. Morgan wusste auch, dass Mrs Grisham im Laufe der Jahre mehrere Fehlgeburten gehabt hatte. Jeder wusste das. Silas war ein Einzelkind, und jeder in der Stadt hatte Jered Grisham poltern hören, das sei aber mal eine armselige Sorte Frau, die anscheinend kein Baby austragen konnte. »Hat er dich je ... du weißt schon ... geschlagen?«, fragte sie Silas.

Er ließ die Schultern hängen. »Ja«, sagte er. »Und hast du zurückgeschlagen?«

»Einmal. Einmal habe ich einen Eimer nach ihm geworfen – ihn sogar getroffen –, da hat er mich tüchtig vermöbelt. Ich war zehn, und Dr. Grace kam zu uns, um mich zu verarzten. Er begrüßte sie und schüttelte ihr die Hand und erzählte ihr, eine Bande von Jungens habe sich auf mich gestürzt, ohne irgendeinen Grund, nur weil ich eine Brille trug. Ich entsinne mich, wie sie sehr laut sagte, dann solle man vielleicht den Wachtmeister rufen und ihm die Namen der Jungen nennen. Na ja, Pa stotterte ein, zwei Minuten rum, bis Dr. Grace aufstand, ihn anschaute und meinte: ›Jered, hören Sie mir gut zu, denn ich sage Ihnen dies nur ein einziges Mal. Ich möchte den Jungen nie wieder in diesem Zustand sehen, verstehen Sie mich? Falls doch, müsste die Sache nämlich womöglich einem Richter in Hartford oder Middletown übergeben werden. Wissen Sie, was ich meine?‹ Und Pa sagte: ›Sie denken, Sie können so mit mir reden, weil Sie Ärztin sind.‹ Und sie sagte:›Und Sie wissen doch, dass einer Ärztin immer geglaubt wird. Stimmt’s nicht, Jered?‹ Seitdem hat er mich in Ruhe gelassen. Aber ich wünschte, er wäre hinter mir her statt ständig hinter Ma. Sie hält es nicht mehr aus! Und ich auch nicht!«

»Es gibt eine Menge Männer, die so sind, Silas. Dein Pa ist nicht der einzige. Meine Mam ... sie war Heilerin, weißt du ... sie hatte drei oder vier Patientinnen, deren Männer sie misshandelten. Sie sagte ihnen immer, sie sollten sie verlassen, die Kinder nehmen und sich oben im Wald verstecken. Wie unsere Familie.«

»Deine Familie hat sich im Wald versteck? Warum?«

Ach, du liebe Güte. Sie hatte es stets sorgfältig vermieden, über ihre Herkunft zu sprechen, und nun plapperte sie so drauflos.

»Das ist eine lange Geschichte. Ich erzähle sie dir nächstes Mal.«

»Aber –«

»Aber jetzt müssen wir an deine Ma denken. Warum geht sie nicht fort?«

»Ich weiß es nicht!« Seine Hände waren zu Fäusten geballt. »Ich habe immer wieder darüber nachgedacht und komme nicht dahinter. Sie sagt dauernd, ich solle fortgehen.«

»Wieso tust du es nicht?« Ihr Herz fing an, heftig zu klopfen. Wenn er Chester verließe, würde sie sterben.

Er schaute sie entsetzt an. »Und sie mit ihm allein lassen? Das könnte ich nicht!«

»Deine Mutter ist nicht so hilflos, wie du vielleicht denkst ...«, sagte Morgan nach einer Weile. Dann erzählte sie ihm, was Dr. Grace ihr erzählt hatte.

Amelia Grisham ließ sich rezeptfreie Abortivmittel schicken, die sie nach Anzeigen in der Zeitung bestellte. Regulativ der Weiblichkeit. Menstruationstropfen. Der Freund jeder Frau. Gravid-Pillen gegen Amenorrhoe. »›Obgleich vollkommen harmlos auch für die Zartesten, sind Damen dringend aufgefordert, ihren Zustand nicht falsch einzuschätzen, da FEHLGEBURT DIE SICHERE FOLGE WÄRE‹«, zitierte Morgan. »Sie dürfen nicht offen sagen, wofür die Pillen sind, weißt du. Abtreibungen sind nämlich verboten, das meint jedenfalls Dr. Grace. Diese Frau, die da draußen auf dem Lande bei Killingworth wohnte, die nahm Abtreibungen vor, und jeder wusste es. Dann ist ein Mädchen gestorben, und sie wurde verhaftet und in Hartford vor Gericht gestellt.«

»Nun ja, wenn Gott ein Baby macht, sollten wir vielleicht nicht dazwischenfunken«, sagte Silas.

Was für Unschuldslämmer Männer doch waren, dachte Morgan. »Du hast ja keine Ahnung«, erklärte sie geduldig, »wie viele Damen in aller Stille ihrer Schwangerschaft ein Ende machen – und wie oft. Dr. Grace meint, sie würde wetten, dass auf zehn Lebendgeburten mindestens eine Abtreibung kommt, nur hier in der Gegend. Dr. Grace sagt, deine Mutter habe sogar mal ein Abtreibungsinstrument bestellt, aber da hat Dr. Grace sie ausgeschimpft. Sie hätte sich damit umbringen können, weißt du. Glaubst du, sie hätte es weggeworfen? O nein, sie hat es einer anderen Frau gegeben. Die mächtig froh darüber war, sollte ich wohl hinzufügen.«

»Also gut, sie beendet ihre Schwangerschaften selbst. Aber was soll ich unternehmen wegen ... ihm? Was kann man überhaupt unternehmen?«, stöhnte Silas und vergrub den Kopf in seinen Händen.

»Mach dir keine Sorgen, wir denken uns schon was aus«, besänftigte Morgan ihn. Eine Idee begann, in ihrem Kopf Gestalt anzunehmen.

Nach dem Ende der Sprechstunden, gegen drei Uhr nachmittags, setzte Dr. Grace ihre Haube auf, zog ihre Handschuhe an und verkündete, sie fahre ein wenig mit dem Buggy spazieren. »Ich bin vor dem Abendessen zurück«, sagte sie. Etwas an ihrem Gesichtsausdruck veranlasste Morgan, keine Fragen zu stellen, doch sie war ziemlich sicher, dass die Sache was mit Silas’ Mutter zu tun hatte.

Es war fast dunkel, als Silas zu Morgan zurückkehrte. Er sei zu Fuß gelaufen, berichtete er, weil sein Vater ihr Pferd gesattelt habe und Gott weiß wohin galoppiert sei. Sie war außer Atem und noch erregter als vorher.

»Dr. Grace hat versucht, ihn zur Vernunft zu bringen. Sie hat ihn heute Nachmittag in der Schmiede aufgesucht, und ich nehme an, sie hat ihm die Hölle heiß gemacht. Als er nämlich zum Abendessen heimkam, war er in Rage. Er packte Ma und verdrehte ihr den Arm hinter dem Rücken, so heftig, dass ich was knacksen hörte. Sie musste ihm versprechen, nie wieder zu ›dieser so genannten Ärztin‹ zu gehen. Ich sah, dass er ihr den Arm gebrochen hatte, deshalb fragte ich, als er fortgehen wollte: ›Was ist mit dem gebrochenen Arm, Pa? Du kannst sie doch nicht mit einem gebrochenen Arm allein lassen!‹ ›Ach nein? Wer soll mich daran hindern? Sie hat genau das bekommen, was sie verdient, weil sie diese alte Jungfer, diese Quacksalberin, gegen mich aufgehetzt hat!‹ Und dann sagte er: ›Bei Gott, du wirst zu einem richtigen Arzt gehen‹ – entschuldige, Morgan, aber das waren seine Worte – ›zu Wissenschaftlern, die wissen, was ein Mann von den Weibern erdulden muss!‹ Und weg war er.«

Dr. Grace schnaubte immer, wenn jemand die angeblich wissenschaftliche Medizin erwähnte. »Seit wann«, sagte sie gern, »ist das Heilen eine Ware, die man je nach der ›Menge‹ des Heilens in Rechnung stellt? Der reinste Unsinn! Entweder dem Patienten geht es besser oder nicht.« Sie verabscheute den Gedanken, dass ein Arzt umso mehr Geld verlangen konnte, je mehr er verordnete. »Das ist die so genannte Radikalmethode, Morgan, und die hat mir nie eingeleuchtet. Sie verwenden einfach das stärkste Mittel, das sie in die Finger kriegen, und weißt du, was das ist? Kalomel! Während des Großen Krieges müssen sie hundert Tonnen Kalomel verbraucht haben – große Dosen für akute Fälle, kleine Dosen für chronische. Ganz egal, wie der einzelne Fall lag!« Mittlerweile war Dr. Grace dann immer ganz rot im Gesicht geworden. »Es gibt nur ein Problem bei Kalomel«, sagte sie verbittert. »Es bringt die Leute um!« Nein, Dr. Grace hielt nicht viel von der wissenschaftlichen Medizin, und als Quacksalberin bezeichnet zu werden, gefiel ihr noch weniger.

Nun, vielleicht würde Jered Grisham seine Frau morgen zwingen, einen »richtigen« Doktor aufzusuchen, doch heute Abend konnte ihr zumindest jemand helfen, dem sie nicht gleichgültig war. Morgan erhob sich aus dem Schaukelstuhl, um ihren Medizinbeutel zu holen. »Ich werde den Arm deiner Mutter richten.«

»Nein, bloß nicht; wenn er nun zurückkommt? Ich würde es mir nie verzeihen«, meinte er, nach ihrer Hand greifend, »wenn dir meinetwegen etwas passiert.« Wie ihr Herz bei diesen Worten hüpfte! »Sag mir, was ich tun soll, dann tue ich es, damit ihr Arm in Ordnung kommt. Morgen, wenn er weg ist, kannst du sie vielleicht besuchen.«

»Natürlich.« Sie erklärte ihm langsam und deutlich, wie er den Arm richten und verbinden musste, damit er nicht krumm zusammenwuchs. Dann gab sie ihm ein Fläschchen mit einem Schmerzmittel. »Aber bevor du anfängst, lass sie einen tüchtigen Schluck Whisky trinken. Und sag ihr, dass ich gleich morgen früh rüberkomme.«

Am nächsten Tag stand Morgan munter und zeitig an der Hintertür der Grishams. Sie wusste, dass der Schmied bei Tagesanbruch in seine Werkstatt ging, um seine Feuer zu schüren. Schon bald würden die Farmer ihm dann ihre Pferde zum Beschlagen und ihre Werkzeuge zum Reparieren bringen. Später waren es die Hausfrauen mit Töpfen und Pfannen, die geflickt werden mussten, oder mit einem Auftrag für einen Eisenhaken. Bis zur Mittagszeit, wenn sie längst fort wäre, würde er beschäftigt sein.

Silas’ Ma hatte Todesangst; das war klar zu erkennen. Immer wieder schaute sie sich um, um sich zu vergewissern, dass ihr Mann nicht zur Hintertür hereingeschlichen kam. Sie erzählte Morgan, dass sie ihm gesagt hatte, sie würde nie in eine Männerpraxis gehen. »Na gut, wenn du nicht zu einem Allopathen gehen willst, behandelst du dich verdammt noch mal mit Pillen aus dem Laden«, hatte er gemeint. »Ich weiß, wie sehr Dr. Grace diese Art von Medikamenten hasst«, sagte Mrs. Grisham zu Morgan. »Aber was soll ich machen? Wenn er bestimmt: keine Dr. Grace mehr, dann wird es eben keine Dr. Grace mehr für mich geben.« Tränen rannen ihr aus den Augen.

Während Amelia redete, untersuchte Morgan den Arm, um sicherzugehen, dass er richtig heilen würde. Silas hatte gute Arbeit geleistet, und das sagte sie seiner Mutter auch. »Hör zu, Morgan«, sagte Mrs. Grisham, immer noch weinend, »bitte erzähl niemandem davon. Und versuche nicht, das Gesetz zu bemühen. Du siehst ja, was geschieht, wenn jemand helfen will. Für mich gibt es keine Hilfe. Anscheinend kann ich nichts richtig machen. Ich weiß nicht, wieso. Als kleines Mädchen war ich ganz fix, habe meine Buchstaben schneller gelernt als sonst wer in der Klasse. Aber jetzt ... ich weiß einfach nicht ... anscheinend kann ich mich auf nichts mehr konzentrieren.«

Morgan meinte: »Mit Ihrer Konzentration ist alles in Ordnung, Mrs. Grisham, wirklich. Achten Sie nicht auf das, was Ihr Mann sagt. Er versucht nur, Sie dazu zu bringen, dass Sie an Ihrem eigenen Verstand zweifeln. Also ...« Sie hielt inne. Konnte sie dieser Frau trauen? Mrs. Grisham war aufgeweckt und freundlich, doch ihrem Ehemann gegenüber wurde sie hilflos und verängstigt. Trotzdem ... sie war eine intelligente Frau. Morgan wusste, dass sie Lehrerin gewesen war, bevor Jered Grisham ihr so rasant und mitreißend den Hof gemacht hatte. Sie war nach wie vor hübsch, wenn sie auch reichlich spitz und verhärmt aussah. Nun, sie war Silas’ Mutter, und Morgan hätte alles dafür getan, dass Silas noch einmal ihre Hand nahm und sie zärtlich anlächelte.

»Hören Sie, Mrs. Grisham. In meiner Familie gibt es viele Schamanen, viele Hexen. Und ich habe einen Talisman, ein Amulett ...« Sie langte unter ihre Bluse. »Es ist seit Ewigkeiten im Besitz meiner Familie. Es hat magische Kräfte. Eine meiner Urururgroßmütter war eine moigu – das ist das indianische Wort für Zauberdoktor –, und ihr gehörte dieses Amulett.« Sie senkte die Stimme. »Ich kann damit einen Menschen aufspüren. Ich kenne die Beschwörungsformeln. Ich weiß, wie man aus indianischem Tabak eine Opfergabe macht ... Er wächst hier in der Gegend, wissen Sie. Ich könnte ihn an einen geheimen Ort bringen, ein bisschen davon verbrennen und ihn verfluchen. Ihren Mann.« Mrs. Grisham wurde noch blasser und griff nach Morgans Hand, um sie zu umklammern, doch sie sagte kein Wort.

»Oder«, vertraute Morgan Silas’ Ma an, während diese ihr, kaum atmend, in die Augen starrte, »ich kann etwas Graberde holen und hierher bringen. Oder Sie geben mir etwas, das er direkt auf der Haut trägt, und ich bringe es auf den Friedhof. Das ist wohl am einfachsten. Ein Nachthemd vielleicht.«

Mrs. Grisham sah einen Moment lang entsetzt aus und dann so hoffnungsvoll, das es Herz zerbrechend war. Plötzlich aber verschloss sich ihr Gesicht und wurde völlig ausdruckslos, als der Klang von Schritten zu hören war.

»Entschuldige mich«, flüsterte sie. Sie erhob sich von ihrem Stuhl und begann, sich emsig mit der Vorbereitung des Essens für ihren Mann zu beschäftigen, obwohl es noch längst nicht Mittagessenzeit war. Morgan hatte großes Mitleid mit ihr.

Als der Schmied ins Zimmer trat, war sie beeindruckt davon, wie massig der Mann war. Er hatte schwellende Muskeln und dieselben tief liegenden Augen wie Silas, nur dass seine hinterhältig wie die einer Schlange dreinschauten.

»Und wer bist du?«, fragte er, sie dreist von Kopf bis Fuß taxierend.

»Eine Freundin von Silas aus der Stadt, Mr. Grisham.«

»Ganz schön groß für eine Frau, wie? Wo ist Silas denn?«

»Bei Richter Jenkins, Jered, wie immer um diese Tageszeit«, sagte Mrs. Grisham.

»Gut, gut.« Der würde keinen falschen Ton von sich geben, dachte Morgan. Vielleicht glaubte er, sie würde gleich gehen. Na, das würde sie nicht. Sie hatte das Gefühl, dass Amelia, sobald sich die Tür hinter ihr geschlossen hätte, seine große, fleischige Hand zu spüren kriegen würde. Morgan juckte es, seinen dicken Hals zwischen die Finger zu bekommen. »Ich bin nur vorbeigekommen, um mich zu vergewissern, dass meine kleine Amelia auf dem Weg der Besserung ist.« Er griff nach ihrem Arm und drückte ihn, sodass sie aufjaulte vor Schmerz. »Geht ihr noch nicht so gut, wie ich sehe«, sagte er. »Vielleicht hörst du auf mich und gehst nächstes Mal zu einem richtigen Doktor.« Mit falschem Lächeln wandte er sich Morgan zu. »Sie ist die tollpatschigste Frau weit und breit, das schwöre ich. Fällt schon um, wenn man nur Pieps sagt.«

Morgan verzog keine Miene, obwohl es sie so sehr gelüstete, ihn zu töten, dass sie schmeckte, wie ihr eine Mischung aus Blut und Galle in die Kehle stieg. Es war erschreckend.

Rasch entschuldigte sie sich und ging. Ihr Plan hatte jetzt endgültige Gestalt angenommen. Auf dem Weg nach draußen trat sie an die Wäscheleine und nahm ein weites Hemd ab. Sie wusste, dass es seins war, nicht nur aufgrund der Größe, sondern auch, weil es Tausende von winzigen Brandspuren aufwies – von der Esse wahrscheinlich. Sie rollte das Hemd zusammen und klemmte es sich unter den Arm. Sie würde es auf den Friedhof bringen, ohne irgendjemandem etwas zu sagen. Sie würde Jered Grisham mit einem Fluch belegen, den er so bald nicht vergessen sollte!

Die Schamanin

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