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Szene XII
ОглавлениеD'Artagnan war nicht zum Hôtel de Tréville zurückgekehrt. Die unverhoffte Begegnung mit dem Stallmeister Seiner Eminenz und dessen scheinbar freimütig daher gesagten Abschiedsworte, ihn im Auge zu behalten, hatten den ohnehin schon gereizten Leutnant nicht gerade beruhigen können. Ohne noch ein überflüssiges Wort an Rochefort zu verschwenden, war d'Artagnan die Rue Tiquetonne hinunter gestapft, einige Male in verschiedene Richtungen abgebogen und dabei bestimmt mehrmals wieder in derselben Straße gelandet. Schließlich hatte d'Artagnan, mehr oder weniger zufällig und durch den langen Spaziergang im Mütchen abgekühlt, wieder die Rue des Fossoyeurs erreicht.
In der Ferne dämmerte es bereits. Die Sonne tauchte jetzt jeden Tag etwas früher die Dächer der Stadt in rötliches Zwielicht. Man spürte deutlich, dass der Herbst begann dem Winter zu weichen. Im Oktober wollte noch niemand so recht an die kalten und stillen Monate denken, die bald folgen sollten. Und doch riefen die ersten Vorboten der dunklen Jahreszeit eine merkwürdige Stimmung bei den Menschen hervor; So veranlasste der Anblick einer halb im Schatten, halb im Licht liegenden, sehr verlassen wirkenden Rue des Fossoyeurs einen sonst eher selten schwermütig gestimmten Leutnant der Musketiere dazu, stehen zu bleiben und zu – warten.
Worauf, das hätte niemand sagen können. D'Artagnan stand einfach nur da und betrachtete die Straße im Halbdunkel, in dem plötzlich alles blass und seltsam falsch erschien. Die Häuser rückten enger zusammen, nur eine schmale Gasse blieb frei, in der lange Schatten über alles fielen, was sich in ihr befand, während die Dächer jedoch im roten Licht leuchteten, als stünden sie in Flammen. Farben und Formen bedeckten sich und täuschten so über ihre wahre Beschaffenheit hinweg. Sie betrogen die Sinne durch ein Schauspiel natürlicher Art. Obwohl der Verstand wissen musste, dass er getäuscht wurde, verließ er sich auf die Augen, die sich bereitwillig vorgaukeln ließen, der Stein dort hinten sei ein kauerndes Tier oder die Schnitzerei da vorne über einem Eingang zeige ein fratzenhaftes Gesicht. Wie leicht ein Mensch auf ein wenig Maskerade hereinfiel, wenn er nicht um die wahre Natur einer Sache wusste!
D'Artagnan schüttelte über die eigenen Gedanken den Kopf und doch bewirkte die eigenartige Atmosphäre nun, dass der Leutnant sich auf die Stufen vor der Mansardenwohnung setzte und weiterhin grübelte. Im Hauptquartier erwartete man d'Artagnan eigentlich seit Stunden zurück. Doch dort gab es nichts zu tun, solange Monsieur de Tréville es vorzog sich in sein Kabinett ein- und alle anderen auszuschließen. Was blieb seinem Leutnant da noch für eine Aufgabe? Tréville wollte anscheinend nur die tägliche Routine erledigt wissen, ansonsten verzichtete er auf jede Unterstützung. Traute der Hauptmann seinen Untergebenen nicht zu, etwas ausrichten zu können? Wenn die Sache allein persönlicher Natur war, wurde sie nicht in dem Moment auch zur Angelegenheit der ganzen Kompanie, sobald sie den normalen Dienst beeinträchtigte?
D'Artagnan war um Monsieur de Tréville besorgt, aber auch dem Wohl des gesamten Musketierkorps verpflichtet und das schien wegen der vielen Gerüchte und Spekulationen inzwischen gefährdet. Man spottete schon in anderen Einheiten, sodass sich inzwischen selbst ein Monsieur des Essarts gezwungen sah, einzuschreiten. Diese Gerüchte kamen nicht von ungefähr und sie wären für Viele weit weniger interessant gewesen, wenn wenigstens die Personen, über die man sprach, gewusst hätten, was das alles zu bedeuten hatte. Rocheforts Auftritt war dringliche Warnung genug, der Kardinal hatte Lunte gerochen.
Fröstelnd zog d'Artagnan den Mantel fester um die Schultern. Ein frischer Wind war aufgekommen und fegte in Stößen die Straße hinunter, verfing sich in einem Dachwimpel, raschelte an einem Grasbüschel und klopfte die Fensterläden an die Wände. Die Sonne stand tief und berührte nur noch schwach die Eckhäuser, während die Schatten mit jedem Augenblick dunkler wurden.
Ein letzter Gedanke ließ sich nicht länger ignorieren: Monsieur de Tréville vertraute seinem Leutnant schlicht nicht. D'Artagnan hatte vor wenigen Stunden noch selbst bestätigt, dass Kardinal Richelieu ihn erst zum Musketier und dann zum Offizier der Einheit gemacht hatte. Wie konnte der Hauptmann über diese Tatsachen hinwegsehen und sie einfach vergessen? Und war es nicht angeblich der Vorschlag des Ersten Ministers gewesen, bei den Kompanien zu sparen, um die Staatskassen zu schonen?
Kein Verrat! D'Artagnan könnte niemals für ein Leutnantspatent den Mann hintergehen, der damals trotz mangelnden Empfehlungsschreibens dem übermütigen Gascogner geglaubt hatte, der nach dem Duell am Karmeliterkloster ein gutes Wort vorm König eingelegt hatte, der auch in der Sache mit den Diamantnadeln unterstützt hatte, obwohl es vielleicht besser gewesen wäre, blind und taub demgegenüber zu sein! Tréville hatte d'Artagnan immer protegiert und schließlich vorbehaltlos als Musketier akzeptiert. Trotzdem wollte sich ausgerechnet jetzt Misstrauen einschleichen und auch das letzte Aufeinandertreffen der beiden Offiziere hätte beinahe in einer heftigen Auseinandersetzung geendet, wäre nicht des Essarts dazwischengetreten.
Der Hauptmann der Gardisten musste über die Vorgänge der letzten Zeit ebenso in Sorge sein. Dennoch blieb er völlig gelassen und es schien so, als beunruhigten ihn angebliche Sparpläne nicht weiter. Wahrscheinlich bereitete des Essarts das auffällige Verhalten seines Schwagers weit mehr Kopfzerbrechen. Fürchtete er, dass Tréville etwas unternehmen könnte, was zur Auflösung einer Kompanie überhaupt erst berechtigen würde? Doch was konnte d'Artagnan tun? Die Antwort war einfach: Nichts. Nichts, solange Tréville seinen Leutnant nicht ins Vertrauen ziehen wollte.
Die Sonne war nun gänzlich untergegangen und die Straße in kaltes, fahles Mondlicht getaucht. Nicht mehr als Schemen und Umrisse waren noch zu erkennen und eine lebhafte Vorstellungskraft konnte in den Schatten neue Details entdecken, die dem Auge zuvor verborgen geblieben waren. Die Schnitzerei, das fratzenhafte Gesicht, gewann an Konturen; Augenbrauen, Wangenknochen, ein ausgeprägtes Kinn unter dem grinsenden Mund, der große, weiße Zähne enthüllte. Der Stein, das kauernde Tier, schien jetzt einer fauchenden Katze zu ähneln, die sich zum Sprung bereit machte. Wollte sie angreifen oder weglaufen? Wovor hatte sie Angst? Oder war sie wütend? Nein, das alles waren nur Täuschungen! Wenn man genau hinsah, so musste man erkennen, was diese Dinge eigentlich waren. Nur ein Schild und ein Stein. Es war schwer, es zu übersehen oder zu leugnen, gleich wie perfekt sie ihre neuen Rollen spielten.
'Weil es diesen Leutnant gar nicht geben dürfte!' Das hatte d'Artagnan gestern Aramis entgegengeworfen. Es waren Worte, die alles einfacher und gleichzeitig schwieriger machten. Aber es gab diesen Leutnant nun einmal und nur die eigenen Zweifel verhinderten, dass er seiner Aufgabe so nachkam wie er es eigentlich sollte. Es waren nicht die anderen, die d'Artagnan misstrauten - d'Artagnan misstraute den anderen. 'Ihr solltet es ihm sagen!' hatte Aramis verlangt. D'Artagnan begriff in diesem Moment, auf der Treppe vor der eigenen Wohnung sitzend und gedankenverloren einen Stein an der gegenüberliegenden Hauswand anstarrend, dass Aramis recht hatte. Auch Athos, auch dieser Freund musste endlich alles erfahren.
Jetzt. D'Artagnan stand sofort auf, um sich nicht doch noch anders zu entscheiden. Athos' Wohnung war nur eine Gasse weit entfernt, eine schnelle Verbindung zwischen der Rue des Fossoyeurs und der Rue Ferou. Noch nie war d'Artagnan dieser Weg so kurz vorgekommen und zugleich so endlos. Innerhalb weniger Augenblicke erreichte der Leutnant die Straße und noch einige Schritte später die Tür zu Athos' Wohnung. Der Graf musste zu Hause sein, denn aus den Fenstern fiel Licht. D'Artagnan klopfte zögerlich an. Schritte hinter der Tür bewiesen, dass man das leise Klopfen gehört hatte. Nicht Grimaud, der brave Diener, sondern Athos selbst öffnete und stellte mit einem raschen Blick fest, dass d'Artagnan allein gekommen war. Bevor ihn ganz der Mut verließ, räusperte sich der Leutnant. „Athos. Ich muss-“ Die helle Stimme einer Frau schnitt ihm mit deutlicher Empörung das Wort ab: „Nein, Monsieur! Nein!“
Vielleicht war es doch keine so gute Idee gewesen, herzukommen. D'Artagnan hatte gerade Madame Chesnay gehört, die zweifellos in Rage geraten war. Allein das war schon recht ungewöhnlich, denn Catherine war eine Frau, die sich eher selten aus der Ruhe bringen ließ. Man lernte Geduld, wenn man einen Soldaten beherbergte, der ständig in irgendwelche Scherereien verwickelt war und diese auch schon einmal mit nach Hause brachte. Dazu zählten laute Freunde, die ausgiebig lachten und tranken, laute Feinde, die zornig an die Tür pochten und zurechtgestutzt wieder abzogen, laute Ärzte, die sich über den Ungehorsam ihres Patienten beklagten und ähnliche, manchmal recht lästige Dinge. Madame Chesnay blieb immer freundlich und zeigte mit ihrer ganzen Liebenswürdigkeit, wann ein Fest, ein Streit oder ein Besuch beendet waren. Laut musste sie nicht werden, um ungebetene Gäste hinauszuwerfen oder einen allzu fröhlichen Abend zu beenden. Es genügten verschränkte Arme und ein strenger Blick. Catherine war sehr geduldig mit ihrem Mieter und resolut genug, eine unausgesprochene Hausordnung bewahrt zu wissen. Wenn sie jetzt so deutliche Worte rief, dann musste schon etwas außergewöhnliches vorgefallen sein.
Madame Chesnay drängte sich an Athos vorbei, stemmte die Hände in die Hüfte und musterte scharf den Leutnant vor sich. Eine reizende Zornesröte lag auf ihren Wangen und ließ die noch nicht dreißig Jahre zählende und schon verwitwete Frau ebenso entschlossen wie schön wirken. Ihre Augen funkelten und verrieten, dass es ratsam war, nun besser nicht zu widersprechen, sondern den Sturm vorbeiziehen zu lassen, der schon Catherines braune Locken durcheinander gebracht hatte. Monsieur Chesnay, selbst ein tapferer Soldat und auf dem Schlachtfeld gefallen, wäre in diesem Moment sicher stolz auf seine Frau gewesen, wenn er sie nur ein wenig mehr geliebt hätte. Aufrecht und selbstbewusst wie eine Adelige, aber wenig zurückhaltend wie eine Bürgerliche, fuhr sie den sichtlich verdutzten Leutnant nun an: „Ein Musketier ist wohl nicht genug, Euer Hauptmann schickt gleich noch seinen Leutnant! Nein, nein und nochmals nein! So etwas ist mir noch nicht untergekommen und ich habe schon viele Männer mit schlechten Manieren getroffen! Richtet das Tréville aus!“
Entgeistert riss sich d'Artagnan vom Anblick einer wirklich sehr wütenden Madame Chesnay, die nun mit wehendem Kleid ins Innere des Hauses und die Treppe hoch in ein Zimmer verschwand, los und sah hilfesuchend zu Athos. „Was, zum Teufel, war das?“ brachte der Leutnant schließlich hervor und bekam zur Antwort nur ein müdes Seufzen und ein Kopfschütteln. Mit einer einladenden Geste bat Athos den Freund herein und bedeutete, im Salon Platz zu nehmen, während er selbst kurz in die Küche ging, um dort Grimaud aufzutragen, eine Flasche Wein zu entkorken.
D'Artagnan unterdessen setzte sich, noch immer reichlich verwundert, auf die gepolsterte Bank hinter dem schweren Eichenholztisch, der in unmittelbarer Nähe des Kamins stand. Alles wirkte wie immer. Die untere Etage des Hauses, die Athos bewohnte, war zwar nur karg, aber gemütlich eingerichtet und zeugte von großem Geschmack. Es gab keinen überflüssigen Schmuck oder teure Möbel, keine Dinge, die herumstanden und verstaubten. Einige Pflanzen, die regelmäßig gegossen wurden und sehr gesund aussahen, standen auf der Fensterbank. Über dem Kamin hing der Degen mit dem Wappen der Grafen von la Fère, den Porthos gern bewundernd und anerkennend betrachtete. Alles war ordentlich, aber nicht penibel aufgeräumt. Es handelte sich unverkennbar um Athos' Wohnung, die sich, seit d'Artagnan den Musketier kannte, nicht verändert hatte.
Nur ein zerknülltes Taschentuch, das wie hingeworfen auf dem Tisch lag, war ein ungewohnter Anblick. D'Artagnan musterte es interessiert und entdeckte die gestickten Initialen 'C. C.', Catherine Chesnay. Dasselbe Tuch, das Athos am vergangenen Tag vorm Hôtel de Tréville in seiner Tasche hatte verschwinden lassen. Ob sich die Wirtin deshalb so aufgeregt hatte?
D'Artagnan schreckte aus diesem Gedanken hoch, als unvermittelt ein Stuhl bewegt wurde und Athos sich gegenüber an den Tisch setzte. Grimaud brachte den Wein und Becher und schenkte ein, dann verschwand er so schweigsam wie er seine Arbeit verrichtet hatte. Athos war der Blick des Freundes auf das Taschentuch nicht entgangen und erneut schüttelte er leicht den Kopf. „Sie hat es selbst dorthin geworfen.“ Mehr fügte er als Erklärung nicht hinzu, sodass d'Artagnan nun entweder weiter Rätsel raten konnte oder nachfragte. Das eigene Vorhaben war zunächst vergessen und bevor der Leutnant seine eigenen Schlüsse aus dem zog, was Madame Chesnay ihm eben an den Kopf geworfen hatte, war es doch besser, die ganze Geschichte der Reihe nach von Athos erzählt zu bekommen. Doch der kam jeder entsprechenden Frage zuvor. „Nun, was führt Euch her? Ich dachte, Ihr wärt um diese Zeit noch im Dienst. Euer Besuch überrascht mich.“
„Nicht minder überrascht als ich es selbst bin.“ antwortete d'Artagnan ausweichend und trank vom Wein. Athos runzelte die Stirn. „Überrascht darüber, schon jetzt nicht mehr im Dienst zu sein?“ D'Artagnan zog nur die Schultern hoch und mied Athos nachdenklichen Blick. Einsilbige Antworten schienen Athos jedoch Grund genug, die eigene Schweigsamkeit für den Moment abzulegen. „Ist etwas vorgefallen?“
„Wie kann etwas vorfallen?“ gab d'Artagnan sarkastisch zurück. „Habt Ihr in letzter Zeit etwa irgendwelche Vorfälle bemerkt? Ich nicht!“
Athos neigte zustimmend den Kopf. Es geschah verdächtig wenig dafür, dass nichts mehr so war wie zuvor. „Ja. Aber Ihr habt nicht wegen eines reinen Freundschaftsbesuch an meine Tür geklopft. Ihr wolltet etwas sagen, bevor Madame Chesnay Euch unterbrochen hat.“
„Jawohl, Madame Chesnay! Ich muss sagen, was ich da dem Hauptmann ausrichten soll, ist erstaunlich.“ überging d'Artagnan den ersten Teil und sah nun doch forschend zu Athos. Der ließ sich nicht beirren und meinte mit steinerner Miene: „Kümmert Euch nicht darum. Es handelt sich nur um eine Meinungsverschiedenheit und wie Frauen so sind: Mal die Liebenswürdigkeit in persona, dann wieder wahre Furien, aber immer tragen sie eine falsche Maske auf. Wer weiß schon, was in ihnen wirklich vorgeht. Sie sind nicht vertrauenswürdig.“
„Athos, vielleicht tut Ihr den Frauen doch zu sehr Unrecht.“ erwiderte d'Artagnan überzeugt. „Sie sind sicher nicht so bösartig wie Ihr glaubt, nicht hinterhältig und falsch, gefährlich, ständig intrigant und verlogen. Zumindest nicht mehr, als die Männer auch.“
„Hört, hört! Ein Plädoyer für die Unschuld des schönen Geschlechts ausgerechnet aus dem Mund eines jungen Mannes, den die Rachsucht einer Frau beinahe selbst das Leben gekostet hätte.“ Athos schenkte sich nach. „Mein Freund, Ihr überrascht mich ein weiteres Mal an diesem Abend. Habt Ihr denn nichts dazugelernt, seid Ihr denn noch immer so naiv?“
„Ja, das bin ich wohl. Diese Naivität werde ich niemals ablegen können. Ihr seid dagegen zu beneiden, dass Ihr von derart grotesken Vorstellungen, wie ich sie hege, kuriert seid.“
„Werdet Ihr etwa zornig? Lasst Euch beruhigen. Ich sage, jedem das Seine und ich für meinen Teil werde nicht zulassen, dass mich eine Frau erneut betrügt, mich ausnutzt oder hintergeht und sich für etwas ausgibt, was sie nicht ist. Nein, mein Vertrauen wird nicht mehr gebrochen.“ Wie zur Besiegelung eines Eides prostete Athos dem Freund zu und leerte dann seinen Becher in einem Zug.
'Wenn Ihr kein Vertrauen entgegenbringt, wie wollt Ihr dann welches erhalten?' Die Frage lag d'Artagnan auf der Zunge, aber sie blieb unausgesprochen. Doch eine andere ließ sich nicht zurückhalten. „Wenn es doch einmal geschehen sollte? Wenn eine Frau ihre Maske fallen lässt und Ihr dahinter einen anderen Menschen erkennen müsst. Was werdet Ihr dann tun?“ - 'Werdet Ihr sie an einem Baum aufknüpfen?' D'Artagnan schreckte im selben Augenblick vor diesem Gedanken zurück. Es war falsch alte Wunden aufzureißen, gleich wie verletzend Athos sich seinerseits äußerte. Dieses Gespräch begann eine reichlich unangenehme Wende zu nehmen und sehr zur Erleichterung des Leutnants, winkte Athos diese Fragen einfach beiseite. „Spekulationen, alles nur Nichtigkeiten.“ Nichtigkeiten. Sein Lieblingswort, das d'Artagnan am meisten verabscheute. Athos fuhr fort: „Denken wir lieber darüber nach, was wirklich ist und so wie ich das sehe, wolltet Ihr mit mir über etwas sprechen.“
„Ja, in der Tat.“ D'Artagnan spürte noch immer Ärger über die Verbohrtheit des Freundes in sich brodeln, aber dieses leidige Thema musste heute nicht noch einmal besprochen werden. „Ich wollte mit Euch über Euren kleinen Auftrag reden, der mir gestern Abend von Aramis überbracht worden ist.“
„Ein Auftrag? Das klingt unangemessen, es war lediglich eine Bitte.“
„Nun denn, ich bin Eurer Bitte, mit Monsieur de Tréville zu reden, auch nachgekommen. Trotz meiner Zweifel, die sich letztlich als berechtigt herausgestellt haben.“
„Ihr habt nichts erreicht?“ fragte Athos verwundert nach. Ihm war der Hauptmann heute sehr viel gesprächiger vorgekommen, auch wenn er mehr Fragen aufgeworfen als beantwortet hatte. Athos hatte bis eben noch geglaubt, das wäre ihrem Leutnant zu verdanken gewesen, auch wenn Aramis' Bericht bei der Wachablösung zunächst ernüchternd geklungen hatte.
„Aber doch, etwas habe ich schon erreicht!“ D'Artagnan lächelte bitter. „Monsieur de Tréville ist wahrscheinlich noch immer aufgebracht darüber, dass ich an Gaston vorbei einfach in sein Arbeitszimmer marschiert bin, dort die Wachliste auf den Tisch geworfen und dabei ohne jedes Taktgefühl sein Gespräch mit Monsieur des Essarts unterbrochen habe. Ihr dürft mich beglückwünschen, denn immerhin hat mich der Hauptmann der Gardisten davor bewahrt, endgültig degradiert zu werden und jetzt schulde ich bloß Moissac einen Gefallen und darf mich wieder einmal mit Rochefort herumschlagen, dem es diebische Freude bereitet haben dürfte, mir seinen Lieblingsmetzger zu zeigen.“
Wieder blieb Athos' Miene völlig unbewegt, doch in seine Augen glänzte es amüsiert. „Ich bin nicht sicher, ob ich alles verstanden habe. Was war mit dem Metzger?“
„Athos! Ihr macht Euch über mich lustig!“
„Mitnichten, mein Freund. Aber es wäre hilfreich, wenn Ihr alles der Reihe nach erzählen würdet.“
„Ja, natürlich.“ D'Artagnan atmete tief durch und berichtete möglichst nüchtern vom Besuch im Hauptquartier, von der Nachricht, die im Auftrag des Essarts an Moissac überbracht werden sollte und von Rochefort, dem d'Artagnan unverhofft über den Weg gelaufen war. „Er meinte zuletzt, er würde mich im Auge behalten. Man sollte doch meinen, Rochefort hätte Wichtigeres zu tun als mir nachzuspionieren.“
„Wahrscheinlich nicht.“ schüttelte Athos den Kopf. „Der Kardinal dürfte auf seinen Bericht gespannt sein. Vielleicht erhofft Rochefort sich dank Euch mehr über die Musketiere erfahren zu können.“
„Dann muss ich ihn bedauern, er hat sich genau den Falschen ausgesucht, wenn er etwas über die Begebenheiten im Hôtel de Tréville herausfinden will. Weiß ich denn, was im Augenblick geschieht? Oder sollte ich uns besser dazu gratulieren, dass der Stallmeister der falschen Fährte folgt? Trotzdem wäre es mir weitaus lieber, nicht im Mittelpunkt seiner geschätzten Aufmerksamkeit zu stehen.“
„Verständlich. Aber was gibt es zu befürchten? Irgendwann wird Rochefort erkennen, dass er sich geirrt hat.“
„Ich hoffe, diese Erkenntnis wird ihn rasch ereilen und nicht erst irgendwann.“ murmelte d'Artagnan und streckte dabei gedankenverloren die Hand nach dem Taschentuch aus, das noch immer auf dem Tisch lag. In den letzten Minuten war es fast in Vergessenheit geraten, dabei hatte das Taschentuch einer Dame nun wahrlich nichts in Athos' Wohnung verloren. „Was genau meinte Madame Chesnay, als sie mich nicht so freundlich wie sonst begrüßte?“
„Ich sagte doch, Ihr müsst Euch nicht darum kümmern. Es ist nichts.“ wehrte Athos mit einer Handbewegung die Frage ab. D'Artagnan gab sich damit allerdings nicht zufrieden. „Für ein bloßes 'Nichts' hat sich Eure Wirtin aber sehr aufgeregt. Ich überlege, ob ich ihr nicht den Gefallen erweise und tatsächlich ihre Worte genau so, wie sie ausgesprochen wurden, Tréville ausrichten sollte.“
„Ihr wollt den Hauptmann wirklich damit belästigen, obwohl Ihr dann damit rechnen müsstet, erneut zurechtgewiesen zu werden?“ erwiderte Athos und es war gänzlich unmöglich zu erkennen, ob er nur im Scherz gesprochen hatte oder seine Worte ernst meinte. D'Artagnan jedenfalls reizten sie zu einer hitzigen Antwort. „Anscheinend wäre Rochefort besser beraten, wenn er Euch ausspionieren würde. Ihr wisst sehr viel mehr als Eurer Leutnant darüber, was Tréville tun und lassen würde!“
„Ihr werdet erneut zornig.“ stellte Athos, diesmal mit einer merklichen Kühle in seiner Stimme fest. Das Temperament des Freundes beruhigte er so ganz sicher nicht. „Ja, ich werde zornig! Ich soll meine Pflicht erfüllen, aber kann es nicht wegen Eurer Geheimniskrämerei! Darüber sollte ich mich nicht aufregen?“
„Ihr übertreibt. Es besteht nicht der geringste Anlass, sich dermaßen zu ereifern.“
„Für mich besteht Anlass!“ rief d'Artagnan nun wirklich erbost. „Ich bin weder blind noch dermaßen dumm, dass ich nicht merken würde, dass etwas vor sich geht, was mit Euch, mit Madame Chesnay und dem Hauptmann zu tun hat! Wollt Ihr, dass ich mit Vermutungen von hier fortgehe und Rochefort genug Grund bekommt, um noch ein wenig neugieriger zu sein?“
Der unverhohlene Wutanfall seines Freundes schien Athos nicht im Mindesten zu beeindrucken. Er lehnte gelassen im Stuhl, nichts konnte den Grafen wohl sonderlich erschüttern. „Jetzt geht Ihr zu weit. Wenn ich Euch sage, es muss Euch nicht kümmern, dann muss es Euch nicht kümmern. Es handelt sich um nichts von Belang.“
D'Artagnan starrte den Freund fassungslos an. „Um nichts von Belang. So weit geht Ihr also damit, mich auszuschließen.“ Der Leutnant lächelte, müde des sinnlosen Streits. „Wisst Ihr, was ich nicht verstehe? Warum Ihr nie wütend werdet und immer so verflucht besonnen bleibt. Auch jetzt.“
Athos hob verwundert eine Augenbraue. „Sollte ich wütend werden und Euch anschreien? Wollt Ihr Euch auf diese Weise mit mir streiten?“
„Nein.“ D'Artagnan gab widerwillig nach. Es war verdammt schwer, auf ein reinigendes Gewitter verzichten zu müssen. Aber gegen dieses Bollwerk war kein Ankommen. Insgeheim war d'Artagnan dafür dankbar, dass Athos sich nicht in den Sturm hineinziehen ließ und vernünftig blieb. „Nein, ich will nicht mit Euch streiten. Verzeiht, dass ich mich für einen Moment vergessen habe.“
„Ihr macht Euch Sorgen.“ stellte Athos nach einem kurzen Moment des Schweigens fest. „Sorgen darum, was geschehen wird und ob Ihr denn überhaupt nichts unternehmen könnt.“
„Woher wisst Ihr-“
„Ich kenne Euch gut, sehr gut sogar.“ Der Graf seufzte und zeigte damit, dass auch er selbst diese Auseinandersetzung mit angespannten Nerven hinter sich gebracht haben musste. „Ich weiß, dass Ihr in der Lage seid, eins und eins zusammenzuzählen. Aber mit dem, was Ihr heute gehört habt, würdet Ihr die falschen Schlüsse ziehen. Vielleicht ist es nötig, dass Ihr versteht, warum Madame Chesnay ihre Zimmertür so fest hinter sich zugeworfen hat, dass das Haus beinahe bis in seine Grundmauern erschüttert wurde.“ Athos drehte seinen Becher in den Händen, um Zeit zu gewinnen. Gerade als d'Artagnan nachfragen wollte, erzählte der Graf endlich von seiner eigenen Unterredung mit Tréville und dem sonderbaren Auftrag, den er erhalten hatte. „Ich sollte also nur meine Wirtin bitten, mir einen Gefallen zu tun.“ schloss Athos und d'Artagnan sah ihn ungläubig an. „Nur einen 'Gefallen'? Madame Chesnay hat ganz recht wütend zu werden, wenn Ihr der armen Frau so ins Gesicht gesagt habt, was sie für Euch tun soll.“
„Wie hätte ich es denn sonst sagen sollen? Zwar will ich niemals mehr von einer Frau hintergangen werden, aber genauso wenig würde ich eine Frau anlügen, um meinen Willen zu bekommen.“
„Eure Aufrichtigkeit in Ehren, aber hier hättet Ihr doch etwas taktvoller vorgehen können.“ D'Artagnan grinste breit, was Athos zum Anlass nahm, erneut die Stirn zu runzeln. „So? Was hättet Ihr denn getan?“
Der Leutnant griff nun doch nach dem Taschentuch und meinte nachdenklich: „Monsieur de Tréville hat also einen Auftrag zu vergeben, der nur von einer Frau ausgeführt werden kann. Es handelt sich dabei nur um das Talent, schön plaudern zu können, mit anderen Worten, einen Mann abzulenken - und Ihr meint, das wäre der richtige Weg, um diese Krise zu überwinden?“
„Wenn Ihr es so ausdrücken wollt. Der Hauptmann sagte selbst, dass er nicht länger abwarten und die Dinge nur geschehen lassen will.“
D'Artagnan nickte, schüttelte das zerknüllte Taschentuch kurz aus und faltete es dann wieder ordentlich zusammen. „Dann lasst mich einmal einen Versuch wagen. Vielleicht gelingt es mir Madame Chesnay zu beruhigen und für unsere Sache zu gewinnen.“
Erneut zuckte Athos' Augenbraue verdächtig, aber er widersprach nicht. Wenn d'Artagnan meinte, besser mit Frauen reden zu können, dann sollte er es tun. Mehr als scheitern und sich eine Ohrfeige von Catherine einhandeln, konnte er nicht. D'Artagnan ahnte, was der Freund nun denken musste und feixte: „Keine Sorge, es wird nicht lange dauern, wartet einfach hier.“
D'Artagnan nahm noch einen kräftigen Schluck vom Wein, stand auf und ging die Treppe hoch, um an die Tür von Madame Chesnay zu klopfen. Es handelte sich dabei um eine Durchgangstür in den zweiten Teil des Hauses, den Athos' Wirtin bewohnte. Mieter und Wirtin begegneten sich eher selten, nur ab und zu beim Kommen und Gehen an der Hauseingangstür.
Athos blieb skeptisch zurück und nutze die Wartezeit, um die nun leere Weinflasche in die Küche zu bringen. Es war nicht nötig, nur wegen einiger Schritte Grimaud zu rufen, der sicher schon tief und fest schlief. Es war zwar noch nicht spät am Abend, aber etwas anderes blieb dem Diener im Augenblick nicht zu tun, also langweilte er sich lieber mit Träumen, als mit Wachen.
Athos kehrte aus der Küche zurück und war sehr überrascht, d'Artagnan vor sich stehen zu sehen mit einem unschuldigen Ausdruck im Gesicht, als könne der Leutnant kein Wässerchen trüben. Das Taschentuch hielt d'Artagnan nicht mehr in der Hand, grinste dafür aber und sprach ganz harmlos: „Ich sagte, es würde nicht lange dauern. Sie meinte, sie würde es sich überlegen. Aber an Eurer Stelle würde ich mich für die nächsten Tage nicht bei Madame Chesnay blicken lassen, denn sie ist wirklich sehr wütend auf Euch.“
„Ich werde versuchen, jede Begegnung zu vermeiden. Doch ich würde zu gerne wissen, wie Ihr es geschafft habt-“
„Mit Taktgefühl, Athos.“ unterbrach d'Artagnan ihn. „Nur mit Taktgefühl, ein paar beruhigenden Worten und...“
„Und?“
„Nein.“ D'Artagnan winkte ab, sichtlich amüsiert. „Nein, das bleibt ein Geheimnis. Ich muss jetzt gehen, morgen beginnt der Dienst wieder früh. Ihr seid übrigens für die zweite Wache eingeteilt. Vielleicht seht Ihr aber besser noch einmal nach, ich weiß nicht, ob der Hauptmann die Liste in der Zwischenzeit wieder geändert hat. Immerhin liegt sie seit heute Mittag auf seinem Schreibtisch.“
Athos schien nicht zum Scherzen zumute zu sein, also legte d'Artagnan ihm beruhigend eine Hand auf den Arm. „Macht Euch keine Gedanken, diese Krise ist bald überstanden. Madame Chesnay wird uns schon helfen.“
Athos lächelte über diese übermütige Zuversicht und verabschiedete den Freund an der Tür. Er ertappte sich dabei, einen Blick die Treppe hinaufzuwerfen und selbst hoffnungsvoll dem Ende dieser Krise entgegenzusehen.